Seit dem 1. Juli droht den Berlinern eine schlechtere medizinische Versorgung. Ärzte müssen mit weniger Geld pro Kassenpatient auskommen als zuvor. Leidtragende sind vor allem ältere Menschen.
Vielen Patienten in Berlin droht eine schlechte medizinische Versorgung. Schuld sind die neuen Richtgrößen für niedergelassene Mediziner. Denn Berliner Ärzte müssen seit dem 1. Juli mit weniger Geld pro Kassenpatient auskommen als zuvor. Die Mediziner schlagen Alarm. Vor allem ältere Menschen sind betroffen. Die Krankenkassen halten das Einsparprogramm dagegen für notwendig.
Nach einem Verhandlungsmarathon zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin (KVB) und den Krankenkassen musste diesmal ein Schiedsamt die neuen Richtgrößen für niedergelassene Mediziner festlegen. Sie liegen um durchschnittlich 15 Prozent unter den zu erwartenden Verordnungskosten für dieses Jahr.
„Wir müssen mit einer dramatischen Verschlechterung für Berliner Patienten rechnen“, sagte Burkhard Bratzke, Vorstandsmitglied der KVB. Im Vergleich zu anderen Bundesländern, betonte Bratzke, stehe Berlin nun erstmals weit weniger Geld für die medikamentöse Versorgung pro Kassenpatient zur Verfügung. In Rheinland-Pfalz beispielsweise gelte ein Richtwert von 186 Euro für Rentner, die zum Hausarzt gehen. In Berlin liegt er bei 104 Euro.
Niedergelassene Ärzte zeigten sich entsetzt über die gesenkten Verordnungskosten. Sie sehen darin eine einseitige Entscheidung des Schiedsamts zugunsten der Krankenkassen, die damit ihren Sparkurs fortsetzen wollten. „Viele ältere Menschen werden das zu spüren bekommen, aber das scheint den Kassen ja egal zu sein, wie der Fall City BKK gezeigt hat“, sagte Matthias Lohaus vom Berufsverband der HNO-Ärzte in Berlin.
Laut KVB muss jeder siebte Arzt mit einer Regressforderung rechnen, wenn er das Budget um 25 Prozent überschreitet. Besonders hart kalkulieren müssten künftig jene, die vergleichsweise teure Patienten medikamentös behandeln. Kinderärzte, die hochpreisige Salben gegen Neurodermitis verschreiben. Kardiologen, die Herzkranke mit Medikamenten versorgen. Internisten, die Krebspatienten nach einem Krankenhausaufenthalt medikamentös therapieren. Ärzte sehen eine qualitative Verschlechterung. „Die neue Regelung wird dazu führen, dass neue Medikamente gar nicht mehr in Berlin angewandt werden, weil sie vergleichsweise teuer sind“, sagte Bratzke.
Die Berliner Krankenkassen wehren sich gegen den Vorwurf, Geld sparen zu wollen. Die bisherigen Richtgrößen seien jahrelang nicht aktualisiert worden, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung aller sechs Verbände. Aus Fallzahlen der KVB und Abrechnungen der Kassen sei ermittelt worden, wie viele Medikamente tatsächlich verordnet wurden, daraus seien die neuen Richtwerte entstanden.
„Da ist nur eine Anpassung erfolgt, die notwendig und sinnvoll war“, sagte Gabriela Leyh, Sprecherin des Verbands der Ersatzkassen. Vor allem Haus- und Kinderärzte seien in den letzten Jahren durch Preissenkungen bei Medikamenten entlastet worden. Für Fachgruppen wie beispielsweise Neurologen, Psychiater und Hausärzte, die ihre Medikamente nicht durch Generika ersetzen könnten, gelten höhere Richtgrößen als sonst. Für spezifische Erkrankungen, etwa HIV, Multiple Sklerose oder Hämophilie, gelten zudem besondere Regelungen. „Im vergangenen Jahr erhielten nur 33 von 8000 Berliner Ärzten einen Regressbescheid“, sagte Leyh. Sie hatten die Möglichkeit, sich für das höhere Budget zu rechtfertigen, die Wenigsten mussten tatsächlich aus eigener Tasche zahlen.
Niedergelassene Ärzte sehen das anders. Sie verweisen darauf, dass es nirgendwo sonst so viele Aids-, Krebs-, Herz- oder Lungenkranke gebe wie in Berlin. Dass es gerade in der Hauptstadt den Spielraum geben müsse, neue Medikamente zu testen. Dies werde künftig weniger praktiziert, weil neue Pharmaprodukte teuer sind und jetzt schon viele fürchten, dass sie regresspflichtig werden.
„Für mich ergibt sich ein unkalkulierbares finanzielles Risiko“, sagte die Reinickendorfer Kinderärztin Antje Prehn. Ärzte drohen schon jetzt damit, nicht mehr die beste, sondern die preisgünstigere Therapie zu verordnen. Sie wollen Patienten öfter an Kliniken verweisen. „Es war eine Entscheidung zugunsten der Krankenkassen“, sagt Lohaus. Die KVB mahnt, dass der Privatpatient dadurch noch lieber in der Praxis gesehen würde, dass Kranke immer öfter Kosten für medikamentöse Behandlungen selbst tragen müssten.