Olympische Spiele 1936

Als ein Berliner Arzt Jesse Owens behandelte

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Alfred Koch

Foto: Privat

Alfred Koch ist mit 104 Jahren der älteste lebende Zeitzeuge der Olympischen Spiele von 1936. Während der Wettkämpfe in Berlin war er als Arzt tätig. Für Morgenpost Online erinnert sich der Sportmediziner an die Behandlung eines ganz besonderen Patienten.

Gute drei Monate vor Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 erhielt ich die Nachricht, dass ich während der 16-tägigen Großveranstaltung in Berlin als Arzt praktizieren soll. Ich war völlig perplex. Denn erst kurz vorher wurde mir vom Sanitätschef der Luftwaffe gesagt, dass ich als chirurgischer Schiffsarzt auf die MS Königsberg versetzt werde. Nun dieser plötzliche Sinneswandel. Ich war natürlich glücklich darüber. Was konnte mir als begeisterten Sportanhänger besseres passieren, als bei den Olympischen Spielen dabei zu sein. Und das noch in meinem Beruf als Mediziner.

Als Junge hatte ich davon geträumt, selbst als Sportler an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Acht Jahre vor den Spielen in Berlin schien der Zeitpunkt gekommen, dass sich mein Traum erfüllen würde. Über die westdeutschen Meisterschaften wollte ich mich im Frühjahr 1928 als Zehnkämpfer für die Spiele in Amsterdam qualifizieren. Stabhochsprung, Kugelstoßen, Speerwerfen Sprinten – die Vielseitigkeit eines Mehrkampfes habe ich geliebt. Meine Bestzeit über 100 Meter lag bei 11,3 Sekunden. Beim Wettkampf zog ich mir dann aber einen Abriss des hinteren, rechten Oberschenkelmuskels zu. Damit war der Traum von Olympia passé. Gott sei Dank aber nicht für immer.

Auch wenn ich „nur“ im weißen Kittel in Berlin dabei sein konnte, war es ein großartiges Erlebnis. An dieser Feststellung hat sich auch ein Dreivierteljahrhundert später nichts geändert. Auch wenn einige Episoden inzwischen in Vergessenheit geraten sind, blieb dennoch vieles im Gedächtnis haften. Deshalb freue ich mich auch so auf Samstag. Nach vielen Jahren werde ich an die frühere Wirkungsstätte zurückkehren. Aus Anlass des 75-Jährigen Jubiläums wird in der einstigen Turnhalle des Olympischen Dorfes die Ausstellung „75 Jahre Olympisches Dorf – Die zwei Seiten einer Medaille“ eröffnet. Ich wurde geladen, um als ältester lebender Zeitzeuge von damals zu erzählen.

Eine Woche vor Beginn der Sommerspiele reiste ich ins Olympische Dorf, das gute 15 Kilometer westlich vom Olympiastadion im brandenburgischen Elstal lag. Was ich vorfand, war eine erholsame Oase fernab des Großstadttrubels. Außer mir waren noch vier Ärzte sowie rund 25 Sanitäter im Einsatz. Das Ärztehaus war nach der Stadt Hanau benannt worden.

Die Arbeitsbedingungen für uns waren exzellent. Für damalige Verhältnisse hatten wir eine erstklassige Ausstattung. Es gab nicht nur Räume, wo wir Untersuchungen durchführen konnten, sondern auch eine Einrichtung für kleine operative Eingriffe. Eine medizinische Rundumbetreuung konnte jedem im Dorf garantiert werden. Etwa 4000 Sportler und Trainer wohnten dort. Den Sportlerinnen war der Zugang verwehrt, sie wurden in direkter Nähe des Olympiastadions untergebracht. Mit Ausnahme der amerikanischen Mannschaft hatten alle teilnehmenden Nationen auch eigenes Ärztepersonal mitgebracht.

Ich war aber nicht nur im Dorf im Einsatz. Auch beim Training oder zu Wettkämpfen bat man um meine Hilfe. So war ich dabei, als die deutschen Hockeyspieler in einem Test gegen Indien äußerst hart zur Sache gingen. Die verärgerten Gästespieler verließen daraufhin schon vor dem Schlusspfiff den Platz. Als beide Mannschaften dann im olympischen Finale aufeinandertrafen, war Deutschland chancenlos und unterlag 1:8.

Ich erinnere mich auch noch an einen ungarischen Boxer, den ich vergebens versucht habe, bei Laune zu halten. Er verletzte sich so schwer am Auge, dass ich ihn behandeln musste. Dabei fragte ich ihn scherzhaft, ob ich ihm nicht beide Augen verbinden sollte, damit der nächste Gegner nicht weiß, auf welches er schlagen soll. Darüber konnte er nicht lachen, durch die Verletzung war für ihn das Turnier beendet.

Ich weiß auch noch genau, wie Jesse Owens nach seinem Sieg im Weitsprung – es war die zweite von vier Goldmedaillen, die er gewann – zu mir in die Praxis kam. Er wirkte verängstigt. Dem Leichtathletikstar tat, glaube ich, das linke Ohr weh. Er hatte die Sorge, dass der Schmerz noch schlimmer wird, und er womöglich nicht in Bestform seine nächsten Wettkämpfe bestreiten kann. Doch nachdem ich ihn ins Ohr geschaut hatte, und sah, dass es sich nur um eine leichte Entzündung handelte, konnte ich ihn problemlos beruhigen. Ich verschrieb ihm Rotlicht und Tropfen, klopfte ihm auf seine muskulösen Schultern und versicherte, dass er sich keine Gedanken machen müsse. Daraufhin lächelte er entspannt und verließ bestens gelaunt das Zimmer.

Den Weitsprung-Wettbewerb hatte ich im Olympiastadion von der Tribüne aus miterlebt. Jesse Owens und der Deutsche Luz Long im spannenden Duell. Bis zum letzten Versuch lag Owens nur wenige Zentimeter vorn, doch dann glückten ihm 8,06 Meter. Es war der einzige Sprung über acht Meter. Luz Long gratulierte dem farbigen Amerikaner als Erster, was vor den Augen Hitlers eine sehr mutige Geste war.

Dass Hitler die Spiele für seine Propagandazwecken missbraucht hat, wertet für mich die Spiele nicht ab. Davon habe ich während der Austragung auch nicht wirklich etwas gespürt. Genauso ging es den anderen Teilnehmern. Ich will nichts verklären, aber wer die Spiele so hautnah wie ich erleben durfte, dem bleiben sie in ewiger Erinnerung als ein Treffen froh gelaunter Sportler verschiedener Herkunft, Hautfarbe und Religion, die sich auf der Laufbahn, an den Turngeräten oder im Boxring packende Wettkämpfe um die Medaillen lieferten. Ganz im Sinne des olympischen Geistes.

( Mitarbeit: Gunnar Meinhardt )