Dieser Pfannkuchen dort auf dem Teller – er könnte sein Berlin sein. Wie er mit der Gabel langsam durch die zuckrige Kruste dringt, dann durch den Teig bis ins rote Marmeladenmagma im tiefsten Innern. Irgendwie macht Hanns Zischler das auch so mit der Stadt, in der er seit 40 Jahren lebt. Auch ihren oft rauen Zuckerguss zerteilt er und legt etwas frei.
„Berlin ist zu groß für Berlin“ heißt sein gerade erschienenes Buch, und wenn man ihn fragt, was genau er damit meine, erklärt er: „Berlin hat eine Tendenz zur Übertreibung. Das bekommt der Stadt nicht so gut.“ Und: „Das eigentliche Berlin bleibt unerreicht.“ Das wäre dann der Unterschied zwischen dem Kern des Pfannkuchens und dem von Berlin.
Der Mann ist ein angesehener Schauspieler, schon Steven Spielberg hat ihn für eine größere Rolle vor die Kamera geholt, er ist außerdem ein begeisterter Fotograf und hochgelobter Buchautor. Und er ist einer, der sich die Stadt über Jahrzehnte hinweg erlaufen oder mit Rad erfahren – und nun erstmals vieles, was er dabei beobachtete, zu Papier gebracht hat.
Er macht sich Sorgen um seine Wahlheimat
Der 65-Jährige kritisiert mangelnde Auseinandersetzung mit der Geschichte, wundert sich über Plätze, amüsiert sich über das Verhältnis der Einwohner zu Straßenbäumen und polemisiert, die Stadt habe die Tendenz, zum Architekturmuseum zu werden. Ja, er macht sich einfach ein bisschen Sorgen um seine Wahlheimat.
Unser Treffpunkt ist das Haus des Rundfunks in der Masurenallee. Zischler, dunkle Jacke, weiße Schiebermütze, hat sich diesen Ort als Start ausgesucht. Heute erscheine das Gebäude wie ein Solitär, dabei „ist es nur der kleine Überrest dessen, was möglich gewesen wäre“. Der von Hans Poelzig in den zwanziger Jahren entworfene Bau sollte einmal Teil eines großen Komplexes werden. Der Kopf, wie Zischler es nennt, eines riesigen Fischleibs.
Poelzigs Vorschlag war es, ein Areal anzulegen mit der Messe und dem heutigen Theodor-Heuss-Platz. „Es wäre quasi der westliche Alexanderplatz geworden. Das kann man nur träumen.“
Unsere Schritte führen uns zum Fernsehzentrum, das Jahrzehnte nach Poelzigs mutigen Plänen entstand. Zischler meint, es sei schon kriminell, neben das Haus des Rundfunks so etwas zu setzen. Aber nun wollen wir uns der kleineren Welt namens Westend zuwenden, die er für diesen Spaziergang ausgesucht hat, hier lebt er seit 1978.
Aufgewachsen auf dem Land
Dass er kein Berliner ist, merkt man an dem fränkischen Tonfall, den die lange Zeit in Berlin nicht ganz wegwischen konnte. Aufgewachsen ist er in Langenaltheim, einem Dorf mit heute knapp 2300 Einwohnern, „auch L.A. genannt“. Unter der Rubrik „Persönlichkeit“ wird er bei Wikipedia dort aufgeführt, neben einem SS-Hauptsturmführer und einem weiteren NSDAP-Mitglied, dem früheren Erlanger Bürgermeister Herbert Ohly.
Dessen Geschichte kennt er. Ohly setzte sich kurz vor Ende des Krieges erfolgreich dafür ein, dass die Stadt den amerikanischen Truppen übergeben wurde. Wenige Kilometer entfernt, in Cadolzburg, rang sich zur selben Zeit ein Offizier, ein Onkel von Zischler, gleichfalls dazu durch, nicht mehr weiterzukämpfen und den Ort zu übergeben. „Nur“, erzählt er, „hat er das 40 Jahre verschwiegen, weil es für einen Soldaten als unehrenhaft galt. Er machte was Richtiges, schämte sich aber dafür.“
Zischler mag das – dieses Entgegen-dem-Diktat-der-Zeit-Agieren. In seinem Buch erzählt er von solchen Lebenswegen in Berlin. Wir werden ihnen noch begegnen.
Hat Theodor Heuss diesen Platz verdient?
Aber erst mal stehen wir auf dem Theodor-Heuss-Platz, und ich frage den Mann an meiner Seite, ob der erste Bundespräsident es verdient hat, dass dieser Ort seinen Namen trägt? „Nein“, antwortet Zischler knapp und mit einem Lächeln. Aber immerhin sei der Heuss-Platz doch besser als der Adenauerplatz? „Na, der ist ja auch ein Witz. Da drückt sich Berlins Verachtung für Adenauer aus.“
Der Theodor-Heuss-Platz sei ja kein Platz, sondern ein Straßenzusammenstoß, ein Planungsfehler erster Ordnung. „Wenn Sie diesen Platz als Fußgänger überqueren wollen, brauchen Sie zehn Minuten.“ Und zu Heuss passe er sowieso nicht, der sei ja ein beweglich-intellektueller Zeitgenosse gewesen.
So wenden wir uns zur Ahornallee, die sich still und anheimelnd vor uns auftut. Ich frage ihn, was er denn an Berlin mag. „Ich habe noch nie eine Stadt von der Größe gesehen, wo man nach einigen Schritten raus, in einer landschaftlichen Gegend ist. Das hat mich immer sehr berührt.“ Dieser Anschluss an die Natur ist für ihn zeitlebens wichtig gewesen.
Bei einem, der auf dem Land groß wurde, der dort „immer im Freien war“, ist das nicht verwunderlich. Aber bei Zischler hat es fast etwas Manisches. 1975 verließ er nach sieben Jahren die Schaubühne, weil er nicht dauerhaft in geschlossenen Räumen arbeiten mochte. „Diese Fensterlosigkeit im Theater hat mir zu schaffen gemacht.“
„Ich war damals ein sehr haltloser Mensch“
Er war 1968 nach Berlin gekommen. „Es war eher ein zufälliges Bleiben, weil ich ein sehr haltloser Mensch damals war.“ Dem Schauspieler Hanns Zischler kann man das ansehen. In seinen frühen Filmen – etwa in Wim Wenders’ „Im Lauf der Zeit“ oder in Rudolf Thomes „Berlin Chamissoplatz“ – wirkt er in seinen Rollen ein wenig linkisch, nicht angekommen. Er selbst nennt es „fränkisch“. Was soviel heiße wie: nicht sehr elegant. Und dass man noch lange Lehrjahre vor sich habe.
Im Alter von zehn Jahren war Zischler auf ein Internat gekommen. Die Mutter war früh gestorben, der Vater, ein Steinbruch-Besitzer, auch schon sehr krank. Er sei, sagt er, von sehr abwesenden Eltern umgeben gewesen. Was ihm half, waren seine Lehrer, sehr gute Lehrer, wie er betont. Nur seien das eben nicht die primären Erziehungspersonen gewesen. Was bedeutete das für ihn? „Man hat eine größere Freiheit im Suchen, aber verliert sich auch schneller.“ Diese gewisse Verlorenheit in seinen frühen Filmen sei ganz deutlich darauf zurückzuführen.
„Ich war rückblickend einer, der nicht wusste, was er werden will. Was ich spürte, war aber eine doppelte Neugier. Das eine war Literatur, die mich sehr stark interessierte, und das andere war die Spiellust, die mit den ersten Filmen zustande kam und die mich als Experimentierfeld interessierte. Wohin das führen sollte, wurde mir erst nach und nach klar.“
Das Schreiben gab ihm Sicherheit
Kaum ein Schauspieler in Deutschland kann heute auf eine derartige Bandbreite seines Schaffens zurückblicken wie Zischler. Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Frank Beyer und Helmut Dietl holten ihn vor die Kamera. Je älter er wurde, desto ruhiger, ja abgeklärter wirkte er in seinen Rollen. Das habe, sagt er, mit dem Schreiben zu tun. „Die Tatsache, ein Buch fertig zu haben, gibt eine unglaubliche Sicherheit. Das ist eigentlich mit kaum etwas anderem zu vergleichen.“
In seinem Berlin-Buch setzt Zischler einem Mann ein kleines Denkmal, der ein wenig wie sein Alter Ego wirkt. Begegnet ist er Oskar Huth Ende der 70er-Jahre erstmals im Charlottenburger Lokal „Zwiebelfisch“. Seine Geschichte war es, die ihn begeisterte. In der Nazizeit hatte Huth Pässe und Buttermarken gefälscht und sie den Untergetauchten selbst gebracht. Dabei bewegte er sich wie ein Trapper.
Seine Wege durch Berlin legte er ohne Bus und Bahn zurück. „Er braucht den festen Boden unter seinen Füßen, den Asphalt ebenso wie die vielen verschlungenen, bisweilen ländlich anmutenden Wege durch das ausgedehnte, unvermutet ins Grüne und in die Brache ausufernde Groß-Berlin. Und wie den festen Boden braucht er den freien Himmel über sich.“
Huth, sagt er, sei für ihn eine unfassbare Erscheinung. Einer, der die Großstadt als Revier sieht, und dadurch überlebt er auch. „Der Wilderer weiß mehr als der Jäger. Mein Vater war Jäger. Wenn er über bestimmte Bestände nicht weiter wusste, dann hat er einen Wilderer gefragt. Der Wilderer war zwar eine Persona non grata, aber er wusste mehr. So ähnlich war Oskar Huth.“
Sie wollte noch einmal ihr Elternhaus sehen
Wir sind inzwischen die Ahornallee ein Stück vorangekommen, da zeigt Zischler auf ein blaues Haus. Zwischen den alten Villen wirkt der mehrstöckige Bau aus den 70er- oder 80er-Jahren wie ein Fremdkörper. Ein Schild weist darauf hin, dass hier einst die Dichterin Gertrud Kolmar ihre Kindheit und Jugend verbrachte, allerdings stand damals noch eine Stadtvilla an der Stelle. Im Januar 1940, drei Jahre bevor sie nach Auschwitz deportiert und umgebracht wurde, wollte sie ihr Elternhaus wiedersehen.
Als sie dort ankommt, sieht sie, es ist eine Polizeistation daraus geworden. Trotzdem wagt sie sich hinein, der Drang, die vertrauten Räume noch einmal zu sehen, ist zu groß. Was dann passiert, beschreibt Zischler in seinem Buch als ein „seltsames, beunruhigend stilles Bild: ein Berliner Polizeibeamter führt im Kriegsjahr 1940 eine Jüdin durch ihr ehemaliges Haus, ohne dass es zu irgendeinem Zwischenfall, einem behördlichen ,Vorgang’ kommt“.
Wir verlassen die Ahornallee und zweigen in die Rüsternallee ab. Nach einigen Metern bleiben wir vor einer Pflegeeinrichtung stehen, einem hellblauen, modernen Bau. „Das ist eine Ohrfeige für die Denkmalpflege und auch für das Viertel“, erregt sich Zischler. „So was zuzulassen. Das sieht aus wie eine Außentoilette. Unfassbar.“
Und das sei mal wieder typisch für Berlin: Schnell abreißen, Neues hinsetzen, größer machen. Deshalb gebe es auch keinen Bestand. „Das ist die Wurzellosigkeit dieser Stadt. Die bringe ich in einen mentalen Zusammenhang mit dem Boden selbst. Wenn Sie Sand und Sumpf als Grundlage haben, da wurzelt nicht viel. Ich kann keinen Beweis dafür anführen, aber Städte, die auf Stein gebaut sind, haben eine ganz andere Struktur, sind solider. Hier rutscht vieles weg.“
Architektonische Solitäre schießen aus dem Boden
Berlin habe die Tendenz, zu einem Architekturmuseum zu werden. „Das heißt, da ist die Planung nicht mehr übergreifend und eingreifend, wie das mal war. Die architektonischen Solitäre schießen aus dem Boden und fügen sich nicht zu einem Ganzen.“ So habe man auf dem Potsdamer Platz alle damals aktuellen Architektursprachen einfach quasseln lassen. Zischler erinnert sich, ohne Wehmut, wie er vor 30, 40 Jahren dort öfter in einer Wohnung im Weinhaus Huth zu Gast war. „Das war eigentlich world’s end. Man fühlte sich manchmal wie auf dem Bug eines festgefahrenen Schiffs.“
Aber nun genug der geistigen Ausflüge in andere Ecken der Stadt. Der Stadtforscher will nicht mehr mäkeln, er will schwärmen und zieht uns zum Branitzer Platz. Und so stehen wir schließlich auf einer grünen Insel, die sogar trotz des grauen Himmels einladend wirkt. Zischler lobt: „Besonders gelungen.“ Und weiter geht es zum Brixplatz. „Da erwartet Sie ein Canyon.“
Und wirklich, als wir dort ankommen, entscheiden wir, dass hier das Foto dieses Spaziergangs entstehen muss. Wir schauen in einen ungewöhnlich tiefen Park, tatsächlich fast eine Schlucht, mit drei kleinen Seen. Zischler nennt es eine märkische Miniaturlandschaft. Er gehe oft hier spazieren, mit seiner Frau oder allein.
Und was macht er so beim Spazierengehen? Studiert er seine Rollen ein, lässt er die Gedanken fliegen? Nein, sagt er, er beschäftige sich im Laufen mit Gedichten. „Ich lerne sie auswendig und memoriere sie dann während des Spaziergangs. Das ist eine sehr wohltuende Übung.“ Was hätte heute gepasst? „Eines von Peter Huchel. Bei der düsteren Novemberstimmung, die noch anhält. Oder eines von Gertrud Kolmar.“
Steven Spielberg holt ihn für eine Rolle
Während wir einem Café am Steubenplatz zustreben, frage ich ihn, ob er auch mit Steven Spielberg spazieren war? Im Jahr 2005 besetzte der amerikanische Filmregisseur eine größere Rolle mit ihm, in seinem Film „München“, der die Nachfolgegeschichte des Attentats auf die israelischen Sportler während der Olympischen Spiele erzählt. Zischler spielte darin einen Agenten des Mossad. Auf einmal bewegte er sich wie selbstverständlich vor der Kamera neben Weltstars wie Daniel Craig und Eric Bana.
Nein, spazieren seien sie nicht gegangen, erzählt Zischler, aber sie hätten sich über das Kino unterhalten. „Spielberg unterhält sich sehr gern. Er hat ein unfassbares Filmgedächtnis. Über Buster Keaton haben wir viel gesprochen, den bewundert er ähnlich wie ich.“
Und nun bewundere ich im Café, mit welcher Kunstfertigkeit Zischler den eingangs erwähnten Pfannkuchen, den man anderswo in Deutschland ja Berliner nennt, zerteilt, Stück für Stück langsam zum Munde führt, kaum ein Krümel geht daneben. Ich frage ihn, ob er, der zugezogene Franke, Berlin als seine Heimat ansieht.
„Ein Freund sagte einmal: ,Ich fühl’ mich hier eigentlich ganz wohl, weil alle fremd sind.’ Das passt zu mir in gewissem Sinn.“ Und was hat die Stadt aus ihm gemacht? „Sie hat mich wider Erwarten gefestigt.“