Von ihrem Balkon aus kann sie das Goldene Horn sehen. Wenn die Sonne scheint, spiegeln sich die Lichtreflexe des Wassers auf den Gebäuden am Ufer. Auf der anderen Seite der Bucht liegt das alte Stambul, der Süden des europäischen Teils von Istanbul mit seinen Wahrzeichen Blaue Moschee, Hagia Sophia und Topkap? Palast. Cornelia Reinauer wohnt nördlich vom Goldenen Horn im Künstlerviertel Beyo?lu. Nur einen Kilometer weiter Richtung Osten trennt der Bosporus ihren Stadtteil von der asiatischen Seite Istanbuls.
Seit fast drei Jahren lebt Cornelia Reinauer in Istanbul, der einzigen Millionenmetropole der Welt, die sich auf zwei Kontinente erstreckt. Nach vier Jahren als Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg beendete die heute 56-Jährige im November 2006 ihre politische Karriere bei der Berliner Linken und zog in die türkische Wahlheimat. Seither engagiert sie sich noch mehr als vorher für den kulturellen und gesellschaftlichen Austausch zwischen Berlin und der Stadt am Bosporus. Cornelia Reinauer ist jetzt Vollzeit-Netzwerkerin, sie versucht, Brücken zu bauen zwischen den beiden Städten, deren Partnerschaft am 17. November seit genau 20 Jahren besteht.
Schon seit jeher gibt es enge Verbindungen zwischen Berlin und Istanbul. Nicht nur, dass in Berlin die größte türkische Community außerhalb der Heimat lebt, für Berliner Unternehmen ist die Türkei mit der Riesenmetropole Istanbul auch wichtiger Handelspartner. 2008 exportierten die Berliner Waren im Wert von 142,2 Millionen Euro in die Türkei, andersherum wurden Waren im Wert von 102 Millionen Euro importiert. Auch das Leben der Menschen ist von der jeweils anderen Kultur mit geprägt – nicht ohne Grund wird Kreuzberg in der Türkei gern „Klein-Istanbul“ genannt. In Istanbul wiederum gibt es Stadtteile, in denen das Leben dem in der deutschen Hauptstadt gleicht. In Vierteln wie Beyo?lu-Cihangir leben so viele Deutsche, dass man in manchen Straßen beinahe den Eindruck hat, in Prenzlauer Berg oder Berlin-Mitte zu sein.
Cornelia Reinauers Wohnung liegt ebendort, nur wenige Meter von der schicken Haupteinkaufsstraße Beyo?lus entfernt. 1981 reiste sie zum ersten Mal nach Istanbul. Die Stadtbibliothek in Kreuzberg hatte die gelernte Bibliothekarin damals an den Bosporus geschickt, um türkische Bücher einzukaufen. „Das war kurz nach dem dritten Militärputsch, eine schwierige Zeit hier“, erinnert sich Cornelia Reinauer. „Damals sah man in manchen Vierteln noch viele schwarz verhüllte Frauen auf den Straßen, als Touristin wurde man schief angeguckt, immer und überall war das Militär präsent.“ Trotzdem sei sie tief beeindruckt gewesen von der Stadt und deren Bewohnern. „Ich wusste: hier will ich irgendwann mal länger bleiben.“ Der Wunsch hat sich nun erfüllt.
Situation in Türkei spiegelt sich in Berlin wieder
Mindestens alle drei Monate reist Cornelia Reinauer nach Berlin, ihr Visum gilt nicht länger. Sie nennt sich selbst „eine Transmigrantin zwischen zwei Welten“. Heimat sei nun beides, Berlin wie auch Istanbul, Kreuzberg wie Beyo?lu. Die ehemalige Politikerin engagiert sich ehrenamtlich für den Austausch, für die Partnerschaft, zum Beispiel beim Kreuzberger Migranten-Sportverein Türkiyemspor. Aber auch im Bereich Kunst und Kultur – als Mitglied des Präsidiums der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin versucht sie, Künstler und Kuratoren aus Deutschland und der Türkei zusammen zu bringen.
Auch auf anderen Ebenen funktioniert die Zusammenarbeit: Nachdem in Kad?köy 2002 das erste Frauenhaus Istanbuls gegründet wurde, standen Berliner Expertinnen mit Rat und Tat zur Seite, Mitarbeiter von Jugend- und Migrantenprojekten tauschen regelmäßig Erfahrungen aus. Trotzdem, Cornelia Reinauer findet: „Insgesamt könnte mehr getan werden.“ Die Städtepartnerschaft müsse besser genutzt werden, „gerade auch auf politischer Ebene“. Fehler wie beim Thema Stadtsanierung könnten verhindert werden, wenn man nur effizient zusammenarbeiten würde. „Da fehlt aber wohl der echte Wille.“
Auch bei den Themen Migration und Integration könne man stärker kooperieren. „Die politische Situation in der Türkei, beispielsweise für die Kurden und andere Minderheiten, spiegelt sich in Berlin wider“, sagt Cornelia Reinauer. Berlin und Istanbul seien beide multiethnische Großstädte. So ist Istanbul seit Jahren Hauptziel von Inlandsmigranten, offiziell leben am Bosporus 12,5 Millionen Einwohner, in Wirklichkeit dürften es bis zu 20 Millionen sein. Die Menschen, oft ohne Ausbildung und völlig mittellos, setzen all ihre Hoffnung in einen Neunanfang - immerhin werden allein im Großraum Istanbuls 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet. In Istanbul steckt die ganze Türkei, die Stadt ist multikulturell. Am Bosporus treffen nicht nur geografisch Europa und Asien aufeinander, deshalb sind Zuwanderung und Integration große Themen.
"Es ist hier alles noch sehr autoritär"
Ausländern gegenüber aber, so ist zumindest Cornelia Reinauers Empfinden, sind die Istanbuler „offen und unglaublich freundlich – vor allem, wenn man sich bemüht, ihre Sprache zu sprechen.“ Cornelia Reinauer kann sich mittlerweile gut auf Türkisch verständigen, hat viele türkische Freunde und Bekannte und fühlt sich integriert.
Wenn auch nicht amtlich, die Politik kann sie dann doch nicht ganz lassen. So diskutiert sie in verschiedenen Initiativen Themen, die ihr am Herzen liegen: Bürgerbeteiligung, Emanzipation, soziale Gerechtigkeit. Die Stimme von Bürgerinitiativen haben aber in der Türkei zurzeit noch kein großes Gewicht, „es ist hier alles noch sehr autoritär“, sagt Cornelia Reinauer. Aber die Transmigrantin ist optimistisch. Seit 1981 habe sich die Stadt sehr gewandelt. Heute ist Istanbul eine moderne, weltoffene Metropole wie London oder Paris – lebendig, chaotisch, vielfältig. „Man muss das aushalten können“, sagt Cornelia Reinauer. Die Entwicklung in Großstädten sei letztendlich überall auf der Welt gleich. Gerade deshalb könne eine Städtepartnerschaft auch eine große Chance sein.
Sie jedenfalls fühlt sich wohl zwischen den beiden Welten, die immer mehr verschmelzen. Sie kann sich vorstellen, noch lange so zu leben, für immer Berlinerin und Istanbulerin zu sein.