4303 Berliner Kinder mussten im Schuljahr 2007/08 die zweite Klasse wiederholen - 30 Prozent mehr als im Jahr davor. Das Problem ist hausgemacht, sagen Schulexperten: Demnach werden Kinder in Berlin zu früh eingeschult und zu schlecht gefördert - das “Jahrgangsübergreifende Lernen“ funktioniere nicht.
Die Zahl der Mädchen und Jungen, die länger in der Schulanfangsphase bleiben und das zweite Schuljahr noch einmal absolvieren müssen, hat deutlich zugenommen. Im Schuljahr 2007/08 mussten laut Bildungsverwaltung insgesamt 4303 Kinder das zweite Schuljahr wiederholen. Das sind 8,24 Prozent. Jeder sechste Zweitklässler war demnach betroffen.
Im Schuljahr davor, 2006/07, waren es bei höherer Gesamtschülerzahl 3778 Schüler, die das zweite Schuljahr wiederholen mussten (6,32 Prozent). Das geht aus einer Parlamentsanfrage des bildungspolitischen Sprechers der CDU, Sascha Steuer, hervor. Die Zahl derjenigen Schüler, die innerhalb der Schulanfangsphase gleich von der ersten in die dritte Klasse aufrückten, stieg im selben Zeitraum nur von 102 (0,17 Prozent) auf 175 Schüler (0,34 Prozent).
Schulexperten machen das frühe Einschulungsalter von fünfeinhalb Jahren, das Wegfallen der Vorklassen sowie die Abschaffung sonderpädagogischer Förderung von der ersten Klasse an dafür verantwortlich.
Förderung unzureichend
Für CDU-Politiker Steuer zeigen die Zahlen, dass in der flexiblen Schulanfangsphase, in der an zwei Dritteln der Grundschulen jahrgangsübergreifend unterrichtet wird, weder die schwächeren noch die besseren Schüler hinreichend gefördert werden. „Bezieht man die Zahl der Wiederholer nicht auf die Gesamtzahl der Erst- und Zweitklässler, sondern unmittelbar auf die Anzahl der Zweitklässler, erhöht sie sich sogar auf 16 Prozent“, rechnete Steuer vor und bezeichnete dies als Armutszeugnis für die Schulanfangsphase und das jahrgangsübergreifende Lernen. Nur ein motiviertes Lehrerkollegium mit einer guten Schülerstruktur könnte dieses Modell zum Erfolg führen. „Es war deshalb falsch, das Modell für alle Schulen verpflichtend einzuführen“, so Steuer.
Jörg-Uwe Quandt, Vorsitzender der Fachgruppe Schulleitung im Verband Bildung und Erziehung, sieht das ebenso. Viele Grundschulen, die erste und zweite Klassen bereits gemeinsam unterrichteten, ruderten wegen fehlenden Personals und fehlender Räumlichkeiten jetzt wieder zurück, sagte er. Auch der Druck der Eltern sei diesbezüglich groß. Hinzu komme, dass nun auch Brennpunktschulen, an denen mehr als 40 Prozent der Schüler nicht deutscher Herkunft oder lernmittelbefreit sind, Klassen mit 24 bis 28 statt wie bisher mit 20 Kindern einrichten müssen. Unter diesen Umständen sei Jahrgangsmischung einfach nicht machbar.
Weitere Gründe dafür, dass mehr Kinder die zweite Klasse wiederholen müssen, sieht Quandt in der Tatsache, dass die Kinder seit Kurzem früher, das heißt mit fünfeinhalb Jahren, eingeschult werden. Außerdem seien die Vorklassen abgeschafft worden, sonderpädagogische Förderung gebe es zudem erst von der dritten Klasse an.
„Langfristig wird es den Schulen überlassen werden, ob sie das jahrgangsübergreifende Lernen einführen oder nicht“, sagt Quandt. In Neukölln hätten die Grundschulen, die bisher nicht jahrgangsübergreifend unterrichten, jetzt mit der Schulaufsicht Zielvereinbarungen getroffen, in denen es darum geht, lediglich Projektweise oder nur in einzelnen Fächern die ersten und zweiten Klassen gemeinsam zu unterrichten. Dies sei ein Zeichen dafür, dass man künftig doch eher die Schulen entscheiden lassen werde, ob sie jahrgangsgemischt unterrichten wollen oder nicht.
"Nicht alle Lehrer sind qualifiziert"
Mario Dobe, Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes, macht vor allem eine wesentliche Ursache dafür aus, dass mehr Schüler die zweite Klasse wiederholen müssen: „Für die durchaus richtigen Maßnahmen wie die Einschulung mit fünfeinhalb Jahren und das jahrgangsübergreifende Lernen wurde einfach nicht genügend Personal zur Verfügung gestellt“, sagte er. Zudem seien nicht alle Lehrer entsprechend qualifiziert. „Für fünfeinhalbjährige Kinder braucht man ein spezielles Grundlagentraining.“ Die Bildungsverwaltung hätte die Vorklassenleiterinnen den Lehrern in der Schulanfangsphase zur Seite stellen sollen, anstatt sie als normale Erzieher einzusetzen, kritisierte Dobe. Vorklassenleiterinnen seien für den Umgang mit jungen Schülern besonders qualifiziert gewesen.
Ellen Hansen, Schulleiterin der Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg, warnte davor, die Schüler, die die zweite Klasse wiederholen müssen, als Sitzenbleiber zu bezeichnen. „Verweilen ist etwas anderes als wiederholen“, sagte sie. Die Schuleingangsphase sei so konzipiert, dass zunächst alle Kinder aufgenommen werden. Rückstellungen gebe es nicht mehr. „Deshalb muss den Schülern ausreichend Zeit eingeräumt werden.“ Vor allem sehr junge Schüler brauchten oft etwas länger als die anderen. Grundlegende Fähigkeiten müssten bei vielen erst trainiert werden. „Die Schulanfangsphase bietet dafür flexible Möglichkeiten.“