S-Bahnhof

Ein Fotograf setzt dem Ostkreuz ein Denkmal

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Markus Falkner und Uta Keseling

Rolltreppen und Aufzüge statt Rumpelpflaster, Glas und Stahl statt rostigem Eisen: Das Ostkreuz, Berlins marodester Umsteigebahnhof, wird umgebaut. Doch was für die einen die längst überfällige Modernisierung ist, sehen andere mit Wehmut. Der Göttinger Amateur-Fotograf Ralf Heppel hat den Bahnhof viele Jahre begleitet.

Ralf Heppel (49), von Beruf IT-Organisator, Vater dreier Kinder, hat das Ostkreuz 1998 zufällig beim Umsteigen für sich entdeckt. "Es war mein erster Besuch im Ostteil Berlins nach dem Mauerfall. Es war, als sei die Zeit dort stehen geblieben. Ich sah diesen alten Wasserturm, das viele Grau und den maroden Zustand der gesamten Anlage." Aus der flüchtigen Begegnung wird eine Liebe über Jahre. Manchmal hat er beruflich in Berlin zu tun, andere Male besucht er Freunde und macht nebenbei Fotos von dem Bahnhof, der sich nach und nach verändert. Dann wieder nimmt er den Weg von Göttingen nach Berlin auf sich nur für ein Rendezvous mit "seinem" Ostkreuz, das ihn mit immer neuen Stimmungen erwartet.

Mal wirft das grün-weiße "S" bleiches Licht über regennasses Kopfsteinpflaster, mal verleiht die Abendsonne den Wartenden Heiligenscheine. Heppel verliebt sich in Details wie die altmodischen roten Signalknöpfe, den Obststand, der nachts wie eine Fata Morgana durch das düstere Durcheinander der Gleise scheint. "Und dann all die Menschen, deren Wege sich hier kreuzen", schwärmt Heppel. Er fotografiert Punker, Inder, Krankenschwestern, Menschen mit Büchern und ein Paar, das sich innig umarmt: So ist Berlin.

Bis 2016 soll das technische Wunderwerk von vorgestern ein Verkehrsknoten für übermorgen werden. So sieht in den Simulationen die Zukunft aus. Ein moderner Umsteigebahnhof, denn neben S-Bahnen sollen künftig auch Regionalzüge am Ostkreuz halten. 411 Millionen Euro lässt sich die Deutsche Bahn das kosten.

Die Verwandlung hat längst begonnen. Seit 2006 gehören Bauarbeiter zum Alltag wie die hetzenden Umsteiger. Die alte Fußgängerbrücke mit ihren zersplitterten Glasscheiben, den Spinnennetzen, den gekritzelten Liebesschwüren und Flüchen ist einem provisorischen Zweckbau gewichen. Gleich neben dem alten Ringbahnsteig ist eine neue Plattform entstanden, an der später einmal die Regionalzüge, in den nächsten Jahren aber erst einmal die S-Bahnen halten sollen. Der mehr als 100-jährige Bahnsteig F wird als erster den Abrissbaggern zum Opfer fallen - ab Ende September. Erstmals sollen die Anwohner dann durch eine vier Meter hohe und 80 Meter lange Wand vor dem Baulärm geschützt werden.

Denn lautlos verschwindet keines der Relikte der Eisenbahngeschichte. Selbst mit der Wand, die die Bahn aus gebrauchten Lärmschutzplatten aufbauen lässt, seien die Arbeiten wohl "nicht zu überhören", sagt der zuständige Bahnsprecher. Ob die Anwohner - wie zuletzt 2008 - versuchen werden, die Arbeiten durch Klagen aufzuhalten, ist offen. Es geht um Lärm, um Ausnahmegenehmigungen, und es geht um die Frage, was die Ruhe von wenigen Hundert gegen den Fahrkomfort von Hunderttausenden wert ist. Nächtlicher Baulärm sei keine Ausnahme, sondern die Regel, kritisiert ein Anwohnersprecher. Ohne Nachtarbeit wären viele Gleissperrungen am Tage nötig, betroffen wären täglich mehr als 300 000 Reisende, kontert die Bahn.

Lautlos verändern nicht einmal die Linien der S-Bahn ihre Streckenführung. Ab heute halten schon die Ringbahnzüge in Richtung Frankfurter Allee am neu gebauten Regionalbahnsteig. Rumpelnd rollten Schotterzüge am Wochenende über die Baustelle, weil die Gleise auf den neuen Bahnsteig "verschwenkt" wurden. Eine Prozedur, die sich in zwei Wochen wiederholen wird. Vom 14. September an werden auch die Fahrgäste Richtung Treptower Park dort ein- und aussteigen. Bis 2012 soll das so bleiben: Erst dann wird der neue Ringbahnsteig fertig.

Ein Provisorium, wie so vieles an der Baustelle Ostkreuz. Bevor in gut drei Jahren eine 132 Meter lange Halle den neuen Ringbahnsteig überspannt, müssen sich die Reisenden bei Regen in sechs Wartehäuschen quetschen. Bis Mitte November 2009 sollten Umsteiger zudem gut zu Fuß sein. Weil der neue Bahnsteig noch keine Treppen zur unteren Ebene hat, führt der Weg von der Ring- zur Stadtbahn in geschätzten zehn Minuten um den Bahnhof herum und über die provisorische Fußgängerbrücke.

Neue Südkurve erst in fünf Jahren

Nostalgiker mögen das als letzte Reminiszenz an den bizarrsten Umsteigeweg des alten Ostkreuzes empfinden. 69 ausgetretene Stufen und etliche Meter holpriges Kopfsteinpflaster lagen zwischen den Bahnsteigen der Ringbahn und der Linie S 9, letzterer unkrautüberwuchert, mit ruinösem, längst verlassenen Aufsichtshäuschen. Auch dieser Weg ist Geschichte.

Der Bahnsteig A, die Südkurve, auf der die Züge quietschend von der Stadt- auf die Ringbahn schwenken und so den Flughafen Schönefeld mit der Innenstadt verbinden, sie sind die ältesten Teile des Bahnhofs. Auch sie werden in den kommenden Monaten verschwinden. Ab heute fährt die S 9 über den Ostring nach Blankenburg. Erst in fünf Jahren soll die neue Südkurve fertig sein. Der alte Bahnsteig A wird nicht wieder aufgebaut.

Keine Nachtigallen mehr an Gleis A

Fotograf Ralf Heppel bedauert das Verschwinden des alten Bahnhofs sehr. "In Frühlingsnächten konnte man an Gleis A sogar Nachtigallen singen hören, so leise war es", erinnert er sich. "Und die Natur hat sich immer weiter ausgebreitet. Dort wächst sogar Wein!" Manchmal, wenn er dort auf das letzte Abendlicht wartete oder den ersten Streif am Horizont, kamen andere Fotografen hinzu, "oder es trafen sich Paare dort, um allein zu sein. Das Ostkreuz ist ein magischer Ort!"

Demnächst wird sich Heppel wohl ein anderes Objekt der Fotoliebe suchen müssen. Vielleicht die verwinkelten Fachwerkgässchen seiner Heimatstadt Göttingen, deren schiefe, verschossene Häuschen einen ähnlichen Beschützerinstinkt hervorrufen wie das knarzende Ostkreuz in Berlin: Die ersten Bilder hat er schon gemacht.

Den Berliner Bahnhofsumbau sieht er mit Zweifel. "Am Ende wird nur ein weiterer stahlglasgrüner Konsumpalast mit Gleisanschluss entstehen, gesichtslos, aber praktisch", meint er. "Berlin geht ziemlich rabiat mit seinen architektonischen Zeitzeugen um."

Wer mit Heppel noch einmal vom Ostkreuz zurück in die Zeit reisen möchte, kann das seinem Fotoblog im Internet tun. 2004 hat er ihn eingerichtet und ihm einen Namen gegeben, der fast schon lyrisch klingt - und fast wie eine Grabinschrift: www.lostkreuz.de