Der Dichter war schwer beeindruckt: „Ja, Freund, hier unter den Linden / kannst du dein Herz erbaun, / Hier kannst du beisammen finden / die allerschönsten Frau'n“, reimte Heinrich Heine 1822 nach einem Besuch der preußische Residenz über deren Prachtboulevard. Heute flanieren hier nicht mehr die hübschen Berlinerinnen; stattdessen sind es ungezählte Touristen, die Tag für Tag die knapp anderthalb Kilometer vom Brandenburger Tor zur Museumsinsel und zurück schlendern. Der Boulevard Unter den Linden ist die bekannteste Straße Deutschlands und gehört mit den Champs-Élysées in Paris und der Fifth Avenue in New York zu den namhaftesten Adresse der Welt.
An den „Linden“ kann man aber auch die wechselvolle Geschichte Berlins ablesen wie wohl an keiner anderen Straße. Das zeigt ein neues Buch, das dieser Tage ausgeliefert wird. Ulrich Giersch vom Plakat- und Kartenverlag Panorama Berlin hat die schönsten Ansichten und Karten der Prachtstraße aus den mehr als 350 Jahren als Buch herausgegeben. „Unter den Linden in Berlin“ heißt der Band schlicht, der auf eine Idee des Stadthistorikers Hans-Werner Klünner zurückgeht. Doch Klünner starb 1999 während der Arbeit an dem Projekt. Der Stadtführer Ralph Hoppe hat nun, ein gutes Jahrzehnt später, Klünners Arbeit vollendet und auf den neuesten Stand gebracht.
Denn einerseits gibt es kaum eine Stelle in Berlin, die an die Pracht der alten, wilhelminischen Metropole so sehr erinnert wie das Forum Fridericianum mit Staatsoper, Humboldt-Universität und „Kommode“, also der vormaligen Königlichen Bibliothek und heutigen Juristischen Fakultät. Andererseits haben sich die größeren Teile der „Linden“ in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. So ist es gut, dass Hoppe alle Gebäude gleich doppelt erläutert – einmal nach dem Stand von 1928 und einmal nach gegenwärtiger Nutzung.
Lindenrolle und weniger Bekanntes
Natürlich enthält der neue Bildband berühmte, auch andernorts vielfach publizierte Darstellungen wie die Lindenrolle von 1820, in der ein anonymer Zeichner den Boulevard festhielt, wie beispielsweise Karl-Friedrich Schinkel ihn kannte. Doch viel spannender sind die wenig bekannten Ansichten, die Klünner einst entdeckt hat – etwa die Panoramazeichnung von Rudolf Meinhardt, angefertigt um 1870, die das idyllische östliche Ende des Boulevards (der damals noch nicht offiziell „Unter den Linden“ hieß) zeigt. Oder die 40 Jahre jüngere Vogelschau-Perspektive, auf der die massiven Veränderungen der Kaiserzeit sichtbar werden: der neue Dom aus der Spreeinsel zum Beispiel und die Kaisergalerie zwischen Friedrich- und Behrenstraße sowie den „Linden“. Doch der riesige Neubau der Staatsbibliothek ist auf dieser Ansicht nur angedeutet, da Ernst von Ihne ihn erst 1913 fertigstellte.
Zu einer Zeitreise laden die beiden „Wegweiser“ zu Geschäften Unter den Linden ein, die aus einem Pharus-Stadtführer „Auf Schritt und Tritt“ von 1910 und aus der offiziellen Broschüre „Berlin und Du“ von 1939 stammen. Direkt danach hat Giersch ein Luftbild der „Linden“ von 1953 montiert. Nur noch knapp die Hälfte der Bebauung steht, viele mittel- und schwer zerstörte Gebäude sind bereits abgerissen, die Grundstücke enttrümmert worden. Ein weiteres Luftbild von 1992 zeigt den Zustand, in dem der Boulevard in die deutsche Einheit ging. Die neueste Luftaufnahme von 2008 und eine Zeichnung vom voraussichtlichen Stand 2012 illustrieren, wie sehr sich der Boulevard in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert hat.
Für Besucher sind sicher die zahlreichen Ansichten und Stadtpläne die spannendsten Teile des schmalen Bildbandes. Der Einheimische aber zieht am meisten Gewinn aus der Gebäude-Beschreibung Haus für Haus. So erzählt Ralph Hoppe zutreffend die selbst stadthistorisch interessierten Berlinern nicht bekannte Geschichte vom „Niederländischen Palais“ (ehemals Unter den Linden 58), auf dessen Grundstück (heute mit der Nummer 51) in den Sechzigerjahren der wohl „älteste Neubau“ Berlins entstand: Der Architekt Fritz Meinhardt errichtete seinen Entwurf im barocken Stil, angereichert mit Bauschmuck des 1967 gesprengten „Gouverneurshaus“ neben dem Roten Rathaus und aufgewertet mit einer frei erfundenen Freitreppe. Es sind (Wieder-)Entdeckungen dieser Art, die den Bildband von Hans-Werner Klünner und Ralph Hoppe so unterhaltsam machen.
Hoppe, Rolf/Klünner, Hans-Werner; „Unter den Linden“ in Berlin – Panoramen * Pläne * Perspektiven; Panorama Berlin, 80 Seiten, viele Abbildungen in Farbe, 14,80 Euro.