Zur Eindämmung der Hartz-IV-Klagewelle hat das größte deutsche Sozialgericht in Berlin die Wiedereinführung der gestrichenen Gerichtsgebühren für Jobcenter gefordert. Dieser Schritt könne einen wirkungsvollen Anreiz zur außergerichtlichen Streitbeilegung schaffen, sagte Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma.
Bis Mitte 2006 mussten Jobcenter wie andere Behörden pauschal 150 Euro Gebühren für jedes Sozialgerichtsverfahren bezahlen, an dem sie beteiligt waren. „Es verwundert, dass sich gerade die Behörde mit den höchsten Klagezahlen nicht mehr an den Kosten beteiligen muss“, sagte Gerichtspräsidentin Schudoma.
Seit Start der Reform vor sechs Jahren gingen am Berliner Sozialgericht nach eigenen Angaben insgesamt rund 117.000 Hartz-IV-Klagen ein. Allein 2010 seien rund 32.000 neue Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide eingereicht worden. 2005 waren es knapp 7.000. Insgesamt rund 39.000 Verfahren seien derzeit beim Sozialgericht noch ohne Entscheidung, darunter rund 23.000 Hartz-IV-Verfahren. „Das Gericht müsste ein Jahr schließen, um diesen Aktenberg abzuarbeiten“, sagte Präsidentin Schudoma.
80 Prozent der Berliner Hartz-IV-Verfahren würden ohne Richterspruch erledigt. „In vier von fünf Fällen wird der Richter zum Schlichter“, sagte sie. Von derzeit 126 Richtern des Berliner Sozialgerichts seien 70 ausschließlich mit Hartz-IV-Verfahren beschäftigt. Jeder der Berliner „Hartz-IV-Richter“ habe im Durchschnitt 439 Verfahren abgeschlossen. 2004 hatte das Gericht nur 60 Richter.
Nach Auffassung des Justiziars der Bundestagsfraktion der Linken, Wolfgang Neskovic, gehört Hartz IV komplett abgeschafft. „Wenn mehr als 40 Prozent aller gegen Hartz IV gerichteten Klagen Erfolg haben, dann ist das ein untrügliches Indiz für eine miserable gesetzgeberische Arbeit“, sagte er. Die Hartz-IV-Gesetzgebung sei ein „Konjunkturprogramm für die juristische Industrie“. Sie produziere Arbeitsplätze für Sozialrichter und Rechtsanwälte, aber nicht für die Betroffenen.
Der Grünenpolitiker Markus Kurth forderte hingegen vom Gesetzgeber, das Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) zu überarbeiten, um die Rechtssicherheit zu vergrößern. Außerdem liege es nahe, dass die Rechtsanwendung in den Jobcentern verbesserungswürdig sei, sagte der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion.
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach warnte unterdessen davor, die Kommunen Pauschalbeträge für Miet- und Heizkosten festlegen zu lassen. Es drohten Kürzungen beim Existenzminimum, neuer Rechtsstreit und damit eine neue Prozesswelle vor den Sozialgerichten, sagte sie. Kommunen würden mit dem Gesetz dazu verführt, Unterkunftskosten zu senken, um ihren Haushalt zu entlasten. Buntenbach forderte den Vermittlungssausschuss von Bundestag und Bundesrat zur Hartz-IV-Reform auf, die Möglichkeit der Pauschalierung aus dem Gesetzentwurf zu streichen.
Anfang Januar hatte der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Brandenburger Landtag, Danny Eichelbaum, bereits die Einführung einer Gebühr gefordert – allerdings für Hartz-IV-Empfänger. "Es gibt viele offensichtlich unbegründete Klagen von ALG-II-Empfängern, sagte er damals. „Gerichtsgebühren würden die Hemmschwelle senken, die Sozialgerichte mit der Einreichung erfolgloser Klagen zu überschwemmen", sagte Eichelbaum.
Schudoma wies nun aber darauf hin, dass etwa jede zweite Klage zugunsten von Hartz-IV-Beziehern ausgehe. „Die Hartz-IV-Klagewelle ist keine Wutwelle“, sagte sie. Am Gericht entlade sich keine allgemeine Empörung, sondern es gehe um konkrete Ansprüche. „Fälle von Sozialbetrug sind die krasse Ausnahme“, sagte die Gerichtspräsidentin. In den Hartz-IV-Klagen gehe es oft um die Anrechnung von Einkommen, Kosten der Unterkunft und Verletzung von Bearbeitungsfristen.