Der große Mann liegt in seinem Bett, er schläft tief und fest, wie er es immer tut. Seine Familie ist bereits im Griechenland-Urlaub, er will bald nachreisen. Das Haus ist ruhig an diesem Sommermorgen in Berlin. Es ist der 4. August 1998. Keine Pflichten hat er heute, vom Job als Feuerwehrchef in Berlin mal abgesehen. Aber den kann er und wird dabei niemals hektisch, sondern erledigt ihn mit einer andere in den Wahnsinn treibenden Ruhe.
Es ist 6.05 Uhr, als eine Druckwelle ganze Teile von Steglitz erfasst. Sein Geist registriert die Vibrationen nicht, nur der Körper tut es, und am Abend wird sich Albrecht Broemme fragen, ob er es wirklich gespürt hat. Später, nachdem er hat sehen müssen, von dem er jetzt noch nichts weiß. Eigentlich hätte er noch eine Stunde Ruhe vor sich, als das Telefon ihn weckt. Kurz sieht er sich um und greift zum Hörer. „Herr Broemme“, sagt der Mann vom Lagedienst, „an der Lepsiusstraße muss es fürchterlich gerummst haben. Hier gehen unzählige Anrufe ein. Ein ganzes Haus ist zusammengesackt.“ Broemme denkt nicht nach, bittet um seinen Fahrer. Zeit für Kaffee und Toast bleibt keine, wenige Minuten später tritt er auf die Straße. „Wird warm werden“, denkt sich Broemme. Schon jetzt schwitzt er unter seiner schweren Einsatzjacke und dem Helm. Er geht ein Stück in die Richtung, aus der sein Fahrer kommen wird, und aus dem Kiosk schaut der Zeitungsverkäufer. „Mensch, Herr Broemme, Großeinsatz, dass Sie jetzt schon auf den Beinen sind in voller Montur?“ Der Feuerwehrchef sieht seinen Dienst-BMW. „Das werden Sie morgen in der Zeitung lesen können“, sagt er knapp.
Staub liegt auf Häusern und Autos
Der Fahrer tritt aufs Gas, Häuser und Bäume huschen an den Augen des Mannes vorbei, der Wagen passiert den Botanischen Garten, den Fichtenberg, die Grunewaldstraße, dann biegt er ein in die Lepsiusstraße. Broemme sieht, was da vor ihm liegt. Er atmet tief ein, bläht die Backen auf und stößt die Luft wieder heraus. Die Staubwolke hat sich noch nicht gesetzt, sie legt sich wie Pulverschnee auf Häuser und Autos, auf Passanten und seine Leute, die versuchen sich zurechtzufinden im Chaos aus Schutt und im Weg stehenden Gaffern. Broemme erkennt den Platz, wo das Haus stand, an dem er oft vorbeigefahren ist. Mehr zu sich selbst als zu seinem Fahrer sagt er: „Eine ADS-Lage.“ Der fragt: „Was meinen damit?“ „Eine Ach-Du-Scheiße-Lage.“
Knut Briesemeister schmiert zu selben Zeit Marmelade auf das Brot seiner sechsjährigen Tochter, macht Kaffee für seine Frau, die gerade duscht. Der Bereitschaftspolizist hat gute Laune. Durch die Fenster seiner Tempelhofer Wohnung strömt Wärme. Um 8 Uhr muss der 35-Jährige auf seiner Dienststelle an der Gallwitzallee in Lankwitz sein. Briesemeister liebt seinen Job. Obwohl Einsätze an vorderster Front am 1.Mai ebenso dazu gehören wie die Festnahme von Kneipenschlägern. Aber das hat er sich so ausgesucht, sagt er immer. Das Telefon klingelt. Er und seine Kollegen werden sofort gebraucht, ein Haus ist explodiert, sagt der Beamte am Telefon. Menschen sollen verschüttet sein. Briesemeister küsst Tochter Kira, ruft seiner Frau ein schnelles „Ich liebe Dich“ zu, dann ist er zur Tür raus.
Nur wenige Kilometer entfernt sitzt sein Freund und Kollege Markus Einsporn ebenfalls beim Frühstück, als der Anruf kommt. Einsporn ist 22 Jahre alt und Single. Er muss sich bei niemandem verabschieden, und wenn er den Tisch erst am Abend abräumt, stört sich niemand daran. Den Hörer hat er kaum aufgelegt, als die Haustür ins Schloss kracht.
Hunde sind im Einsatz
Im Chaos herrscht Ordnung. Die Einsatzkräfte spüren das. Jetzt ist sie wichtig, diese stoische Ruhe ihres Chefs. Ein Hektiker wäre das Letzte, was hier gebraucht wird. Broemme studiert Skizzen des Hauses, will erkennen, wo die Wohnungen lagen, bevor die Wände einstürzten. „Es sind Ferien“, denkt sich der große Mann. „Hoffentlich sind viele verreist.“ Einheiten aus Wilmersdorf und Schöneberg sind im Einsatz. Besteigen das Trümmerfeld und sind in Lebensgefahr. Jeder Stein kann nachgeben und den Weg in die Tiefe freigeben, und es riecht nach Gas. Broemme lässt bei der Gasag anrufen. Die Versorgung muss abgestellt werden. „Und wir brauchen Hunde“, ordnet er an.
Briesemeister und Einsporn treffen mit einem Großaufgebot von Bereitschaftspolizisten an der Lepsiusstraße57 ein. „Helme auf“, ruft ein Vorgesetzter, dann springt er aus dem Mannschaftswagen. Die anderen Polizisten folgen ihm. Noch weiß keiner genau, was eigentlich passiert ist. „Verdammter Staub“, denkt sich Briesemeister und schmeckt den Schutt auf den Lippen. Er riecht das Gas, sein Freund auch. Beide müssen ihre Funkgeräte abschalten, die Strahlung könnten neue Explosionen verursachen. „Alle Häuser rechts und links der Einsatzstelle sowie die gegenüberliegenden müssen evakuiert werden“, ruft der Vorgesetzte. „Beeilung, bevor uns das ganze Viertel um die Ohren fliegt.“ Die Beamten rennen in die Flure. „Aufmachen, Polizei, Sie müssen aus Ihrer Wohnung“, ruft Einsporn und trommelt mit den Fäusten gegen eine schwere Holztür. Keine Reaktion. „Entweder, es ist niemand da, oder der pennt“, denkt er sich, als er die Tür eintritt. Ein Mann liegt noch im Bett und erschrickt sich, als er den Beamten mit Helm und Waffe sieht. Der spricht nun sanfter. „Nebenan ist ein Haus eingestürzt, Gas strömt aus. Kommen Sie, schnell.“
Andere Mieter öffnen auf das Klopfen hin, ziehen sich hastig an. Briesemeister macht mit Kreide Kreuze an die Türen. Als Kennzeichnung dafür, dass die Wohnungen bereits evakuiert wurden. Dann steht er vor einer schweren Doppeltür. Sie wird nicht geöffnet. Briesemeister tritt sie auf, stürmt in die leeren Räume, und plötzlich ist es viel leiser. Er steht in einer Art Penthouse mit riesigen Panorama-Fenstern. In den großen Raum dringt der Lärm nicht so ein wie in die Flure. Der Polizeibeamte tritt an die Glasflächen heran, er steht genau über der Unglücksstelle. Das Haus, das dort einmal stand, ist verschwunden. Nur noch ein Schuttberg ist zu sehen. Wie Ameisen auf ihrem Haufen laufen die Retter darauf herum. Ein Anblick wie nach einem Bombenangriff bietet sich dem Familienvater.
Feuerwehrchef Broemme steht am Rand des Trümmerbergs und gibt Anweisungen. Eine Freifläche auf der anderen Straßenseite soll für den Schutt bereitgehalten werden, der nun per Hand abgetragen werden. Früher hat dort eine Tankstelle gestanden, nun wird der Platz als Ort für die Ermittlungen der Kriminalpolizei gebraucht. Auf der Suche nach der Unglücksursache werden sie später jedes Teil, jeder Stein, jedes Stück Wand begutachten. Ein Feuerwehrmann kommt angelaufen. „Herr Broemme, da ruft einer.“ Der große Mann stürmt auf den Steinberg, stützt sich mit den Händen ab, verhindert einen Fall. Die Spitzen der schweren Stiefel stoßen immer wieder gegen Steinbrocken. Er hastet zu der Stelle, von der aus der Mann um Hilfe ruft. „Ich wusste, dass es Überlebende gibt“, denkt sich Broemme. „Ich hab's gewusst.“
Mit einer Handvoll Kollegen entfernt der Feuerwehrchef die Trümmerteile, die den Mann verdecken, der Michael K. heißt und der im Bett liegend von der Explosion überrascht wurde. Nein, er sei nicht schwer verletzt, Schmerzen im Bein habe er, sonst nichts, sagt Michael K. Broemme und seine Leute können ihn noch nicht sehen. Aber sie sehen die Trümmerteile über ihren eigenen Köpfen, die an den wenigen noch stehenden Wandfragmenten hängen und bedrohlich hin und her schwanken. „Rufen Sie meine Mutter an“, sagt der Mann im Schutt. „Wenn die die Nachrichten hört, kommt sie sofort her und sorgt sich. Sagen Sie ihr, dass es mir gut geht.“ Broemme zückt sein Handy, wählt die Nummer, die Michael K. ihm sagt. Aber die Frau nimmt nicht ab. Der große Mann spricht ihr auf den Anrufbeantworter. Wenig später wird Michael K. gerettet. Er ist nur leicht verletzt. Broemme trifft die nächste Entscheidung: „Wir brauchen einen Kran, einen großen Kran. Und er soll schnell kommen, sonst ist hier von den anderen Einsatzfahrzeugen alles zugeparkt.“ Es ist 7 Uhr morgens.
Halten die Kellerdecken?
Briesemeister, Einsporn und ihre Kollegen bilden eine Kette, um die Ruine Stein für Stein abzutragen. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk (THW) haben den Einsatzkräften einen Pfad gezeigt, der genutzt werden darf. Alle anderen sind zu gefährlich. Denn noch immer ist nicht klar, ob die Kellerdecken gehalten haben. Noch immer besteht die Möglichkeit, dass der ganze Schuttberg noch tiefer abrutscht. Und alle mit sich zieht. Obwohl erst früh am Tag ist es heiß in den Einsatzanzügen. Die Helme rutschen auf den Köpfen hin und her, der Schweiß rinnt Rücken und Brust herunter. Aber sie leiden leise, sie wollen ja helfen. „Ich will wirklich helfen“, denkt sich Briesemeister, „aber ich will um Gottes willen keine Leiche finden müssen.“ Einsporn entdeckt einen Teddybären zwischen zwei Steinen. Ihm wird schlecht, er schluckt. Dann macht er weiter. Noch schneller, als vorher.
Zeitgleich mit den Einsatzkräften treffen auch Fotografen, Reporter, Fernsehjournalisten ein. Broemme kennt deren Geschäft. Und er weiß, dass die erst Ruhe geben, wenn sie ihre Bilder haben. Er geht zu dem Tross. „Wir werden Ihnen eine Stelle zuweisen, von der aus Sie Aufnahmen machen können.“ Und dann bestimmt. „Sie machen keine Bilder, sollten wir Leichen bergen. Ist das klar?“ Die Menge nickt. Auf der Einsatzstelle herrscht jetzt Totenstille. Die Polizisten, die Feuerwehrmänner, die Retter des Technischen Hilfswerk, sie alle flüstern nur noch. Niemand will den Hilferuf eines Verschütteten überhören, niemand das Wimmern eines Verletzten. „Was machen wir, wenn die Fernsehteams mit Hubschraubern kommen?“, fragt einer. Broemme nickt: „Sie haben recht. Wir lassen den Luftraum sperren.“ „Aber das ist auch die Einflugschneise für Tempelhof“, sagt ein anderer. „Dann müssen die eben in Tegel oder Schönefeld landen.“ Der große Mann ist ruhig. Aber er weiß, was er will. Wenig später ist der Flugraum gesperrt.
„Die Feuerwehr hat eine Mordslogistik“, denkt sich Briesemeister und trinkt dankbar das Mineralwasser, das ihm ein Feuerwehrmann gegeben hat. Die haben Wasser ohne Ende. Essentüten von McDonalds. Man teilt alles an diesem Tag. Körperkraft und Verpflegung. Einsporn beißt in einen Cheeseburger und ist sich in diesem Moment sicher, niemals zuvor etwas Besseres gegessen zu haben. Er weiß, dass mit jeder Stunde, die verstreicht, die Chance geringer werden lässt, noch Überlebende zu finden. Etwa das Kind, dessen Teddy er im Schutt gefunden hat. Er knüllt das Cheeseburger-Papier in die Hosentasche und geht nach der einen Minute Pause wieder an die Arbeit. Grimmig. Entschlossen, alles zu geben an diesem Tag. Ein Suchhund schlägt an. Endlich, ein Lebenszeichen. Notärzte werden zu der Stelle geführt, um schnell handeln zu können, wenn der Mensch gefunden wird. Der Hundeführer nimmt seinen „Kollegen“ zur Seite. Polizisten schieben die Steine zur Seite. Sie sehen keinen Menschen, sondern einen Hund, einen weißer Mischling. Verängstigt kauert er in der Dunkelheit. „Nur ein Köter“, ruft einer. „Ein Überlebender“, sagt Broemme.
Anwohner bringen Wasser
Die Anteilnahme der Menschen ist groß. Anwohner kommen mit Kuchen und Wasser. Andere bringen Handtücher und Schokolade. Broemme beobachtet den Kranführer. Ein schweres Teil nach dem anderen transportiert der aus der Unglücksstelle und hievt die Brocken auf die Container, die inzwischen zur Lepsiusstraße geliefert wurden. „Wie ein Chirurg arbeitet der“, denkt sich der Feuerwehrchef. „Wie ein großer Chirurg,.“
Firmen bieten ihre Hilfe an. Eine Rohrreinigungsfirma bringt eine lenkbare Minikamera für die Suche im Schutt. Mittlerweile ist die Mittagszeit überschritten und die Sonne brennt gnadenlos auf die Männer und Frauen nieder, die da in den Trümmern nach Überlebenden suchen. Der Polizeipräsident ist auf dem Weg, der Innensenator ist vor Ort, alle wollen sich ein Bild der Lage machen. Es wird immer klarer, dass die Ursache für die Katastrophe an den Gasleitungen liegen muss.
Mittlerweile ahnen Broemme und sein Stab, dass es kaum noch Hohlräume in den Trümmern geben kann. Zwei Polizisten stehen fassungslos vor einer breiigen Masse und bekommen von einem Feuerwehrmann erklärt, dass dies die Überreste von Ziegelsteinen seien. Dass diese sich durch die gewaltige Detonation aufgelöst haben. Zu Staub wurden.
Es ist gegen 16 Uhr, als die erste Leiche entdeckt wird. Eine Frau – sie muss von der Explosion überrascht worden sein. „Jetzt werden wir wohl niemanden mehr lebend finden“, fürchtet Knut Briesemeister. „Jetzt liegen nur noch Tote da unten.“ Er wird recht behalten.
Die Kriminalpolizei ist seit Stunden im Einsatz. Auf der Freifläche analysieren sie die Reste des Hauses Lepsiusstraße57. Sie gehen in die Knie und schieben Kleinstteile von rechts nach links. „Die werden schon wissen, was sie tun“, sagt einer. Die beiden Bereitschaftspolizisten machen eine kurze Pause und kippen literweise Wasser in sich hinein. Danach rauchen sie gemeinsam eine Zigarette. „Ist ja wichtig, was die da machen. Aber da gehe ich lieber zum Demo-Einsatz. Diese akribische Suche ist nichts für mich.“
Es wird früher Abend, die Sonne steht noch immer hoch, aber der Tag neigt sich dem Ende. An ein Ende der Arbeit ist aber noch lange nicht zu denken. Noch werden Menschen im Schutt vermutet. Solche, die sich vielleicht nur nicht melden können, weil ihnen etwas auf dem Mund liegt. Ohnmächtig sind. Kraftlos. „Wir werden noch Tage lang hier sein“, denkt sich Broemme. Er weiß, dass wahrscheinlich weitere Menschen gestorben sind. Dass ihnen nicht mehr geholfen werden kann. Diese Erkenntnis belastet den gläubigen Christen. Aber er ist zufrieden mit dem Ablauf des Einsatzes, mit dem Zusammenspiel zwischen THW, Feuerwehr, Polizei. Dann bespricht er sich wieder mit seinen Leuten. Es ist noch lange nicht vorbei. Gegen 23 Uhr wird die nächste Leiche gefunden.
Eine Stunde später lässt sich der große Mann nach Hause fahren. 18 Stunden war er auf den Beinen. Er könnte noch länger machen. Aber sein Stellvertreter ist ausgeruht. Hat noch einen klaren Kopf. Nach zu vielen Stunden kann man Fehler machen, falsche Entscheidungen treffen. Broemme taucht ein in die Ruhe seines Hauses. Stellt sich unter die Dusche. Dann trinkt er im Wohnzimmer ein Weizenbier. Während es eiskalt seine Kehle hinunter rinnt, denkt er an den Tag. Und das, was noch kommen wird. Er wählt die Nummer der Fahrbereitschaft. „Ich möchte gern morgen früh um 8Uhr wieder vor Ort sein.“
Die Mutter sagt „Danke“
Knapp elf Jahre später sitzt Albrecht Broemme, heute Bundes-Chef des THW, im Flugzeug auf dem Weg nach Berlin. Heute weiß er, dass noch sechs weitere Leichen geborgen wurden. Darunter die eines zwölfjährigen Jungen aus dem Haus, der – so die späteren Erkenntnisse – im Keller an den Gasleitungen manipuliert haben muss, bevor er wieder in die Wohnung ging. Seine Eltern waren nicht zu Hause, als er starb. Eine Frau sitzt neben dem THW-Chef im Flugzeug. „Herr Broemme?“ Er schaut sie fragend an. „Ich wollte mich für das Leben meines Sohnes bedanken.“ Und als er nicht versteht, legt ihm die Frau ihre Hand auf den Arm. „Sie haben ihn damals aus den Trümmern gezogen. Ich bin die Mutter von Michael K., Sie haben mir auf den Anrufbeantworter gesprochen.“
Polizei und Feuerwehr suchen nach Überlebenden: Morgens gegen 6 Uhr sackte nach einer Gasexplosion ein komplettes Haus an der Lepsiusstraße in sich zusammen. Tagelang waren Retter im Einsatz. Ein Mann und eine Katze konnten als einzige lebend aus dem Schutt gezogen werden