Berliner Abgeordnetenhaus

"Wir wollen Politik wieder cool machen"

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Jens Anker und Philip Volkmann-Schluck

Foto: David Heerde

Als Piratin Susanne Graf (19) geboren wurde, saß der CDU-Politiker Uwe Lehmann-Brauns (73) bereits seit 13 Jahren im Berliner Parlament. Ein Streitgespräch zwischen dem ältesten und der jüngsten Berliner Abgeordneten.

Jens Anker und Philip Volkmann-Schluck moderierten das Gespräch zwischen dem CDU-Politiker Uwe Lehmann-Brauns und Susanne Graf, Abgeordnete der Piraten, über Politik, Ost und West und die eigene Motivation.

Morgenpost Online: Herr Lehmann-Brauns, Sie gelten als Querdenker. Wollen Sie nicht bei den Piraten eintreten, dort können Sie öffentlicher diskutieren?

Uwe Lehmann-Brauns: Ich sollte anfangs rausgeschmissen werden aus meiner Partei. In der Jungen Union habe ich damals eingeführt, Vorstandssitzungen öffentlich abzuhalten – das mochten viele nicht.

Susanne Graf: Wir heißen grundsätzlich jeden willkommen. Aber wir wollen vieles anders machen als die CDU.

Morgenpost Online: Frau Graf, Sie haben gesagt, Ältere treten oft so auf, als hätten Sie die Weisheit mit Löffeln gefressen.

Graf: Ich will niemandem absprechen, mehr Erfahrung zu haben. Aber ich habe oft erlebt, als kleines Mädchen abgetan zu werden. Das ist nicht förderlich für den politischen Diskurs.

Lehmann-Brauns: Das finde ich dumm. Etwas an Alter oder Jugend festzumachen, das ist reaktionär.

Morgenpost Online: Herr Lehmann-Brauns, Sie sind erst mit 27 in die CDU eingetreten, Fraktionsvize waren Sie erst 20 Jahre später. Was hat Frau Graf besser gemacht, sie ist gerade 19?

Lehmann-Brauns: Ich wollte erst meine Ausbildung zum Anwalt abschließen, um unabhängig zu sein. Außerdem hätte ich nicht die Energie gehabt, gleichzeitig Examina zu machen und in diese eklige Politik einzusteigen.

Graf: Ich wollte schnell in die Politik, um etwas zu verändern. Ich studiere außerdem noch Wirtschaftsmathematik.

Lehmann-Brauns: Das ist doch toll. Funktioniert es?

Graf: Es ist schwierig, weil sich Vorlesungen und Fraktionstermine überschneiden. Dann kommt die Fraktion zuerst.

Lehmann-Brauns: Es ist richtig, nicht nur Politiker zu sein. Sonst kriegt man diesen Tunnelblick, und die Gesellschaft geht einem verloren.

Morgenpost Online: Herr Lehmann-Brauns sitzt seit mehr als 30 Jahren im Parlament. Wollen Sie auch so lange politisch tätig sein?

Graf: Es ist nicht mein Ziel. Ich bin jetzt aktiv, weil ich von den Mitgliedern der Piraten darum gebeten wurde. Das schaue ich mir erst mal fünf Jahre lang an.

Morgenpost Online: Was raten Sie Frau Graf?

Lehmann-Brauns: Nur eines: Man wird nicht sicherer mit dem Alter, sondern sammelt Irrtümer, die eigenen und die der anderen. Es gibt mehr und mehr abzuwägen. Als ich angefangen habe, gab es ein konkretes Ziel für mich: Die Stadt lebte im Schatten einer Diktatur, die viele verharmlosten. Ich bin in die Politik gegangen, um für die Einheit zu kämpfen.

Morgenpost Online: Ihr Hauptgrund, in die Politik zu gehen, hat sich inzwischen verflüchtigt?

Lehmann-Brauns: Es gab diesen glücklichen 9.November 1989, aber dann fingen neue Probleme an. Schon ein Jahr später hat der Westen nur darauf geschaut, wie die Einheit wirtschaftlich zu stemmen ist, die Ossis dagegen wollten nichts verlieren. Die Stadt war voller Probleme, deshalb habe ich nicht aufgehört.

Morgenpost Online: Welche Rolle spielt die deutsche Einheit noch?

Graf: Ich bin nach der Wende geboren. In der fünften Klasse machten sich noch Mitschüler darüber lustig, dass ich im Osten geboren bin. Aber das ist verjährt.

Morgenpost Online: Ist Berlin noch eine geteilte Stadt?

Lehmann-Brauns: Es ist eine andere Stadt geworden, das Ost-West-Thema wird immer weniger wichtig.

Graf: Das taucht meist nur noch in Scherzen auf. Und bei der jährlichen Schlacht an der Oberbaumbrücke zwischen Friedrichshain und Kreuzberg, an der sich auch viele Piraten beteiligen.

Lehmann-Brauns : Es gibt neue Teilungen. Die Grünen etwa machen Front gegen Touristen in Friedrichshain-Kreuzberg.

Graf: Wir haben nichts gegen Touristen, aber Gentrifizierung ist ein akutes Thema. Es ist gut, wenn Stadtteile schöner werden. Aber wenn Menschen wegziehen, sie ihrer Heimat beraubt werden, weil sie sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten können, dann läuft etwas falsch.

Lehmann-Brauns: Die Frage ist doch, wie man das Problem löst. Soll der Staat eingreifen, die Mieten festschreiben und eine Planwirtschaft einführen? Städte sind dynamisch, Menschen müssen auch mal umziehen. Dieser Ruf nach dem Staat, dafür bin ich zu gebrannt von der DDR. Schauen Sie sich diese Plattenbauten an. Aber der Staat muss neue Wohnungen bauen lassen. Jeder hat das Recht auf eine angemessene Wohnung.

Graf: Der Unterschied ist doch: Sind es profitorientierte Unternehmen, die diese Wohnungen bauen, oder der Staat zum Wohle der Gesellschaft? Wir wollen etwa, dass bestehende und künftige Mietergemeinschaften ein Vorkaufsrecht haben, wenn sie nicht wollen, dass Unternehmen ihnen das Geld abnehmen.

Lehmann-Brauns: Schon jetzt hat jeder eingesessene Mieter ein Vorkaufsrecht. Sie sagen, Unternehmen denken nur an ihren eigenen Gewinn, so ist das bei fast allen Menschen. Der Staat ist auch kein Gutmensch. Auch der Staat hat Eigeninteressen, will Macht und missbraucht sie auch.

Graf: Umso wichtiger ist für uns, Bereiche als Dienstleister für den Menschen zu definieren. Der Nahverkehr gehört dazu, die Wasserbetriebe und der Großteil der Wohnungen. Lebensmittelkonzerne dagegen müssen nicht öffentlich sein, finde ich.

Lehmann-Brauns: Aber wo ist der Unterschied, ob mich ein Staatssekretär dominiert oder ein Unternehmer? Der Staat leistet Daseinsfürsorge. Menschen haben die Kraft, sich zu wehren.

Graf: Ja, aber um seinen Einfluss zu Wohle der Menschen zu behalten, muss der Staat geschützt werden vor dem Druck der Lobbyisten aus der Wirtschaft.

Morgenpost Online: Die Piraten verlangen Freiheiten, stellen das Urheberrecht infrage, auf der anderen Seite soll der Staat eingreifen.

Graf: Menschen dürfen sich nicht eingeschränkt fühlen. Beispiel Videoüberwachung: Sie betrifft viele Menschen, doch nur wenige sind potenzielle Terroristen.

Lehmann-Brauns: Wenn an Plätzen und Bahnhöfen geraubt oder gar gemordet wird, muss der Staat einschreiten. Wenn man als Autofahrer nicht 50, sondern 70 Stundenkilometer fährt, aber an der Ecke ein Polizist steht, dann nimmt man automatisch das Gas weg. Mehr Polizei hat präventive Wirkung. Ich habe Menschen getroffen, die aus Angst nicht mehr S-Bahn fahren.

Morgenpost Online: Aber Berlin ist auch beliebt, weil es eine eher sichere Großstadt ist.

Graf: Ich fühle mich auch sicher. Aber wenn ich spätabends in der S-Bahn unterwegs bin, mit vielen Betrunkenen, dann rufe ich einen Freund an und sage: Wenn ich nicht auftauche, ich bin in diesem und jenem Zug. Kameras helfen nicht, wenn man zusammengeschlagen wird. Wir wollen stattdessen mehr Sicherheitspersonal, auch von privaten Anbietern, die man direkt ansprechen kann.

Lehmann-Brauns: Kameras sind das kostengünstigere Hilfsmittel. Berlin ist eine verschuldete Stadt.

Graf: In London sind überall Kameras, dennoch wurden Autos angezündet und Fenster eingeschlagen.

Lehmann-Brauns: Aber danach konnte die Polizei zulangen, mithilfe der Bilder.

Graf: Das Problem ist doch: Viele Aufnahmen der Überwachungskameras waren juristisch gar nicht zu verwenden, weil sie verschwommen waren oder die Jugendlichen vermummt. Ein Großteil der polizeilichen Arbeit lief darüber, dass sie Nachrichten der Täter auf sozialen Netzwerken rekonstruiert haben.

Morgenpost Online: Herr Lehmann-Brauns, Sie haben die Gründung der Grünen miterlebt. Haben Sie mit den Piraten ein Déjà-vu?

Lehmann-Brauns: Ich kenne die Piraten nicht gut, aber allein Transparenz als Ziel ist zu wenig für Gesellschaftspolitik. Es heißt ja immer, die alten Parteien seien zu langweilig und man glaubt ihnen nicht mehr. In dieses Loch sind die Grünen ebenfalls gefallen.

Graf: Transparenz und Bürgerbeteiligung sind nur Ausgangspunkte für unsere Ziele. Wir haben viele konkrete Vorschläge.

Lehmann-Brauns: Die Grünen haben damals das System herausgefordert, da waren Stasi-Leute Mitglieder und sie alle wollten die Anerkennung der DDR. Da war linksradikale Ideologie im Spiel, das sehe ich bei den Piraten nicht.

Graf: Wir schreiben unsere Ideologie selbst. Wir möchten eine ursprüngliche Demokratie haben, die nah am Bürger ist, dass möglichst viele Entscheidungen von der Basis getroffen werden.

Lehmann-Brauns: Lassen Sie mal über die Todesstrafe für Vergewaltiger abstimmen, da wären viele dafür. Und es gibt schlimme Erinnerungen an die Weimarer Republik, die viele Volksabstimmungen ermöglichte. Das war das Einfallstor für die Nazis und die Kommunisten, die Straße zu beherrschen. Parlamentarische Abläufe zwingen zu einem kühlen Kopf, das ist ein Schutz vor Fehlentscheidungen.

Graf: Wir haben mal in der Schule über die Todesstrafe abgestimmt. 90 Prozent waren dagegen. Außerdem ist der Bürger nicht Richter. Und man darf nicht in einen Antrag schreiben: Stellen Sie sich vor, Ihr Kind wurde vergewaltigt – sind Sie für die Todesstrafe? Es muss um Grundüberzeugungen gehen.

Lehmann-Brauns: Emotionale Menschen entscheiden schnell inhuman.

Graf: Unser Tool „Liquid Feedback“ funktioniert so, dass jeder einen Antrag stellen darf, der etwas ändern will. Das ergibt ein Stimmungsbild. Direkte Demokratie muss langsam hochfahren. Natürlich fragen wir noch nicht alle Berliner, diesen Aufwand können wir noch nicht stemmen.

Lehmann-Brauns : Viele Menschen interessieren sich nicht für Politik. Sie muss einen Spagat finden zwischen verschiedenen Werten, sie ist kein Sammelsurium aus Eigeninteressen.

Graf: Aber wir wollen Politik wieder cool machen, dass die Leute das Gefühl bekommen, etwas zu verändern. Mich macht es traurig, wie viele resignieren.

Morgenpost Online: Glauben Sie, die DDR wäre früher zusammengebrochen, wenn Kritiker dort schon 1977 hätten twittern können?

Lehmann-Brauns: Nein. In einer hartgesottenen Diktatur wird so etwas nicht zugelassen, schauen Sie mal nach Nordkorea, China oder Syrien. Dennoch, für totalitäre Systeme sind die neuen Medien gefährlich, sie können helfen beim Umbruch.

Graf: Bei allem, was ich über die DDR weiß, sehe ich da auch Probleme. In China versuchen Menschen zu bloggen, aber die verschwinden plötzlich. Da muss man schauen: Wie kann ich als Privatperson die Technik so einrichten, dass ich sicher bin? Das ist sehr kompliziert.

Morgenpost Online: Fahrscheinlose U-Bahnen, mehr Polizisten, bessere Bildung – sind die Piraten eine ganz normale Opposition, die von guten Dingen einfach mehr haben will?

Lehmann-Brauns: Zunächst mal sind es Menschen, die nicht nur meckern, sondern Lösungen anbieten. Das ist gut.

Morgenpost Online: Verstört Sie so viel Lob, Frau Graf?

Graf: Lob ist schön, aber es darf einem nicht zu Kopfe steigen.

Lehmann-Brauns: Ich habe noch nicht Ihr Programm gelobt, sondern weiß nur, dass Sie in den Ring gestiegen sind.