Ende Januar ist Berlin mit der Mercedes-Benz Fashionweek wieder die deutsche Modehauptstadt. Dann werden Tausende verfolgen, was Mary Scherpe vom Catwalk berichtet und zeigt. Morgenpost Online besuchte die bekannte Mode-Bloggerin an ihrer Berliner Lieblingsecke.
Berlin hat sich für diesen Tag in sein schönstes weißes Kleid gehüllt. Der Treptower Park liegt verschneit und still da. Eisiger Wind, Sonne, glitzernder Schnee, aus dem vereinzelte kahle Baumstämme ragen. Ein Ort zwischen Hauptverkehrsstraße und S-Bahn-Gleisen, zu dem das Wort „Idyll“ passt. Wir haben uns dick eingepackt für unseren Spaziergang, Mary Scherpe trägt Strickpulli, Wollrock und Lammfellmantel. Nicht weiter wichtig, könnte man meinen, Kleidung für Minusgrade eben. Aber: Mary Scherpe ist Stilvorbild. Als eine der bekanntesten deutschen Mode-Bloggerinnen ist sie Kritikerin, Richterin, Maßstab in Sachen Mode.
Vom 19. bis zum 22. Januar ist Berlin mit der Mercedes-Benz Fashionweek 2011 wieder die deutsche Modehauptstadt. Auf dem Bebelplatz werden Designer aus dem In- und Ausland ihre Kollektionen zeigen – und Mary Scherpe wird quasi direkt vom Catwalk aus im Internet darüber bloggen. Tausende werden das lesen. Nicht jede Schau interessiere sie, sagt sie, auf jeden Fall aber wolle sie zu den Berlinern Michael Sontag und Vladimir Karaleev.
Dass Mary Scherpe mal von Designern in der Front Row, der beliebten ersten Publikumsreihe bei einer Modenschau, platziert wird oder für Designer Karaleev dessen Sommerkollektion 2010 fotografieren würde, damit hätte sie noch vor ein paar Jahren selbst nicht gerechnet. Auf einem alten Bauernhof in einem 400-Einwohner-Dorf bei Oschatz, einer sächsischen Kreisstadt zwischen Leipzig und Dresden, verbrachte sie ihre Kindheit. Mode spielte dort keine Rolle, getragen wurde, was eben da war, was praktisch war für das Leben auf dem Land. Vieh gab es auf dem Hof damals zwar keines mehr, „aber Tiere hatten wir immer viele“, sagt Mary Scherpe. Hunde, Katzen, Kaninchen, ein paar Hühner und Enten, manchmal auch Schweine. Zwischen Kuhstall und Kornfeldern sei sie aufgewachsen. Es gab einen großen Garten mit Gemüsebeeten, und geschlachtet wurde auch – „Ich bin mit Hirn und Nieren und Wurstsuppe aufgewachsen“, sagt sie und lacht. Das ist lange her, es war eine andere Welt.
Wir gehen am weißen Spreeufer in Richtung Insel der Jugend, vorsichtig, weil der gefrorene Boden ziemlich glatt ist. Im Sommer sind hier die Wiesen am Wasser voller Menschen, man liegt auf Decken, grillt, hört Musik, nüchtert die letzte Partynacht aus. Jetzt stehen da bloß zwei Schneemänner, leicht ramponiert, mit Blick auf Stralau. Ein paar Spaziergänger führen ihre Hunde aus. Die hippen Szeneleute sind momentan an anderen Orten. Mary Scherpe macht Fotos mit dem iPhone. Sie geht am Ufer in die Hocke, blinzelt. „Gott, ist das ein schöner Tag.“ Wenn ihr die Sonne, so wie jetzt, ins Gesicht scheint, leuchten ihre hübschen grünen Augen, die Ponyfrisur ist ein bisschen vom Wind zerzaust. Sie sieht ein wenig blass aus, zufällig und unbewusst schön.
Langzeitstudentin mit Geschäftsidee
Die ersten drei Jahre in Berlin wohnte sie ganz in der Nähe, Alt-Treptow an der Grenze zu Kreuzberg, dann zog sie nach Mitte. „Ich wusste, das hier wird mir am meisten fehlen: dieser riesige Park“, sagt sie, hält noch einmal kurz an, guckt sich um. „Irgendwann kaufe ich mir einen alten Bauernhof und richte mir das da ein“, sagt sie. „Ja, das ist der Plan.“ Sie lacht. Wir gehen weiter.
Der Plan muss noch recht frisch sein. Noch in der Oberstufe habe sie sich nur fort gesehnt, raus aus dem Dorf, erzählt sie. Fotografin wollte sie damals werden, wie ihr Onkel. Irgendwie kam es nicht dazu, die Kamera von damals landete in einer Schublade, und sie selbst zog nach Karlsruhe, studierte Wirtschaftsinformatik und Kunstgeschichte, wechselte mehrfach die Fächer. Irgendwann wurde Karlsruhe zu klein, 2003 also Berlin, zur Kunstgeschichte belegte sie noch Japanologie. In diesen Tagen macht sie ihre Abschlussprüfungen. Sie lacht: „Ich bin eine richtige Langzeitstudentin.“
Nach ihrem Umzug sei sie erst einmal „in die typische Berlin-Starre“ gefallen. „Da habe ich einfach nichts gemacht.“ Die große Stadt, all die Menschen, die Kunst, die Trends. Zu viel Input, um sich auf das Studium zu konzentrieren. In dieser Zeit sprach alle Welt von Bloggern, jungen Menschen, die im Internet Tagebuch führten oder Medien/Musik/Mode kommentierten. Sie kannte Seiten in Finnland und Japan, auf denen über den Style der Straße berichtet wurde, da wurden Fotos von Normalos in verrückten Klamotten gepostet, und Hunderte User kommentierten. Sie dachte: „So was muss man jetzt sofort auch machen, sonst tut es nächste Woche jemand anderes.“ Mode war Spaß und das Internet die Plattform.
In ihrem vierten Berlin-Jahr gründete Mary Scherpe also ihren eigenen Mode-Blog. Die Website programmierte sie selbst, „das war nicht so schwer“, sagt sie. In dieser Zeit nahm sie ihren Traum, als Fotografin zu arbeiten, wieder auf. Die Technik hatte sich verändert, mit der alten Analogkamera konnte sie nichts mehr anfangen, kaufte sich eine digitale Spiegelreflex. Jede Woche zog sie durch die Straßen, hauptsächlich in Kreuzberg und Mitte, weil man dort leichter Leute mit interessanten Outfits findet als etwa in Steglitz. Am 17. März stellte sie das Foto einer jungen Frau in Karorock, orangefarbenem Halbmantel und grüner Mütze auf ihre Seite. Es folgten weitere Bilder, manche ein wenig verwackelt, von der anderen Straßenseite aus fotografiert, Schnappschüsse. Das war der Anfang. Da war es noch ein Experiment, sagt sie.
Zwei Monate später berichtete ein US-amerikanisches Online-Magazin über das Phänomen Street-Style-Blogs, aus der ganzen Welt wurden sechs oder sieben vorgestellt, „Stil in Berlin“ war eines davon. „Plötzlich hatte die Seite 200 Besucher am Tag, das fand ich total irre“, erinnert sich Mary Scherpe. Im darauffolgenden Jahr wurden ihre Straßenfotos im Postfuhramt ausgestellt, von da an wuchs die Zahl ihrer Leser rasant.
Mittlerweile gibt es weitere Rubriken. Die Bilder auf der Straße macht jetzt meist Dario Natale, ein Fotograf, der im Januar 2009 bei „Stil in Berlin“ eingestiegen ist. Es sieht alles professioneller aus, Mary Scherpe besucht für ihre Serie „At home“ Berliner zu Hause, fotografiert sie vor dem heimischen Bücherregal oder in der durchgestylten Küche, es sind jetzt nicht mehr nur die Klamotten, die den Stil in Berlin ausmachen. Die Zahl der Besucher pro Tag liegt jetzt bei fünf- bis sechstausend, bei Facebook hat „Stil in Berlin“ 19000 Fans, „jeder Beitrag wird um die 50000 Mal angeschaut“, sagt sie. Von der Online-Werbung auf ihrer Seite können außer Dario Natale noch zwei weitere Mitarbeiter bezahlt werden.
Wir überqueren die Puschkinallee und gehen zum zugefrorenen Karpfenteich. Sie holt wieder ihr Mobiltelefon aus der Manteltasche. Später sehe ich, dass sie mehrere Schnappschüsse auf der „Stil in Berlin“-Facebook-Seite gepostet hat. „Very recommendable: a walk through treptower park“, hat sie darunter geschrieben. 135 Personen „gefällt das“, eine Userin namens Nina Himbeerpudding kommentiert: „wie schön“. Man kann sagen, dass Mary Scherpe eine riesige Fangemeinde hat. Ob sie ein Foto von einer Modenschau postet, eines von einem Stück Wiener Apfelstrudel (Silvester war sie bei Freunden in Wien) oder Fotos von kahlen Bäumen inmitten einer Winterlandschaft – immer klicken Hunderte auf den „Gefällt mir“-Button, kommentieren („WOW, now i wanna have strudel, too“) und generieren so noch mehr Aufmerksamkeit.
Mode als Statement
„Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich aufpassen muss, mir eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren“, sagt sie. „Es ist natürlich sehr verlockend, man will immer mehr Leser, und um die zu bekommen, muss man immer mehr produzieren.“ Deshalb aber Outfits zu fotografieren, die man „so ganz okay“ findet, aber eben nicht super? „Es gab einen Punkt, an dem ich entscheiden musste: Wo geht's hin?“ Mary Scherpe entschied sich gegen die Masse und für die Langsamkeit, im positivsten Sinne. „Ich habe beschlossen, ich mache so weiter wie bisher, es gibt eben nur zwei Fotos die Woche und nicht 20.“ Sicherlich könnte sie mit noch mehr Fotos, mit noch mehr Inhalt und noch mehr Werbung noch mehr Geld verdienen, doch Mary Scherpe ist Glaubwürdigkeit wichtig. Trotzdem, „Stil in Berlin“ ist längst kein Experiment mehr. Es gibt Nachahmer, etliche, das Urteil von Bloggern hat mittlerweile auch in der Medien- und Modewelt Gewicht.
Doch der Erfolg des Blogs hat auch mit der Stadt, in der sie lebt, zu tun. Nirgendwo sonst in Deutschland könne sie sich vorstellen, so etwas zu machen, sagt sie. Was den Berliner Stil ausmache? Die Hauptstädter liefen heute modischer herum als früher, Kleidung sei noch wichtiger geworden, als sie ohnehin schon war. Und internationaler, „weg vom Berliner Schluffi-Stil“. „In Berlin gab es schon immer den gnadenlosen Willen zur Entspannung und Unaufgeregtheit – den gibt es immer noch, Gemütlichkeit steht bei vielen ganz oben an.“ Am Kleidungsstil sei zu erkennen, dass die Leute hier nicht so viel Geld haben.
Sie selbst möge einfach schöne Dinge. Aber auch bequeme Kleidung. „Mein Stilmotto im Moment ist: Rausgehen und sich trotzdem so fühlen, als hätte man die Bettdecke noch um.“ Bequem, aber stillos findet sie Skihosen und Funktionsjacken. „Das erschließt sich mir nicht, es ist doch absurd, so etwas in der Stadt zu tragen.“ Sie lacht. Vor uns geht ein Funktionsjacken-Pärchen im Partnerlook. „Da bin ich nicht dafür.“ Kleidung ist Ausdrucksmittel, findet sie. „Eines, mit dem ich mich an die Umgebung anpasse oder eben nicht.“ Viele Männer in Deutschland tragen schlechte Anzüge, da sind wir uns einig. „Weil sie damit ausdrücken wollen, wie blöd sie es finden, Anzüge tragen zu müssen“, glaubt Mary Scherpe. Ich muss an die Männer in der Bahn morgens denken. Da sieht man Sakkos in Bordeauxrot und Senffarben, Goldknöpfe, Zweireiher, herausstehende Schulterpolster, zerknitterte Anzughosen, zu kurze Hosenbeine, helle Socken. Die Liste der Geschmacklosigkeiten ist lang. Vielleicht fehlt vielen auch einfach ein gewisses Stilbewusstsein? Mary Scherpe schüttelt den Kopf: „Ich glaube, die machen das extra.“
Die Leute auf der „Stil in Berlin“-Seite tragen ganz unterschiedliche Outfits. Nicht alle verschönern unbedingt. Stil, Schönheit, Ästhetik – ist Mode immer schön? Nein, sagt Mary Scherpe. Das definiere der Geschmack. „Es gibt sicher Sachen, die ich schön finde, aber andere nicht.“ Mode mache einfach Spaß.
Wir sind am Sowjetischen Ehrenmal angekommen. Sie setzt sich auf eine Steinbank, hinter ihr die kahlen Bäume, von der Sonne golden. Der Fotograf ruft: „Schön, ja, super, und jetzt lächeln, so ist's gut!“ Auf Street-Style-Bildern stehen die Leute meist etwas unschlüssig, wie gerade mal kurz stehen geblieben, da. Bildsprache und Ästhetik werden mittlerweile von Hochglanzmagazinen kopiert, die gesamte Modefotografie wurde vom Phänomen Street-Style-Blog beeinflusst.
Eine Stunde ist vergangen. Eine Stunde im verschneiten Idyll, wir frieren, trotz Wolle und Winterstiefeln. Mit Mode könne man viele verschiedene Bilder schaffen, sagt Mary Scherpe. „Mode ist etwas, dem sich niemand entziehen kann. Jeder muss sich anziehen. Selbst Leute, die sagen, ‚Ich bin unmodisch' oder ‚Ich interessiere mich nicht dafür', machen damit eine Aussage.“ In Deutschland hätten viele junge Leute Angst, als mode- oder trendbewusst zu gelten. „Selbst diejenigen, die etwas mit Mode zu tun haben, sind total vorsichtig bei allem, was als Trend gilt. Das finde ich schade.“ Sobald sich jemand mit Kleidung beschäftige, sagt Mary Scherpe noch, würden viele denken, der habe ja wohl zu viel Zeit.
Unser Spaziergang ist zu Ende. Ob es etwas (abgesehen von Funktionsjacken) gebe, das sie niemals für ihren Blog fotografieren würde? Sie klingt jetzt resolut. „Palitücher. Nie und nimmer.“ Es sei „absurd“, die als Palästinensertücher bekannt gewordenen gemusterten Halstücher zu tragen. „Viele tun das ja nicht als politisches Statement, sondern weil sie es schön finden. Das ist dämlich.“ Mode ist eben doch viel mehr als Anziehen, sie kann auch politisch sein.