Berlin-Geschichte

Als vor dem Reichstag ein Flugzeug abstürzte

| Lesedauer: 27 Minuten
Axel Lier

Es begann mit einer Vermisstenmeldung. Doch hinter dem Fall der Ehefrau aus Erkner, die im Juli 2005 nicht zur Arbeit gekommen war, steckte eine andere Geschichte. Die eines eifersüchtigen, enttäuschten Hobby-Piloten. Er steuerte seinen rotes Kleinstflugzeug heute vor drei Jahren mitten ins Berliner Regierungsviertel.

Aus dem Nichts taucht am Himmel über dem Reichstag das Kleinflugzeug auf. Tragflächen und Heck sind deutlich zu erkennen. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, steuert der rote Flieger in Richtung Wiese. Ein Sturzflug im spitzen Winkel. Noch 50 Meter bis zum Boden. Die Menschen fliehen auseinander. Noch 20 Meter. Der Propeller heult. Noch zehn Meter. Die Maschine schlägt auf, explodiert in einem Feuerball.

Rauch steigt auf. Der Pilot liegt regungslos auf der Wiese. Noch lebt der Mann. Aber er sehnt sich nach dem Tod. Denn in sein altes Leben kann er nicht zurück.

Das alte Leben des Volker Krummholz (alle Namen geändert) spielte in Erkner, einer Kleinstadt im Osten Berlins.

Vor dem Haus steht ein Fahnenmast, daneben wuchern Sträucher, wachsen Hecken und Obstbäume. In der Ferne funkelt Seewasser, es riecht nach frisch gemähtem Gras, nur Vogelgezwitscher unterbricht die Stille. Ein Holztor versperrt Fremden den Zutritt zum Anwesen. Der Briefkasten aus Blech reflektiert die gleißende Mittagssonne. Ein warmer Wind kommt auf und bläst in die schwarze Fahne am Mast. Über der Idylle flattert jetzt ein Totenschädel, darunter zwei gekreuzte Knochen.

Zwei junge Männer treten vor das Holztor, dem Eingang zum Grundstück in der Schiffbauerstraße. Es ist Freitag, der 22. Juli 2005. Seit fünf Tagen wird eine Frau vermisst, die hier lebt, mit ihrem Ehemann und zwei Kindern. Die Polizei ermittelt bereits. Die beiden jungen Männer am Zaun sind Reporter aus Berlin und haben am Morgen von dem Fall erfahren. Sie sind auf der Suche nach mehr Informationen. Doch der Ehemann will weder viel reden noch fotografiert werden. "Ich will keine Story über meine Frau. Bringen Sie die kurze Suchmeldung, mehr gibt's nicht", hatte Volker Krummholz ihnen über den Zaun hinweg gesagt. "Ich bin seit 16 Jahren verheiratet, klar gibt's da mal Streit. Vielleicht hat sie einen anderen?" Das war es dann, sagt er am Ende, und dass er etwas Dringendes vorhabe. Die beiden Reporter ziehen ab. Viel steht nicht in ihren Notizblöcken.

Polizei verschickt Suchmeldungen

Weitaus mehr findet sich in der Suchmeldung, die die Polizei an die Zeitungsredaktionen verschickt: Seit Montag werde die 36-jährige Christine Krummholz vermisst. Die zweifache Mutter habe an diesem Tag ihr Haus in Erkner verlassen, um zur Arbeit beim Grünflächenamt in Friedrichshagen, im Südosten Berlins zu fahren; Arbeitsbeginn wäre sechs Uhr gewesen. Doch dort sei sie nie angekommen.

Frau Krummholz wirke jünger als sie ist, schreibt die Polizei weiter. Sie sei 1,60 Meter groß und schlank, trage ihre rot-braunen Haare schulterlang und eine mehrfach durch das linke Ohr gefädelte goldfarbene Kette. "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Christine Krummholz einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist", heißt es in der Meldung. Wer bei der Kripo direkt nachfragt, bekommt noch ein wichtiges Detail genannt: Der Arbeitgeber hat Frau Krummholz als vermisst gemeldet. Nicht der Ehemann.

Gegen 14 Uhr stehen deshalb wieder zwei Herren vor dem Grundstück in der Schiffbauerstraße. Auch die Kriminalbeamten wollen den Hausherren zum Verschwinden seiner Frau befragen. Es ist das dritte Gespräch zwischen den Ermittlern und dem Hobbyflieger. Volker Krummholz bittet die Polizisten ins Haus. Die Fragen werden gezielter: Wie ist die Beziehung zu ihrer Frau? Gab es Schläge? Hatte Christine Angst vor Ihnen?

Der Ehemann hat eine Erklärung

Volker Krummholz redet sich in Rage. Er erzählt von seiner Vermutung, dass seine Frau mit einem Liebhaber durchgebrannt sein könnte. Einen anderen Grund für ihr Verschwinden könne er sich nicht vorstellen. Der letzte Kontakt zwischen ihnen sei völlig normal verlaufen. Er habe Christine am S-Bahnhof Friedrichshagen abgesetzt. An der Straßenbahn, Richtung Schöneweide. Sie sei aus dem Auto ausgestiegen, man habe sich verabschiedet - das war's.

Bevor die Polizisten gehen, lassen sie sich von Krummholz die genaue Fahrtstrecke vom Montagmorgen aufschreiben: Erkner, Rahnsdorf, dann über den Fürstenwalder Damm. Später werden sie ermitteln, dass die S-Bahn-Brücke, über die er mit dem Auto gefahren sein will, an diesem Tag wegen Bauarbeiten gesperrt war.

Am Nachmittag sackt Volker Krummholz auf seiner Wohnzimmercouch zusammen. Er schlägt die Hände vor das Gesicht und holt tief Luft. Ein dunkler Gedanke schwirrt ihm immer wieder durch den Kopf: Kohlenkeller. Kohlenkeller, Kohlenkeller, Kohlenkeller. Die Hitze steigt in ihm hoch, er spürt die Polizei im Nacken, die Presse, die Schwiegereltern. Sein Körper ist wie gelähmt, die Augen aber streifen durch den Raum und bleiben kurz an einem Foto seiner Frau kleben. Dann steht er auf, sieht seine Kinder durch das Fenster im Garten. Sie spielen. Er lächelt ihnen zu. Er muss den Weg zu Ende gehen.

Der Vater denkt an den Geburstag des Sohnes

Krummholz drückt seine kräftigen Hände in das Lenkrad, sein Sohn Daniel sitzt neben ihm. Der Golf lässt das Ortsausgangsschild Rüdersdorf hinter sich. Der Vater schaut nervös auf seine Pilotenuhr, es ist 16.19 Uhr an diesem Freitag. Morgen hat Daniel Geburtstag. Er wird 15. Krummholz hatte ihm bereits vor Tagen ein Geschenk versprochen: Einen Rundflug über Erkner.

Der Hobbypilot drückt auf das Gaspedal und lenkt den Golf über die Bundesstraße 1 in Richtung Eggersdorf. Es sind noch knapp 16 Kilometer bis zum Flugplatz. Dort, im Hangar, steht sein neues Ultraleichtflugzeug, ein roter Kiebitz. Er besteht aus Holz und Aluminium, verbunden durch Knotenbleche und Popnieten, bespannt mit dem Kunststoff Ceconite. Krummholz hatte den Flieger vor zwei Wochen einem Piloten abgekauft, der auswandern will. Seinen alten Kiebitz hat er selbst im Internet angeboten.

Der rote Kiebitz wirkt wie ein Relikt aus dem Weltkrieg

Im Hangar reihen sich die Kleinflugzeuge aneinander. Einige Motoren sind noch warm, die Piloten sind gerade von ihren Rundflügen zurückgekehrt. Die Männer in Lederkluft stehen zusammen. Einige schrauben an ihren Maschinen. Es riecht nach Treibstoff und Schmiere. Der rote Kiebitz von Krummholz wirkt wie ein Relikt aus dem Weltkrieg, wie das berühmte Gefährt des Jagdpiloten Manfred von Richthofen, dem Roten Baron. Am Heckruder des Doppeldeckers prangt das Eiserne Kreuz. Unter den beiden Sitzplätzen verlaufen zwei schmale schwarze Streifen, die genau dort enden, wo die Flugzeugkennung steht: D-MITV.

Die Piloten wundern sich, als Volker Krummholz am frühen Abend am Hangar auftaucht und die Maschine startklar macht. Denn für einen Rundflug ist es fast schon zu spät. Vater und Sohn ziehen sich Fliegerkappen über, die aussehen wie die Ledermützen von Panzerfahrern. Krummholz drückt das Mikrophon an seinen Mund und geht den Sicherheitscheck durch. Der Viertakt-Motor heult auf. Über Funk bittet der Pilot um Starterlaubnis. Die Antwort rauscht in seinen Kopfhörern. Dazu der Hinweis: Windstärke drei aus Südwest. Krummholz und Sohn Daniel heben ab. Der Mitarbeiter im Tower notiert: 17.28 Uhr: Outside-Check und Betankung (Voll). 17.49 Uhr: Taxi. 17.55 Uhr: Airborne.

Der Pilot drückt Ruder gen Westen

Der rote Kiebitz zieht am Himmel seine Bahnen. Schöneiche, Rüdersdorf, Woltersdorf - die Sicht ist gut. In gerader Linie überfliegt er die Region, dann drückt Krummholz das Ruder in Richtung Westen, Zielort Erkner. Dorthin, wo die Nachbarn ihn den Roten Baron nennen. Dorthin, wo er für sich und seine Familie in den vergangenen Jahren ein kleines Paradies geschaffen hat.

Unter dem Doppeldecker leuchtet blau der Flakensee. Kurz danach taucht die Einfamilienhaussiedlung rund um die Schiffbauerstraße auf. Krummholz überfliegt in weiten Kreisen die 2000 Quadratmeter des verwinkeltes Gelände, die ihm gehören. Immer wieder hatte er in den vergangenen Jahren Nachbarn Land abgekauft und das Grundstück, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, damit vergrößert.

19.18 Uhr, Erkner badet in der Abendsonne. Volker Krummholz zieht die nächste Runde. Links unter ihm ist das Bootshaus zu erkennen. Darin lagert er im Winter seine Yacht. Dahinter liegt die Werkstatt, in der er an Motoren bastelt, sie aufarbeitet, reinigt und verkauft. Dort stehen auch die beiden grünen Harley-Davidson-Motorräder und die russische Molotov M72 aus dem Zweiten Weltkrieg. Dazu kommen ein aufgemotztes Wartburg-Cabrio und ein quietschgelber VW-Transporter - seine Schätze. Ganz nah will Krummholz ihnen sein. Zum letzten Mal. Er setzt zum Sinkflug an. Nur wenige Meter über den Spitzen der Tannen überfliegt er sein Grundstück. Sohn Daniel bekommt es mit der Angst. Nachbarn am Boden werden durch den Fluglärm aufgeschreckt. Sie treten aus ihren Häusern und schimpfen in den Himmel. Der Rote Baron wackelt zum Gruß mit den Tragflächen. Über den Notruf beschweren sich die Nachbarn bei der Polizei.

Der Pilot fliegt eine weitere Runde. Seine Augen wandern dabei über das eigene Haus. Früher war es nur ein Bungalow, Krummholz hat ihn ausgebaut und ganzjahrestauglich gemacht. Sein Blick gleitet über den Anbau, das Vordach, die Regenwassertonnen, zur Haustür und wieder zurück. Er wird nachdenklich. Für einen Moment sieht er wie in Zeitlupe seine Frau Christine vor dem Haus stehen, sie winkt ihnen zu. Krummholz weiß, dass er nicht mehr in sein altes Leben zurück kann. Nie wieder.

Die Stimme seines Sohnes reißt ihn aus den Gedanken. Daniel bittet ihn umzukehren. Volker Krummholz prüft kurz die Tankanzeige und steuert seinen Kiebitz wieder in Richtung Osten.

Ohne Ankündigung landet er um 19.50 Uhr auf dem Flugplatz in Strausberg, nordwestlich von Eggersdorf. Das Rollfeld ist leer. Die Männer im Tower wundern sich über das Verhalten des Piloten, sie können ihn nicht per Funk erreichen. Das ist aber Pflicht. Die Sicherheitsleute heben ihre Ferngläser: Ein Junge ist zu sehen. Er steigt aus dem Ultraleichtflieger, etwas wacklig auf den Beinen. Hinter ihm ist der kräftige, hochgewachsene Pilot zu erkennen. Er fasst in seine Taschen, übergibt dem Jungen Schlüsselbund, Papiere, Portemonnaie, Handy. Für Sekunden sehen sich beide in die Augen. Der Ältere spricht, der Jüngere steht wie gelähmt vor ihm. Dann steuert der Pilot seinen Doppeldecker wieder zum Anfang der Startbahn. Ohne Starterlaubnis verschwindet Volker Krummholz in den Himmel über Strausberg. Es wird sein letzter Flug.

Vor dem Reichstag ahnt niemand etwas

Auf der Wiese vor dem Reichstag, die wie ein gepflegtes Fußballfeld ohne Linien aussieht, spielen Kinder Fangen. Ihre Eltern sitzen ein paar Meter entfernt, trinken Kaffee aus Pappbechern und essen Schnittchen aus kleinen Zellophan-Tüten. In der Nähe der kniehohen Hecken fläzen sich Touristen auf dem Gras und lauschen den Erklärungen eines Dolmetschers. Sie verdrehen die Augen, als ihnen der Übersetzer erklärt, dass sie sich gleich am Ende der Schlange anstellen müssen, die zum Eingang des Reichstages führt.

Genervt sind auch die Autofahrer auf der Scheidemannstraße, gleich neben dem Parlamentsgebäude. Es geht nur im Schritttempo vorwärts. Aus den heruntergelassenen Seitenscheiben hört man die Tagesschau. Noch immer ist London das Top-Thema. Die Stadt ist einen Tag zuvor nur knapp Bombenanschlägen entgangen. Noch ahnt niemand, dass Berlin in wenigen Minuten die weltweiten Nachrichten beherrschen wird.

Krummholz nimmt Kurs auf Berlin

Volker Krummholz steuert mit starrem Blick seinen Kiebitz. Der Rote Baron von Erkner nimmt Kurs auf die Hauptstadt. Um nicht entdeckt zu werden, hatte er bereits auf dem Flughafen in Strausberg den Transponder im Cockpit auf "Off" geschaltet. Die Flugzeug-Kennung wird jetzt nicht mehr automatisch an die Radarstationen gesendet.

Der letzte Flug des Hobbypiloten ist wie ein Abziehbild seines Lebens. Krummholz will beeindrucken, den Leuten imponieren, um jeden Preis. Er will, dass sie ihn achten, respektieren, vielleicht sogar ein bisschen Angst vor ihm haben. Er will, dass die Leute über ihn sprechen, möchte endlich berühmt sein. Er will auch ein harmonisches Eheleben führen. Doch es klappt nicht. Und wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen läuft, dann kann Volker Krummholz ohne Vorwarnung durchdrehen, ausrasten, unberechenbar werden.

Unteroffizier beim Wachregiment

Zu DDR-Zeiten dient Krummholz als Unteroffizier beim Wachregiment Feliks Dzierzynski, einer Elite-Truppe der Staatssicherheit. Seine Einheit ist im benachbarten Hessenwinkel stationiert. Der junge Krummholz lernt dort Nahkampf, den Umgang mit Kriegswaffen und das Kasernengelände mit den Bunkern kennen.

Nach der Wende fängt er bei der Berliner Stadtreinigung an, als Müllmann. Auf dem Recyclinghof in Schöneberg nennen ihn die Kollegen einen "Hans Dampf". Einige Nachbarn sehen in ihm den Mann mit den goldenen Händen; er hilft bei Montierarbeiten, Motorschäden und bei kaputten Rasenmähern. Wenn er nicht fliegt, schraubt er an Helikopter-Motoren im Garten. Andere Nachbarn, zumeist die, die ein paar Straßen weiter entfernt wohnen, halten ihn für einen Aufschneider, dessen laute Stimme über Grundstücksgrenzen hinweg nervt. Außerdem wundern sie sich, wie Volker Krummholz seinen Lebensstil finanzieren kann - die Autos, die Motorräder, die Reisen um die Welt und den neuen Kiebitz im Wert von 20.000 Euro.

Die Familie der Ehefrau ist skeptisch

Wer jedoch mit Volker Krummholz Zaun an Zaun wohnt, kann fest damit rechnen, dass er einspringt, wenn man verreisen will und sich jemand um die Blumen kümmern muss. Zur Not übernimmt das auch seine Frau Christine. Krummholz und sie haben sich beim Campen in Mecklenburg-Vorpommern kennen gelernt, geheiratet und zwei Kinder gezeugt. Die Familie seiner Frau tritt dem Stasi-Soldaten von Anfang an eher skeptisch gegenüber.

Krummholz' führen eine gute Ehe. Zumindest in den ersten Jahren. Mit der Zeit aber nehmen die Probleme zu. Immer öfter kommt es zum Streit wegen Nichtigkeiten. Manchmal gibt es sogar Schläge. Die Beziehung zerbricht. In ihren Herzen leben beide längst getrennt voneinander, nur die Kinder halten die Ehe noch zusammen. Volker Krummholz will seine Frau aber nicht ziehen lassen, er ist krankhaft eifersüchtig. Nach außen lassen sich die Eheleute nichts anmerken. Christine reist mit zu den Fliegertreffen, besucht mit ihren Kindern den Flugplatz in Eggersdorf, teilt aber nicht eine Sekunde lang die große Leidenschaft ihres Mannes.

Irgendwann im Frühjahr lassen sich die Eheprobleme nicht mehr verbergen. Die Familie zerfällt. Bei einem Fliegertreffen Anfang Juli bemerken Sportfreunde, dass ihr sonst so lustiger Volker bedrückt in der Ecke des Fliegerheims sitzt. Die Kumpels wollen wissen, was los ist. Er deutet an, dass es zwischen ihm und seiner Frau kriselt. Mehr sagt er nicht.

Der Doppeldecker erreicht Berlin

Freitagabend, 22. Juli, 20.21 Uhr. Der Doppeldecker erreicht den Berliner Luftraum. Volker Krummholz meldet sich auch hier nicht wie vorgeschrieben bei der Flugsicherung in Tempelhof. Vom Radar unbemerkt, hält er Kurs auf den Bezirk Mitte. Leichter Nieselregen legt sich über die Pilotenkanzel. Krummholz kneift die Augen zusammen, die gläserne Kuppel des Reichtages fest im Blick. Vor ihm liegt der Alexanderplatz.

Nur ein paar Straßen vom Fernsehturm entfernt steht Bernhard Schodrowski. Er hat endlich Feierabend. Der junge Mann im grauen Anzug schaut auf seine Uhr, lässt das Gebäude der Senatsinnenverwaltung hinter sich und atmet tief durch - es war ein langer Tag. Schodrowski ist eigentlich Sprecher der Berliner Polizei, an diesem Tag aber spricht er für Innensenator Ehrhart Körting. Auf dem Weg zu seinem Motorrad geht Bernhard Schodrowski noch einmal den wichtigsten Termin des Tages in Gedanken durch: Er hatte Körting am Nachmittag in den Club des Axel-Springer-Hochhauses in die Kochstraße begleitet, zu einem Interview. Der Innensenator, ein SPD-Mitglied, hatte gegenüber den Reportern den Wahlkampf eröffnet: Deutschland sei in höchster Terror-Gefahr, sollte eine künftige CDU/CSU-Regierung das Nein zum Irak-Krieg aufheben. Harte Kost.

Es ist kurz vor halb neun. Bernhard Schodrowski legt sich den Nierengurt um und startet seine Honda CBR 600 per Knopfdruck. Als er sich den Helm aufsetzt, fällt ihm am Himmel ein rotes Kleinflugzeug auf. Es fliegt tief. Doch Schodrowski nimmt kaum Notiz von ihm und fährt in Richtung Reinickendorf.

Der Kiebitz erreicht das Regierungsviertel

20.28 Uhr, der rote Kiebitz erreicht das Regierungsviertel. Der Doppeldecker fliegt dicht über die gläserne Kuppel des Reichstages. Um ein Haar streift er eine der Deutschland-Fahnen. Unter den Besuchern bricht Panik aus. Einige rennen aus dem Gebäude, weil sie einen Anschlag fürchten. Krummholz weiß, dass jetzt alle Aufmerksamkeit ihm gehört. Am Boden zücken Passanten Kameras und Foto-Handys. Der Pilot steuert den Doppeldecker an der nördlichen Seite der Kuppel in eine Linkskurve und fliegt danach in Richtung Bundeskanzleramt. 50 Meter vom Parlament entfernt, drückt er den Steuerknüppel nach unten. Der rote Kiebitz stürzt wie ein Kamikaze-Flieger in Richtung Wiese. Krummholz schreit. Sein Puls rast.

Ein Polizeihauptmeister in Zivil gibt um 20.29 Uhr die erste Alarmmeldung an die Zentrale durch. "Flugzeugabsturz auf dem Platz der Republik!" Stille. Niemand reagiert am anderen Ende des Funkkanals. Noch einmal gibt der Bundestagspolizist durch, was er gesehen hat. Erst jetzt antwortet die Leitstelle: "Verstanden". Der Beamte rennt mit zwei Passanten zum brennenden Flugzeug. Der Pilot ist aus dem Wrack geschleudert worden, gemeinsam ziehen sie ihn aus den Flammen. Mit Pullovern versuchen sie, die Flammen auf seinen Körper zu ersticken. Plötzlich rauscht das Funkgerät. Die Leitstelle: "Was ist los? Wie ist die Lage?" Der Polizist ignoriert die Stimme. Er versucht, den schwer verletzten Piloten wieder zu beleben. Krummholz Puls ist schwach. Er röchelt.

Die Sanitäter befürchten das Schlimmste

Sechs Minuten später trifft die Feuerwehr am Absturzort ein. Die Rettungssanitäter befürchten das Schlimmste. Vor wenigen Minuten sind sie von der Zentrale unter dem Stichwort: "Flugzeug Land, Scheidemannstraße 2, Tiergarten" informiert worden. Die Helfer aus dem Krankenwagen springen aus ihrem Fahrzeug, rennen über die Wiese und versuchen sofort den Piloten zu reanimieren. Zwei Minuten später übergeben sie den Schwerverletzten den Notärzten. Die Feuerwehrzentrale löst unterdessen Großalarm aus. 92 Retter sind auf dem Weg zum Reichstag. Mit einem Pulverlöscher und einem "Schnellangriff Rohr" löschen eine Handvoll Feuerwehrmänner das Flugzeug. Eine dunkle Rauchsäule steigt in die Luft, es riecht nach verbranntem Gummi.

Das Handy von Bernhard Schodrowski vibriert schon wieder unter seinem grauen Anzug. Er ist genervt. Seit der Kreuzung am Franz-Naumann-Platz will ihn jemand erreichen, doch der Pressesprecher will auf seiner Honda bis zu seiner Wohnung ungestört weiterfahren. 500 Meter davor gibt er auf. Am Telefon ist einer der Reporter, der beim Termin mit Körting Fragen gestellt hatte: "Vor dem Reichstag ist ein Flugzeug abgestürzt!" Schodrowski glaubt an einen schlechten Scherz. "Im Ernst, über so etwas mache ich keine Späße!", sagt der Journalist. Dann legt er auf.

Körting erreicht die Nachricht in der U-Bahn

Schodrowski telefoniert mit dem Lagezentrum der Polizei, die Kollegen bestätigen den Absturz. Sekunden später ruft er die Referentin des Innensenators an. Sie erreicht ihren Chef am Handy in der U-Bahn. Ehrhart Körting steigt am Fehrbelliner Platz in Wilmersdorf aus und nimmt sich ein Taxi. Acht Minuten später ist der Senator am Unglücksort.

Im Halbkreis stehen die Journalisten am Reichstag um ihn herum. Es ist 21.45 Uhr, das Parlament samt Kuppel längst geräumt, das Regierungsviertel abgesperrt. Der Innensenator tritt vor die Kameras und beruhigt: "Nichts deutet hier auf einen terroristischen Hintergrund hin, gar nichts. Entweder war es ein Unglücksfall oder es geschah in suizidaler Absicht." Im Hintergrund untersuchen Kriminaltechniker den Tatort. Um Schaulustigen die Sicht zu nehmen, sind um die Absturzstelle Laken gespannt. Doch Informationen sickern durch: Der Pilot ist seit 45 Minuten tot, der rote Kiebitz nur noch ein verkohltes Gerippe.

Krummholz Nachbarn lugen vorsichtig hinter den Gardinen hervor. Sie beobachten die beiden Männer, die vor dem Grundstück Hausnummer 13 stehen. Es ist kurz vor Mitternacht. Die Reporter waren am Mittag schon mal in der Schiffbauerstraße gewesen und wollten mit Volker Krummholz über seine vermisste Ehefrau sprechen. Das hatte sich unter den Nachbarn herumgesprochen. Es blitzt plötzlich in die Nacht, die Fotografen halten mit ihren Kameras auf das Haus der Krummholz'. Es ist kurz vor halb elf, als sich ein älterer Herr auf die Straße traut und die Reporter fragt: "Was soll das denn hier?"

Die Journalisten erklären. Ungläubig schüttelt der Mann seinen Kopf. Er hält kurz inne, überlegt. Dann sagt er: "Der Krummholz hat sich umgebracht, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Der hat seiner Christine bestimmt etwas Schlimmes angetan". Wenig später trifft der erste Streifenwagen vor dem Grundstück ein. Der Wagen stellt sich quer, versperrt die Zufahrt. Die Beamten warten auf Verstärkung. Von der Zentrale haben sie den Auftrag bekommen, niemanden durch das Holztor zu lassen.

Das Gründstück der Familie wird abgeriegelt

Gegen 1.30 Uhr kommen Bereitschaftspolizisten in der Schiffbauerstraße an. Mit Flatterband riegeln sie die Wege ab. Beamte in Zivil klingeln bei den Nachbarn. Es dauert nicht lange, dann stehen die meisten vor ihren Türen. Decken hängen über ihre Schultern. Einige haben Bananen in den Händen, andere Thermoskannen. Das ganze Gebiet wird geräumt. Ein Polizist erklärt, man vermute, dass Volker Krummholz Sprengfallen in seinem Haus installiert hat.

Erst am frühen Morgen geben die Spezialisten des Landeskriminalamtes Entwarnung. Im Haus sind keine Bomben. Bereitschaftspolizisten durchkämmen daraufhin den Garten der Krummholz', graben mit Spaten in Erdhaufen, durchsuchen die Werkstatt, das Haus und das Boot. Vergeblich. Die Beamten versuchen, dass Handy von Christine zu orten - doch es ist abgeschaltet. Zwei Jauchewagen pumpen unterdessen die Sickergruppe ab. Die Ermittler fahren auch zur Bunkeranlage der Armee nach Hessenwinkel. Danach filzen sie ein Industriegebiet, eine Werkstatt. Nirgendwo entdecken sie eine Spur der Vermissten. Am Abend, knapp 24 Stunden nach dem Flugzeugabsturz vor dem Reichstag, glaubt niemand mehr daran, die Ehefrau noch lebend zu finden. Doch die Suche geht weiter.

Die Kinder werden zu Vollwaisen

Am Sonntag gegen 10 Uhr hält ein Taxi vor dem Haus in der Schiffbauerstraße 13. Daniel und Marianne, die beiden Kinder der Krummholz, steigen aus und gehen ins Haus. An ihrer Seite sind Polizisten und ihre Großeltern. Wenige Minuten später verlassen die Kinder mit Reisetaschen das Grundstück. Keiner der Reporter drückt in diesem Moment auf den Auslöser seiner Kamera. Sie haben Respekt vor dem Leid der Kinder, die über Nacht vielleicht zu Vollwaisen geworden sind.

Am Montagmorgen öffnen die Polizisten in dem einstöckigen Haus der Familie Krummholz eine Fußbodenluke zum Kohlenkeller. Sie war unter den Bohlen versteckt. Die Beamten steigen den schmalen Gang hinab und entdecken nach längerer Suche einen Verschlag in der rechten Ecke. Er besteht aus der Außenwand des Kellers und einer weiteren Mauer davor. Auf den ersten Blick ist der Hohlraum nicht zu erkennen. Die Kriminaltechniker treten näher.

Die Lücke ist einen halben Meter breit und bis in Brusthöhe mit Kohle gefüllt. Jedes Brikett einzeln nehmen die Polizisten aus dem Verschlag, packen alles in Eimer. Kollegen bringen sie danach ins Freie. Ein Teppich kommt zum Vorschein, überall bröselt Bauschutt. Die Beamten stoßen plötzlich auf Plastikfolie. Als sie ein Stück einschneiden, sind darunter rot-braune Haare zu erkennen.