Poseidon macht seine Sache gut. Der schwarze Riesenschnauzer lässt sich weder vom Lärm der Kinder irritieren, noch stört es ihn, dass alle ihn streicheln wollen. Poseidon ist der Blindenführhund von Kathrin Backhaus. Die beiden besuchen an diesem Vormittag die Herman-Nohl-Grundschule in Neukölln. Kathrin Backhaus will den Kindern zeigen, wie ihr Hund sie führt und worauf sie achten muss, wenn sie unterwegs sind.
In kleinen Gruppen gehen die Kinder mit Kathrin und Poseidon in der Umgebung ihrer Schule spazieren. Der Hund bleibt an jeder Bordsteinkante stehen, erst wenn er von Kathrin ein Kommando erhält, führt er sie über die Straße. Er kann sogar abschätzen, ob die Lücke zwischen parkenden Autos groß genug ist für sie beide oder ob sie lieber einen Umweg nehmen sollten. Die Kinder sind beeindruckt.
Förderstunden fehlen
„Anderssein“ war das Motto des Projektes, das vor einigen Wochen an der Herman-Nohl-Schule stattfand. Schulleiterin Ilona Bernsdorf soll ein Inklusionskonzept für ihre Schule entwickeln. „Das geht nur, wenn wir uns alle vorbereiten, Schüler wie Lehrer“, sagt sie. Begegnungen wie die mit Kathrin Backhaus würden den Schülern helfen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und Verständnis für deren Lage zu entwickeln. „Das ist die Voraussetzung für das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern“, sagt Bernsdorf.
Fachleute sprechen von Inklusion, wenn sie das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf meinen. Ein sperriges Wort, ein Wort, das zum Reizwort geworden ist – für Eltern wie Lehrer. Das Problem: Berlin hat noch immer kein Konzept für die Umsetzung der Inklusion und, was noch viel schlimmer ist, auch kein Geld dafür. Dabei lernen in der Hauptstadt inzwischen fast 60 Prozent der förderbedürftigen Kinder an Regelschulen. Und es werden immer mehr. Die zur Verfügung stehenden Förderstunden aber sind gleich geblieben.
Im vergangenen Jahr hat das dazu geführt, dass etwa 5000 Schüler auf zusätzliche Förderung verzichten mussten, obwohl sie einen Anspruch darauf hatten. Experten befürchten, dass in diesem Schuljahr noch mehr Kinder betroffen sein werden. Viele Berliner Schulleiter sind deshalb in heller Aufregung. Während einer Diskussionsrunde zum Thema kritisierten sie, dass die zur Verfügung stehenden Mittel seit zehn Jahren nicht erhöht worden sind.
Am Beispiel der Fritz-Karsen-Sekundarschule in Neukölln wird deutlich, was es bedeutet, wenn Mittel fehlen. Die Einrichtung gehört zu den Vorreitern in Sachen Inklusion. Derzeit haben 100 der insgesamt 1000 Schüler dieser Einrichtung einen Förderbedarf. Das sind mehr als in den vergangenen Jahren, doch die Anzahl der Förderstunden und die Zahl zusätzlicher Lehrkräfte haben sich nicht erhöht. Schulleiter Robert Giese spricht von einer kritischen Situation. Die aktuell größte bildungspolitische Reform sei in Gefahr. „Die Politik hat Inklusion ausgerufen, aber es fehlt das langfristige Konzept mit ausreichender Finanzierung für die Umsetzung“, sagt er.
Ganz still sitzt Moritz in seinem Rollstuhl, die Arme hängen herunter. Er wirkt unbeteiligt. „Entspannt“, sagt dagegen Marta Diez Amate. „Ihm geht es gerade sehr gut. Wenn er gestresst ist, sind seine Hände verkrampft.“ Diez Amate ist Schulhelferin und steht dem Zehnjährigen 30 Stunden pro Woche zur Seite. Moritz ist mehrfach behindert, trotzdem besucht er die Fritz-Karsen-Schule in Britz, eine Regelschule.
Von den förderbedürftigen Kindern, die derzeit an der Karsen-Schule lernen, leiden drei an Autismus, 14 wurde eine geistige oder körperlich-motorische Behinderung bescheinigt. 33 haben Probleme mit der Sprache oder dem Lernen. Noch nicht berücksichtigt sind in den Zahlen Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität (ADS, ADHS). Weitere 44 Kinder weisen emotional-soziale Defizite auf.
„Das ist die größte Herausforderung, deren Bewältigung entscheidend sein wird für den Erfolg der Inklusion“, sagt Giese. Moritz mit seiner geistig-körperlichen Behinderung wurde die umfassendste Förderung von allen bewilligt. Er kann nicht laufen, beim Schreiben muss dem Viertklässler die Hand geführt werden. Marta Diez Amate füttert und windelt ihn. Moritz’ Stiefvater Ingo Wiederoder hat die Entscheidung für die Schule nie bereut: „Er hat sich seit Schulbeginn so entwickelt, er ist ein richtig großer Junge geworden.“
Wenn es keinen Fahrstuhl gibt
Allerdings: Mit dem Wechsel in die vierte Jahrgangsstufe zog die Klasse in ein anderes Gebäude. Dort gibt es keinen Fahrstuhl. Immerhin wurde ein Unterrichtsraum zur Behindertentoilette umgebaut. „Der Raum fehlt jetzt natürlich für Unterrichtszwecke“, sagt der Schulleiter. Im ehemaligen Lernmittelraum ruht sich Moritz mittags aus. Weil er nicht in den ersten Stock kommt, musste er die Klasse wechseln. In der Verwaltung müsse er die Bedürfnisse behinderter Schüler stets extra betonen, sagt Robert Giese. Oft genug scheitere er am Finanzspielraum, aber auch daran, dass Inklusion in den Köpfen noch nicht verankert sei. „Demnächst“, sagt er, „muss hier saniert werden, wegen des Brandschutzes. Ein Fahrstuhl allein kostet 100.000Euro, den wird es deshalb nicht geben.“
Noch mehr Organisationstalent erfordert die Personalsituation. Dabei ist die Fritz-Karsen-Schule noch gut ausgestattet. Zwölf Lehrer mit sonderpädagogischer Zusatzausbildung gibt es. Allerdings fungieren diese auch als Klassenlehrer und müssen kranke Kollegen vertreten. Gibt es bis zur dritten Klasse einen Erzieher je Klasse, sind es in den Jahrgangsstufen vier bis sechs eineinhalb für drei Klassen.
„Ich versuche, so oft es geht in den Klassen zu sein“, sagt Erzieherin Beate Trautvetter. „Aber ich werde der Situation nicht immer so gerecht, wie ich möchte.“ Braucht Moritz Betreuung in Randzeiten oder den Ferien, „stellt uns das vor besondere Herausforderungen“, sagt Giese. Nicht jede Erzieherin könne und wolle diese Aufgabe inklusive des Windelns übernehmen.
Kein ausgebildetes Personal
Viele Schulen haben ähnliche Probleme. Es fehlt an ausgebildetem Personal, an Schulhelfern und Erziehern. An der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg etwa fehlen Integrationsfacherzieher für die Nachmittagsbetreuung der Schüler. Die Picasso-Grundschule in Pankow ist so knapp mit Lehrkräften ausgestattet, dass es eng wird, wenn Kollegen krank werden. Er müsse ständig Löcher stopfen, sagt der Schulleiter. Er wisse nicht, wann er seine Lehrer auch noch zur Fortbildung schicken soll.
„Wir sind zeitlich-organisatorisch dazu einfach nicht mehr in der Lage.“ Paul Schuknecht, Schulleiter der Friedensburg-Sekundarschule in Charlottenburg, spricht von einem „Eiertanz“. Die Schulen müssten endlich wissen, woran sie sind, fordert er. Als besonders große Herausforderung bezeichnet Schuknecht den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern. Speziell ausgebildete Fachkräfte seien nötig.
Mario Dobe, ehemaliger Grundschulleiter und jetzt in der Verwaltung von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) für Inklusion zuständig, geht davon aus, dass die Inklusion von vielen Eltern befürwortet wird. Anders sei nicht zu erklären, dass die Zahl der Schüler, die Anspruch auf einen Schulhelfer haben, vom Schuljahr 2013/14 zum Schuljahr 2014/15 um 19 Prozent gestiegen ist. „Auf dieser Zustimmung müssen wir aufbauen“, sagt er.
Doch auch Dobe räumt ein, dass es Schwierigkeiten bei der Umsetzung des gemeinsamen Lernens gibt. So habe man bisher versäumt, genügend Fachkräfte auszubilden. Das ändere sich nun mit dem neuen Lehrerbildungsgesetz. Alle Lehramtsstudenten bekommen jetzt eine sonderpädagogische Ausbildung.
Auch die Einrichtung der Beratungs- und Unterstützungszentren (BUZ), die Senatorin Scheeres in jedem Bezirk geplant hat, sei schwierig. Bisher sind lediglich vier dieser Zentren in Betrieb. Dort sollen Lehrer, Schüler und Eltern Unterstützung erhalten, wenn es darum geht, förderbedürftige Kinder an Regelschulen zu unterrichten. Dobe sagt, dass in etlichen Bezirken Räumlichkeiten fehlen, auch genügend Personal für diese Zentren gebe es bisher nicht.
Ein Kollegium bereitet sich vor
An der Herman-Nohl-Schule bereiten sich alle intensiv auf die Inklusion vor. Im Rahmen der Themenwoche „Anderssein“ laufen insgesamt 19 Projekte an der Schule. Die Kinder erfahren, wie es sich anfühlt, mit einer Behinderung zu leben. Sie probieren aus, was es heißt, mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein, sie lernen, ihren Namen in Gebärdensprache auszudrücken oder Rollstuhltennis zu spielen. Und sie entwickeln ein Leitsystem für Menschen mit Behinderung, das sie an ihrer Schule installieren wollen.
Das Kollegium ist längst auf dem Weg zur inklusiven Schule. „Wir wollen das unbedingt, deshalb bereiten wir uns gründlich darauf vor“, sagt Schulleiterin Bernsdorf. In diese Planungen will sie nicht nur alle Kollegen, sondern auch die Schüler und Eltern einbeziehen. Gemeinsam wollen sie ein Konzept erarbeiten. „Damit das dann funktioniert, brauchen aber auch wir genügend Personal und eine geeignete bauliche Ausstattung“, sagt sie.