Das Allende-Viertel in Köpenick wurde einst „Insel der Glückseligen“ genannt – ein Besuch in der Plattenbausiedlung. Die große Insel-Serie, Teil 5.

Jeden Morgen geht Eberhard Aurich seine Runde. Wenn viele in seinem Kiez noch schlafen oder sich auf den Weg zur Arbeit machen. Dann spaziert der 67-Jährige über die Wiesen, Spielplätze und Grünstreifen und sammelt den Müll ein, der liegen geblieben ist. „Ich nenne mich selbst immer ehrenamtlicher Parkranger“, sagt Aurich und lacht. Auch an diesem Tag geht er durch seinen Kiez, grüßt viele der vorbeigehenden Anwohner, wird zurückgegrüßt. Eberhard Aurich wohnt nicht in einem beschaulichen Vorort von Berlin, wie man angesichts der Kleinstadtidylle vermuten könnte. Eberhard Aurich wohnt im Allende-Viertel, der Plattenbausiedlung in Köpenick mit den zehngeschossigen Hochhäusern, am Rande der Stadt. In den weißen Betonburgen, die man schon von Weitem hinter der Altstadt aufragen sieht.

Es ist leicht, Vorurteile gegen solche Viertel zu haben. Nach nur kurzer Zeit steht fest: Noch viel leichter ist es, diese Vorurteile zu verwerfen. Eberhard Aurich lebt seit 1981 im Allende-Viertel, das 1971 anstelle einer Kleingartensiedlung auf dem ehemaligen Amtsfeld errichtet wurde. Damals war es ein Vorzeigeprojekt des DDR-Wohnungsbauprogramms. Zum Wohngebiet gehörten: drei Oberschulen, drei Kitas, eine Schwimmhalle, ein Einkaufszentrum mit Gaststätte, ein Jugendklub, die Post und zwei Altersheime. 1981 und 1982 wurde der Kiez um das Wohngebiet Allende II erweitert, das auf der anderen Seite des Krankenhauskomplexes liegt. In beiden Teilen des Wohngebietes vermieten die städtische Wohnungsbaugesellschaft Degewo Berlin und die Wohngenossenschaft Amtsfeld etwa 6800 Ein- bis Fünfzimmerwohnungen mit 29 bis 156 Quadratmetern.

Mit dem Fahrstuhl geht es in den zehnten Stock, von dort oben könne man sich am besten einen Eindruck über das Gelände verschaffen, meint Aurich. Er war Sekretär des Zentralrates der FDJ und arbeitete seit 1990 als Redakteur einer Medien- und Verlagsgesellschaft. Über das Allende-Viertel hat er zahlreiche Artikel und Dokumentationen geschrieben. Seit 2012 ist er Rentner und freier Autor. „Sein Wohngebiet“ liegt ihm am Herzen. So steht er dort oben und zeigt auf die Schulen, die alle renoviert wurden, spricht von den Kitas, der Schwimmhalle, dem Einkaufszentrum, der Bank, der Post, dem Wald, dem zwei Kilometer entfernten Müggelsee und der Kultur in der wunderschönen Köpenicker Altstadt. Kurzum: „Alles, was wir für den Alltag brauchen, haben wir in direkter Nähe“, sagt Eberhard Aurich. Das spricht sich herum: Im Viertel gibt es kaum Leerstand, die Nachfrage nach Wohnungen ist groß.

Frische Blumen für Allende

Vom Fenster aus sieht man beim Blick nach links den Fernsehturm – so weit entfernt ist die Mitte Berlins auch gar nicht. Im Zehn-Minuten-Takt fahren Straßenbahn und Bus ins Zentrum. Beim Blick nach unten schaut man auf einen kleinen Platz. Eine Büste steht dort, frische Blumen stehen daneben, in einer kleinen Glasvase. Es ist die Büste von Salvador Allende, dem Namensgeber dieses Viertels. Mit dem Fahrstuhl geht es wieder hinunter, Eberhard Aurich kann natürlich auch zu diesem bronzenen Kopf direkt vor seiner Haustür so einiges erzählen. Schließlich hat eine Bürgerinitiative erst im vergangenen Frühjahr erreicht, dass die Büste dem Gelände erhalten bleibt und einen neuen Standort bekommt. Auch Eberhard Aurich ist in der Bürgerinitiative.

Seit 1983 stand die Büste auf dem Gelände der Salvador-Allende-Oberschule, dem heutigen Emmy-Noether-Gymnasium. Irgendwann gab es Überlegungen, wo die Büste stehen solle. Aber Allende gehört in den Kiez, befanden die Anwohner. „Seit 1973 wird dieses Wohngebiet Allende-Viertel genannt, dabei gibt es keinen staatlichen Beschluss“, sagt Eberhard Aurich. Aber so seien die Berliner eben: Sie denken sich Namen aus für ihre Wahrzeichen und Kieze, und dann bleiben sie einfach dabei. Begonnen hatte alles im Jahr 1973: Wenige Wochen nach dem Putsch in Chile gegen die gewählte Regierung und dem Tod Salvador Allendes erhielt eine Straße im Viertel den Namen des ersten sozialistischen Präsidenten Chiles. Eine weitere Straße wurde nach Pablo Neruda benannt, dem chilenischen Nationaldichter und Literaturnobelpreisträger. Das Allende-Viertel war geboren.

Unweit der Allende-Büste wohnen auch Rosi und Dieter Koplin. Die beiden sind „Erstbezieher“, wohnen seit 1972 im Allende-Viertel. Dieter Koplin, 70, hat beim Kabelwerk Oberspree gearbeitet. „Ich komme aus Grünau, ich war damals froh, hier eine Wohnung für uns zu finden“, sagt der Rentner, der gerade das Beet vor seinem Balkon bepflanzt. Ehrenamtlich macht er das. Schon wieder dieses Wort, das im Allende-Viertel weitverbreitet zu sein scheint. Der Weg zur Schule sei für die Tochter damals schön kurz gewesen, „heute freuen wir uns über die kurzen Einkaufswege“, sagt Koplin. „Wir fühlen uns wohl hier.“ Im Jahr 2007 ließ die Degewo eine Mieterbefragung durchführen. Ergebnis: In Köpenick wohnen die zufriedensten Mieter. Aus dieser Zeit stammt die Bezeichnung „Insel der Glückseligen“ für das Allende-Viertel. Für die Koplins eine passende Bezeichnung. „Nach der Wende brach hier ja auch viel zusammen, Jobs gingen verloren. Was aber stabil blieb, war dieses Viertel und die Möglichkeit, hier gut und günstig wohnen zu können.“

Ganz neu: Rollatoren-Garagen

Weiter geht es durch das Viertel. Anfang der 90er-Jahre wurden die Häuser saniert, die Fahrstühle modernisiert, die Gebäude wärmegedämmt. Es sieht gepflegt aus. Eberhard Aurich will nun zum Flüchtlingsheim. Im ehemaligen Altenheim im Viertel haben derzeit 250 Flüchtlinge aus 20 Nationen einen Platz gefunden. Auch aufgrund einer Bürgerinitiative – Eberhard Aurich ist dabei. Natürlich. Er sagt: „Leute, die hier etwas Positives tun wollen, müssen auch die Gelegenheit dazu bekommen.“ Auf dem Fußweg dorthin will uns der engagierte Rentner noch „eine Besonderheit“ zeigen. Er bleibt kurz vor kleinen Verschlägen stehen, die ziemlich neu aussehen. „Na, was glauben Sie, was das ist?“ Ratlosigkeit. „Das sind Rollatoren-Garagen – sagt natürlich einiges aus über die Altersstruktur hier im Viertel.“ Während noch gestaunt wird, geht Eberhard Aurich schon weiter. Sein Freund wartet. Uli Haas, 69, der sich auch im Heim engagiert, Mitglied der Bürgerinitiative und Sprecher des Runden Tisches ist. „Da wird Ehrenamt schnell zum Fulltime-Job“, lacht Aurich.

Das Heim ist gepflegt. Die Gestrandeten sind hier. „Welcome Refugees!“, heißt die Bürgerinitiative, der neben Aurich und Haas noch zwölf andere Ehrenamtliche angehören. „Wir haben hier viel Solidarität erfahren“, sagt Haas. Aurich weiß: „Wir können hier nicht die ganze Welt willkommen heißen – aber auf unserer Insel ist noch Platz.“ Sie knüpfen mit ihrem Engagement an die Willkommenskultur an, die den Kiez seit Beginn auszeichnet: 1973 wurden hier Emigranten aus Chile aufgenommen, die nach dem Sturz Allendes vor der Pinochet-Diktatur flohen. „Probleme sind hier so groß und so klein wie anderswo auch“, schreibt Eberhard Aurich in einem seiner Artikel über sein Zuhause. Aber er packt sie an, die Probleme, gemeinsam mit den anderen. Niemand ist eine Insel, heißt es nach dem englischen Dichter John Donne. Im Allende-Viertel merkt man das.