Bildungsreform

Berliner Senat überarbeitet Inklusionskonzept

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Regina Köhler

Foto: Marion Hunger

Weniger Pädagogen, mehr Schüler: Viele Schulleiter lehnen das gemeinsame Lernen ab, weil Personal und Ausstattung fehlt. Nun steuert Bildungssenatorin Sandra Scheeres um.

Ermunternd streicht Anne ihrer Mitschülerin Ronja über den Kopf. „Ich hol nur schnell meinen Mathe-Hefter, dann setze ich mich zu dir“, sagt sie. Ronja nickt begeistert. Das sieben Jahre alte Mädchen ist gerade dabei, das Bild eines Dinosauriers auszumalen. Das fällt ihr nicht leicht, doch sie gibt sich Mühe.

Ronja ist eines von vier Integrationskindern der Jül-Gruppe C der Grundschule am Barbarossaplatz, in der Kinder der ersten bis dritten Klasse zusammen lernen. Sie hat es gern, wenn Anne neben ihr sitzt und sich ab und zu um sie kümmert. Und Anne sagt: „Wir arbeiten gut zusammen.“ Das ruhige Mädchen mit den langen schwarzen Haaren ist neun Jahre alt und gehört zu den guten Schülern der Gruppe. Das Lernen fällt ihr leicht, deshalb hat sie öfter Zeit für Ronja.

Anwärter auf den Schulpreis

Inklusion heißt die Methode, nach der an der Schöneberger Grundschule unterrichtet wird. Das gemeinsame Lernen von Kindern unterschiedlicher Begabungen und verschiedener Herkunft klappt dort gut, das spüren nicht nur Ronja und Anne. Die Schule ist damit so erfolgreich, dass sie jetzt zu den 20 deutschen Schulen gehört, die für eine Nominierung für den Deutschen Schulpreis infrage kommen.

Das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern – von Fachleuten Inklusion genannt – soll bald an allen Regelschulen möglich sein. Deutschland hat bereits 2008 eine entsprechende UN-Konvention unterzeichnet. In Berlin tut man sich mit einem Inklusionskonzept jedoch schwer. Das Parlament hatte einen ersten Vorschlag der Bildungsverwaltung im vergangenen Frühsommer als unausgereift zurückgewiesen. Die Bildungsverwaltung ist nun dabei, das Konzept zu überarbeiten. Lehrer, Eltern und Betroffenenverbände fühlen sich allerdings nicht einbezogen. Sie haben Angst, dass unter dem Label Inklusion ein Sparpaket aufgelegt werden soll.

Schulleiterin Lydia Sebold ist stolz darauf, dass ihre Schule zu den Anwärtern für den Deutschen Schulpreis gehört. „Wir haben seit mehr als 20 Jahren Erfahrung mit dem gemeinsamen Lernen“, sagt sie. Zwölf Prozent ihrer 300 Schüler seien förderbedürftig, 40 Prozent nicht deutscher Herkunft. An der Grundschule am Barbarossaplatz kümmern sich neben 23 Lehrkräften fünf Sonderpädagogen, mehr als 20 Erzieher und stundenweise fünf Schulhelfer um die Kinder. Schulleiterin Sebold betont, dass dies die Mindestausstattung sei. „Wir sind am Limit, schlechter darf es nicht werden“, warnt sie. Dabei war die Schule noch vor ein paar Jahren wesentlich besser ausgestattet. Weil aber die Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ständig steigt, während die Zahl der Sonderpädagogen, Schulhelfer und Unterrichtshilfen gleich geblieben ist, musste die Ausstattung an Schulen wie der Barbarossa-Schule nach und nach reduziert werden.

Auch an der Friedenauer Fläming-Grundschule, die seit vielen Jahren behinderte Kinder in die Regelklassen integriert, kämpfen die Eltern seit Monaten darum, dass die gute Ausstattung ihrer Schule mit Sonderpädagogen und Schulhelfern nicht zurückgefahren wird. „Schließlich hat sich das Konzept unserer Schule bewährt“, sagt Elternsprecherin Katrin Kaptain. Sie fordert eine klare Haltung des Senats, dass Inklusion auch finanziell ernst genommen wird.

In der Hauptstadt kämpfen derzeit viele Schulen mit dem Problem der unzureichenden Ausstattung. Sie sind bereit, förderbedürftige Kinder in die Regelklassen zu integrieren, haben aber oft bereits dafür nicht genug Sonderpädagogen und Facherzieher. Die Schulleiterin einer Neuköllner Brennpunktschule sagt, dass es so schon schwer genug für die Lehrer sei, allen Kindern gerecht zu werden. „Wir haben bereits viele verhaltensauffällige Kinder, die eine große Herausforderung für die Pädagogen darstellen.“ Ohne deutlich mehr Fachkräfte könne nicht auch noch Inklusion gemacht werden.

Zusätzliche Mittel erforderlich

Eine Umfrage unter Berliner Schulleitern hatte erst kürzlich ergeben, dass die meisten die Eingliederung behinderter Kinder in die Regelschule ablehnen. Unter den gegebenen Umständen sei das nicht möglich, sagen sie. Die Schulleiter fordern mehr Geld für zusätzliches Personal, Fortbildung und bauliche Veränderungen der Schulgebäude. Mit einem kostenneutralen Konzept, wie es die Bildungsverwaltung bisher plant, sei Inklusion nicht umzusetzen, heißt es. Manuela Gregor vom Interessenverband Berliner Schulleiter, der die Umfrage initiierte hat, warnt davor, schon jetzt Sonderschulen zu schließen. Zunächst müssten die Regelschulen so ausgerüstet werden, dass das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern überhaupt möglich sei, sagte sie.

Auch die Schulleiterin der Fläming-Grundschule, Rita Schaffrinna, kann verstehen, dass sich viele Lehrer vor dem Inklusionskonzept fürchten. „Da herrscht eine Mischung aus Unwissenheit und Angst, über das bereits hohe Maß an Belastung hinaus keine weiteren Anforderungen mehr bewältigen zu können.“ Schließlich sei es eine große Herausforderung, bei einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und solchen aus sozial benachteiligten Familien auch noch den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gerecht zu werden.

Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hat den Ernst der Lage offenbar erkannt. Das Inklusionskonzept werde überarbeitet, sagte sie. „Und wir lassen uns Zeit, schließlich sind viele, von den Schülern über die Lehrer bis zu den Eltern, davon betroffen.“ Scheeres will demnächst eine Arbeitsgruppe einrichten, die sich das vorhandene Konzept noch einmal vornimmt. Wie aus ihrer Verwaltung zu erfahren war, sollen die Fachleute dafür mindestens ein Jahr Zeit bekommen.

Schulleiter und Eltern fühlen sich von dieser Aussage zwar entlastet, bleiben aber skeptisch, zumal aus der Bildungsverwaltung auch andere Töne zu hören sind. „Wir haben den Eindruck, dass einige Fachleute dort starken Druck machen und das Konzept regelrecht durchpeitschen wollen“, sagt eine Schulleiterin (Name ist der Redaktion bekannt). Auch Rechtsanwältin Jana Jeschke, die sich in der Lebenshilfe Berlin für Menschen mit geistiger Behinderung engagiert, bleibt skeptisch. „Der Ton in der Verwaltung ist zwar freundlicher geworden“, sagt Jeschke, die selbst ein behindertes Kind hat. Trotzdem gebe es bislang keinerlei Zusagen, dass die Forderungen von Eltern und Behindertenverbänden nach zusätzlichen Mitteln für die Umsetzung der Inklusion berücksichtigt werden. Dabei müsse möglichst schnell festgelegt werden, welche Kosten auf das Land Berlin zukämen, damit diese wenigstens im Doppelhaushalt 2013/14 eingeplant werden könnten.

Gemeinsames Lernen

Konzept: Schüler mit einer Lern- oder Sprachbehinderung sowie mit emotionalen und/oder sozialen Problemen sollen in die Regelschule integriert werden. Die Zahl der Förderzentren soll reduziert werden, die Sonderpädagogen sollen an die Regelschulen kommen. Später sollen geistig und körperlich behinderte Kinder mehr und mehr an den Regelschulen lernen.

Fachleute nennen das gemeinsame Lernen aller Kinder Inklusion. In Deutschland hat seit 2009 jedes Kind einen Anspruch darauf. Noch werden mehr als 80 Prozent der Kinder mit einem Handicap in Sonder- und Förderschulen unterrichtet. In Berlin 60 Prozent.

Elternwille: In Berlin sollen Eltern mit förderbedürftigen Kindern auch weiterhin entscheiden können,ob ihre Kinder an einer Regelschule oder an einem Förderzentrum lernen. Viele Eltern sind froh, dass ihre Kinder an Förderschulen in kleinen Gruppen und von Fachkräften betreut lernen können. In jedem Bezirk soll deshalb mindestens ein Förderzentrum erhalten bleiben.