Der erste Eindruck ist wenig einladend. Die nördliche Seite der Lohmühleninsel sieht heruntergekommen aus. Das denkmalgeschützte alte Zollhaus an der Ecke Vor dem Schlesischen Tor und Schleusenufer wirkt am Tage unbehaust, die roten Ziegel sind besprüht, schäbig der hohe Bretterzaun um den Hof. Und wer nicht darauf achtet, läuft Gefahr, ein weiteres Baudenkmal – die älteste erhaltene Berliner Tankstelle mit Raststätte – ein paar Meter weiter ebenfalls links liegen zu lassen. Der sanft geschwungene, weiße Bau von 1928 verschwindet fast hinter dem hellen Plastikblau einer Aral-Tankstelle. Auch den Weg zum Restaurant „Freischwimmer“ mit angeschlossenem Club und Bootsverleih schlägt nur ein, wer weiß, wohin er will. Erst von der Freiarchenbrücke, die die Kreuzberger Insel mit Alt-Treptow verbindet, ändert sich die Perspektive. Dann fällt der Blick auf verträumte Club-Lokale am grünen Ufer des Flutgrabens, auf Holzterrassen und Hütten direkt über dem Wasser, wo man auch am Nachmittag chillen kann und deren bunte Lichter sich am Abend im Wasserlauf spiegeln. Erst dann erwacht die Insel so richtig zum Leben und entfaltet einen Charme, der besonders Club- und Partygänger zwischen 20 und 30 Jahren magisch anzieht.
Ihnen gefällt das Rohe, Unfertige hier und dass man unter freiem Himmel bis in den Morgen feiern kann. „Die Gegend hat sich zu einem Hotspot entwickelt, der sehr oft empfohlen wird, Berlinern und jungen Touristen“, sagt der 20-jährige Jamal, der am Wochenende nachts mit Freunden unterwegs ist. „Das liegt auch daran, dass es hier so eine große Auswahl an Locations gibt, alle spielen eine ähnliche Musik – Elektro, House, Low Minimal, Techno – aber jeder Club hat eine ganz eigene Atmosphäre.“ Außerdem ist es nicht teuer, hier auszugehen. Fünf Euro zahlen die Partygänger meist Eintritt, je nach DJ auch mal etwas mehr. Und weil in der Nachbarschaft sonst nur Gewerbebetriebe liegen, ist Lärm auch kein Problem. Der nur etwa 100 Meter breite und knapp 300 Meter lange Abschnitt der Lohmühleninsel zwischen Oberschleuse, Spree und Flutgraben verbindet mit gleich vier angesagten Adressen das hier weitgehend ungezähmte Kreuzberg mit der Treptower Kunst-, Kultur- und Club-Zone um die Arena, mit Badeschiff und Strandbar, dem „White Trash Fast Food“ und dem „Club der Visionäre“.
Eins Grenzanlage heute Bootsverleih
Davon, dass der mächtige Ziegelbau, auf den man von den lauschigen Terrassen des Restaurants „Freischwimmer“ schaut, einmal Bestandteil der streng bewachten Grenzanlage war, die Ost- und West-Berlin trennte, dass auf dem Dach Soldaten patrouillierten und die Arbeiter des darin befindlichen Omnibus-Reparaturwerks im Osten streng kontrolliert und zur Westseite praktisch eingemauert waren, ist am Flutgraben nichts mehr zu spüren. Der Referenzpunkt liegt weiter zurück, von 1930 bis etwa 1960 war hier ein Bootsverleih. Die verwitterten Bootshäuser und Stege am Ufer waren noch da, als der Kulturimpresario Falk Walter 1994 das stillgelegte Busdepot entdeckte und mit Freunden das Arenagelände zum Leben erweckte. Er erkannte auch das Potenzial der Bootsstege, verbreiterte und erschloss die Terrassen zu Clubs. Einen Bootsverleih legte er an die Spitze der Insel.
Zur Spree hin hat nun der 33-jährige Oliver den Arbeitsplatz mit der wohl schönsten Aussicht – auf das Badeschiff und das Friedrichshainer Spreeufer. anfangs als Verein nur für Mitglieder zugänglich, öffnete sich der „Freischwimmer“ erst 2001 für das breite Publikum. Es ist ein entspannter, irgendwie zusammengezimmert wirkender Ort, mit viel rohem Holz, der stetig weiterentwickelt einen Stil des shabby-cool pflegt, mit offenen Terrassenplätzen, groben Dächern und Baldachinen aus glitzernden Häkelnetzen, Wintergarten und einem Kaminzimmer. Es gibt eine überschaubare, solide Speisekarte, Kerzen auf den Tischen und bunte Lämpchen an der Brüstung. Musik muss der Freischwimmer an diesem Abend kaum bieten, vom gegenüberliegenden „Club der Visionäre“ weht Elektrosound herüber und in der „Ipse“, dem Freiluft-Club im alten Inselgarten gleich nebenan, wird auch schon aufgelegt.
Irgendwo zwischen Karibik, Western und Onkel Tom
Die „Ipse“ ist ebenfalls ein Projekt der Freischwimmer GmbH, die den ganzen rechten Uferstreifen von der Freiarchenbrücke bis zur Spree auf 25 Jahre vom Wasser- und Schifffahrtsamt gepachtet hat. In der Nacht beleuchtet eine Reihe roter Ampeln den frisch angelegten Weg zu dem hohen Eingangstor des Clubs, hinaus leuchten sie grün. Das nimmt die ironische Brechung der Stile vorweg, die diese Partyinsel prägen. Irgendwo zwischen Karibik, Western und Onkel Tom, gemischt mit witzigen bürgerlichen Zitaten. Das wirkt cool und gleichzeitig verspielt und auch zutiefst romantisch – offen für ständigen Wandel oder „work in progress“, wie es die Betreiber nennen. Selber hämmern und sägen ist in. Holzterrassen und Podeste machen die abschüssige Uferböschung clubtauglich. In den Wipfeln funkelt der eine oder andere Kronleuchter. Hier kann man im seligen Halbdunkel einfach abhängen oder durchtanzen.
Wie mit einem Zauberstab berührt erwacht das alte Zollhaus erst in der Nacht zum Leben. In dem Gemäuer von 1859 ist seit zwei Jahren das „Chalet“ zu Hause. Nach Mitternacht bilden sich erste Schlangen vor dem Club. Ein Türsteher wacht am Eingang, der in eine Art verzauberten Garten führt. Unter einem knorrigen Obstbaum voller orangener Lichter steht eine alte Kutsche, dahinter wärmen sich erste Gäste auf Holzbänken an einer Feuerstelle, über einem kleinen Teich leuchten Discokugeln in dichten Baumwipfeln, eine Lichtinstallation zaubert weiße Schleier in den auf zwei Ebenen angelegten Hof. In der überdachten Bar läuft entspannte Musik. Von diesem verwunschenen Garten aus betritt man mit dem alten Gemäuer wieder eine andere Welt, fast wie die dunklere Seite des Märchens, gedämpftes Licht in hohen, karg möblierten Räumen, DJ-Pulte, eine Bar und mehrere Dancefloors für späte Nächte.
Diverse Pläne haben sich wieder erledigt
Einen Wandel gibt es im „Anhalt“, der Café-Bar in der alten Tankstelle. Im Dezember hat der Club der Visionäre das Haus mit der Dachterrasse als Dependance übernommen und feilt an einem neuen Konzept. Details werden vor der Neueröffnung nicht verraten.
Das alles könnte noch eine Weile so bleiben. Während der südliche Teil der insgesamt 600 Meter langen und 100 Meter breiten Insel hinter der Flatow-Sporthalle und dem Sportplatz, mit einem „Band des Sports“ und einem schönen, großen Spielplatz als Sport-, Freizeit und Erholungsfläche zwischen Kreuzberg und dem Schlesischen Busch fertiggestellt ist, haben sich diverse Entwicklungspläne für eine Neuerschließung des nördlichen Teils vorerst wieder erledigt. „Vor Jahren hatten das Betonwerk und der Tischlereigroßbetrieb signalisiert, ihre Gelände eventuell abzugeben. Aber nun haben wir seit etwa zwei Jahren nichts gehört. Es wird ja wieder viel gebaut“, sagt der Leiter des Stadtplanungsamts, Matthias Peckskamp. Deshalb wurden auch behutsame Bauprojekte wie die der Initiative „Autofrei wohnen auf der Lohmühleninsel“ und andere Ideen nie weiterverfolgt. Auch der Bezirk wollte das Gelände gestalten, mit viel Grün, einem durchgängigen Uferweg und unter Einbeziehung des „Freischwimmers“. Aber jedes Projekt dort sei sensibel, wenn man das „lebendige städtische Umfeld“ erhalten möchte, sagt der Stadtplaner. Die Lohmühleninsel bleibt vorerst eine Insel der Wünsche und Ideen.