„Mami, Du weinst immer. Immer weinst du.“ Diesen Satz hört Milek B. oft. Zu oft. Wenn ihre zehnjährige Tochter Melike vor ihr steht und sie mit großen Augen anguckt, dann möchte die 43-Jährige gern sein wie früher. Spaß haben, Blödsinn machen mit dem Kind. Aber sie kann es nicht.
Ihre Fröhlichkeit starb am 5. April. Dem Tag, an dem ihr Sohn Burak im Alter von 22 Jahren erschossen wurde. Mehrere Schüsse waren das. Abgefeuert von einem Unbekannten, der nicht den Hauch einer Spur hinterließ und die Kriminalpolizei bis heute vor ein Rätsel stellt. Der zwei Freunde von Burak durch Schüsse schwer verletzte und dann in der Dunkelheit verschwand wie ein Geist. Der ein ganzes Viertel, wenn nicht die ganze Stadt in Angst vor einer möglichen neuen Bluttat versetzt hat.
Für den Angriff auf die jungen Männer gibt es kein Motiv. Sie hatten in dieser Nacht zufällig am Krankenhaus Neukölln zusammengestanden und sich unterhalten. Zur falschen Zeit am falschen Ort – zynisch und abgedroschen klingt diese Floskel. Doch offenbar war es genau so.
15.000 Euro Belohnung ausgelobt
15.000 Euro Belohnung sind für Hinweise ausgelobt worden, die zur Ergreifung des Täters führen. Milek und Ahmet, die Eltern des getöteten jungen Mannes, wollen endlich wissen, wer ihnen den Sohn genommen hat. Und warum.
Es ist die Nacht zum Gründonnerstag dieses Jahres, die die Welt der Familie B. aus Neukölln für immer verändert. Ihr ältester Sohn Burak ist mit vier Freunden unterwegs, wie so oft. Seine Eltern kennen die anderen, es seien gute Jungs, versichern sie, unterschiedlichster Herkunft. Sie stammen aus der Türkei, aus Arabien und Russland. Zunächst feiern sie gemeinsam in einem Klub, danach sitzen sie noch auf einem Geländer an der Rudower Straße, direkt vor dem Krankenhaus Neukölln. Die jungen Männer unterhalten sich, vielleicht sind sie etwas zu laut, von Grölerei könne aber keine Rede gewesen sein, wie Anwohner später berichten.
Kurz nach eins taucht plötzlich ein Unbekannter auf und eröffnet das Feuer auf die Gruppe. Zuerst fallen drei Schüsse, dann noch einmal zwei. Burak B. liegt sterbend auf der Fahrbahn, seine beiden Freunde auf dem Gehweg. Ein Augenzeuge wird später bei der Polizei von einer regelrechten Hinrichtung sprechen. Die Feuerwehr bringt Burak ins gegenüberliegende Krankenhaus. Doch den Ärzten der Intensivstation ist schnell klar, dass es für den jungen Türken keine Rettung gibt. Kurz darauf stirbt Burak auf dem Operationstisch.
Sie weint wieder. Wie so oft
Seine Mutter hat sich zu diesem Zeitpunkt gerade ins Bett gelegt. Am nächsten Tag will sie mit ihrer Tochter in die Türkei fahren, ein paar Tage ausspannen. Sie wird die Reise nicht antreten.
Gegen zwei Uhr, aber das erfährt sie erst später, klingeln Freunde von Burak an der Haustür der Familie. „Wir haben normalerweise einen sehr leichten Schlaf, aber in dieser Nacht haben wir nichts gehört“, sagt Milek B. Sie weint wieder, wie so oft. Erst um halb sechs dringt das anhaltende Klingeln zu ihr und ihrem Mann durch. „Mir war sofort klar, dass etwas passiert sein muss. Es war Feiertag, um diese Zeit klingelt niemand ohne Grund“, sagt die Mutter und tupft sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. Ihr Mann sitzt neben ihr am Tisch, nimmt ab und an einen Schluck Tee. Er spricht nicht viel. Aber die Augenpartie des 44-Jährigen verrät, dass auch er sehr oft weint.
Keine 200 Meter ist der Tatort vom Haus der Familie B. entfernt. Von der Stichstraße, in der die Familie wohnt, geht es nach links zum Eingang des Krankenhauses. „Die Jungs hatten mir berichtet, dass Burak dort liegt. Ich wollte nur dorthin, so schnell wie möglich.“ Als die Eheleute nach rechts blicken, sehen sie Polizisten hinter Absperrungen. Zuckende Blaulichter und Ermittler in weißen Overalls. Milek B. ahnt in der Eile nicht, dass hier die Spuren des Mordes an ihrem Kind gesichert werden. Ein Rohrbruch vielleicht, denkt sie. Oder ausströmendes Gas. In ihrem Kopf ist kein Platz, um das Naheliegende zu erkennen. Sie will zum Krankenhaus, zu ihrem Sohn. Sie nimmt ihren Mann an die Hand, zieht ihn, um schneller zu sein.
Doch die Ärzte und die Polizisten weichen aus, geben keine richtigen Antworten. Denn die Identität des Getöteten ist in diesem Moment noch unklar, Burak hatte nur seinen Autoschlüssel und ein Handy dabei, keinen Ausweis, keine Papiere. Schließlich werden Milek und Ahmet B. zur Kriminalpolizei an der Keithstraße 30 in Tiergarten geschickt. Auf dem Schild vor dem alten Berliner Gebäude steht „Delikte an Menschen“, aber auch das sieht die Türkin nicht. Wenig später zeigen ihr die Ermittler der Mordkommission ein Foto ihres Sohnes. Ein Bild aus dem Krankenhaus, aus einer Perspektive aufgenommen, die nur das Gesicht zeigt und nicht die tödlichen Verletzungen. Doch das Bild sagt alles, Milek B. bricht zusammen.
„Ich weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin“, sagt sie heute. Was sie weiß, ist, dass sie in diesem Moment vergessen hat, wie man lacht. „Ich glaube, ich werde mein Lachen niemals wieder finden“, sagt Milek B.
Kein Tag vergeht seitdem ohne die quälende Frage nach dem Warum. „Ich glaube nicht, dass dieser Anschlag unserem Burak galt. Dieser Mann wollte einfach nur töten“, sagt Milek B. Ahmet B. pflichtet seiner Frau bei. Jeden Sonntag kämen seine Freunde zu Besuch, man sei die Sache immer wieder durchgegangen. Frühere Streitereien, alte Konflikte, Ärger am Abend vor der Tat. Aber da war nichts. „Wir können uns die Sache nicht erklären“, sagen Buraks Eltern. Dennoch glauben die beiden, dass „der Mann“, wie sie ihn nennen, mit dem konkreten Ziel unterwegs gewesen war, jemanden zu erschießen. Er hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen, er hat weder eine DNA-Spur hinterlassen noch einen verwertbaren Fußabdruck. Auch gesagt hat er zu den jungen Männern nichts. Zuerst hatten die Eltern gedacht, jemand aus der Nachbarschaft könnte neidisch sein, weil Burak am Wochenende manchmal einen großen und teuren Wagen von der Autofirma nutzen konnte, für die er arbeitete. Aber diese Idee haben sie schnell wieder verworfen.
Schwierige Ermittlungen
Für die 6. Mordkommission, die sich mit dem Fall beschäftigt, gestalten sich die Ermittlungen mehr als schwierig. „Wir haben einige wenige Spuren, mit denen wir arbeiten. Aber daraus haben sich bislang keine Anhaltspunkte ergeben“, sagt Kriminalhauptkommissar Bernhard Jaß, der Leiter der Ermittlungsgruppe. 98 Hinweise sind bei der Mordkommission eingegangen, eine heiße Spur hat sich daraus nicht ergeben. Auch die Ermittlungen in Buraks Umfeld verliefen ins Leere. „Keines der Opfer und auch keiner der Unverletzten hatte in seinem Lebensumfeld irgendwelche Konflikte“, sagt Jaß.
„Es gab keine polizeiliche Vorbelastung, es gab auch im Vorfeld der Tat keine spontanen Auseinandersetzungen.“ Die Tat habe offenbar der Gruppe gegolten, und damit jedem in der Gruppe gleichermaßen. Und auch für das schnell nach dem Anschlag kursierende Gerücht, wonach Rechtsradikale dahinterstecken könnten, gibt es keinen Anhaltspunkt. „Der Tatort war kein fester Treffpunkt der Gruppe, sie waren zum ersten Mal dort, und das aus reinem Zufall“, sagt Jaß. „Der Schütze konnte also nicht gewusst haben, dass sich Burak und seine Freunde an diesem Tag dort aufhalten würden.“
Die Beschreibung des Gesuchten ist vage. Der Mann ist zwischen 1,70 und 1,80 Meter groß und zwischen 40 und 60 Jahre alt. Vielleicht auch älter. Er hatte eine dunkle, zweifarbige Jacke an, trug ein Basecap oder eine Kapuze. Wiedererkennen – unmöglich. Doch noch wollen Jaß und seine Kollegen nicht aufgeben.
Burak, erzählt seine Mutter, war der Stolz der Familie. Der Älteste. Nicht nur ein Sohn, sondern auch ein Freund. Einer, der immer viel erzählte, der keinen Streit suchte und im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen nicht zum Boxen oder Vollkontaktkarate ging, sondern zum Selbstverteidigungstraining. Der nach der Ausbildung im Autohaus noch ein Jahr dort arbeiten wollte, um dann zu studieren. Der danach eine Familie gründen und Kinder haben wollte. Milek B. bricht ab. Wieder fängt sie an zu weinen.
Sie will nicht loslassen
„Wir haben immer für unsere Kinder gearbeitet“, erzählt Ahmet B. In seiner Heimat, der Türkei, könne er zwar schön Urlaub machen, fühlen tue er sich als Deutscher. Seine Kinder seien die dritte Generation seiner Familie in Berlin. Es klingt wie eine Rechtfertigung, obwohl es dafür gar keinen Grund gibt. „Es muss Gerechtigkeit geben, und ich will diesen Mann im Gefängnis sehen“, sagt Ahmet B. Anders als seine Frau will er sich nicht fotografieren lassen. Ahmet B. installiert Satelliten-Antennen, er arbeite sozusagen „öffentlich“. „Und ich will nicht ständig die Geschichte unseres ermordeten Sohnes erzählen müssen.“
Milek B. hat früher als Altenpflegerin gearbeitet, aber das kann sie nicht mehr. Sie geht regelmäßig zur Therapie, trifft sich aber auch mit Buraks Freunden. Sie will nicht loslassen. In jedem Stockwerk des mehrgeschossigen Doppelhauses hängen Bilder des 22-Jährigen. Groß und gerahmt, klein und einfach in den Türrahmen geklemmt. Buraks Mutter geht ganz nach oben, in sein Zimmer, das seit seinem Tod nicht verändert wurde. Das Bett ist gemacht, Buraks Jacken hängen am Kleiderhaken, sein rotes Basecap liegt auf dem Kopfkissen – es war sein Markenzeichen. Selbst sein Auto steht immer noch in der Einfahrt und wurde bisher nicht abgemeldet. „Alles bleibt so, wie es ist“, sagt Milek und fängt wieder an zu weinen.
Im Leben der Familie ist nichts geblieben, wie es war. Milek und Ahmet B. haben ständig Angst, dass ihren beiden anderen Kinder etwas zustoßen könnte. „Ich bringe unsere Tochter jeden Tag zur Schule und hole sie auch wieder ab. Ich kann einfach nicht anders“, sagt Milek B. Buraks Bruder, der 19 Jahre alten Fatih, geht von selbst sehr viel seltener aus dem Haus als früher. „Wenn er mal ausgeht, dann mit seinem Cousin, der holt ihn mit dem Auto ab und bringt ihn wieder heim“, sagt seine Mutter. Doch selbst in diesen wenigen Stunden der Abwesenheit ihres nun einzigen Sohnes sitzt Milek B. zu Hause und sorgt sich um ihr Kind. „Wenn der Täter von der Polizei gefasst ist, hört das vielleicht auf.“ Daran, dass sie dann auch wieder lachen kann, glaubt sie aber nicht.