Religion

Skandale treiben mehr Berliner aus der Kirche

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Daniel Müller

Rund 1300 Berliner sind im ersten Quartal 2010 aus der katholischen Kirche ausgetreten - deutlich mehr als noch im Quartal zuvor. Den Grund hierfür sieht die Kirche klar in den Missbrauchsfällen, die in den vergangenen Monaten bekannt wurden. Die evangelische Kirche verließen deutlich mehr Menschen als die katholische, doch hier ist die Austrittstendenz fallend.

Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hat in Berlin zu einer Austrittswelle geführt. In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben 1323 katholische Gläubige ihrer Kirche den Rücken gekehrt – fast 40 Prozent mehr als im letzten Quartal des Vorjahres mit 929 Austritten. Das geht aus einer aktuellen Statistik der Berliner Senatsjustizverwaltung hervor, die Morgenpost Online vorliegt. Nach eigenen Angaben hat die katholische Kirche noch 316.000 Mitglieder in Berlin. Tendenz: weiter fallend.

Der Missbrauchsskandal hatte seinen Ausgang in Berlin genommen. Ende Januar hatte die Morgenpost darüber berichtet, dass am Canisius-Kolleg über Jahre Schüler von Jesuitenpatern missbraucht worden waren. Zwei Jesuiten-Patres der Eliteschule hatten sich in den 70er- und 80er-Jahren zigfach an Schülern vergangen. Laut der vom Jesuitenorden beauftragten Opferanwältin Ursula Raue haben sich bislang 59 ehemalige Canisius-Schüler bei ihr gemeldet.

Inzwischen wurden bundesweit weitere Missbrauchsfälle in mindestens 20 der 27 Bistümer der katholischen Kirche bekannt, so zum Beispiel im Benediktinerkloster Ettal oder bei den Regensburger Domspatzen.

Der Erzbischof von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky, bestätigte Monatgabend im Südwestfunk, dass der Skandal die katholische Kirche in die schwerste Krise der Nachkriegszeit geführt hat. „Das ist so. Das stimmt.“ Er sei „sehr bestürzt und sehr erschrocken“ über das Ausmaß der Missbrauchsfälle. „So viele sexuelle Übergriffe – das habe ich nicht erwartet. Aber wenn es das gegeben hat, dann muss das bekannt werden“, sagte Sterzinsky weiter.

Katholische Kirche ist dennoch "gilmpflich" davongekommen

Der Pressesprecher der katholischen Kirche in Berlin und Brandenburg, Stefan Förner, sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen den Austrittszahlen und den Missbrauchsfällen: „Aktuelle Entwicklungen dieser Art und gerade die Berichterstattung darüber erreicht vor allem jene Mitglieder, die ohnehin schon darüber nachgedacht haben, ob sie austreten sollen – und das ‚erleichtert’ ihnen natürlich diese Entscheidung“, sagte er Morgenpost Online. Dagegen könne man auch nicht viel tun.

Ohnehin erreiche die Kirche viele ihrer Mitglieder kaum noch aktiv, sagte Förner. Nur noch etwa zwölf bis 14 Prozent besuchten die Gottesdienste. „Wir im Erzbistum wüssten ja selbst gern mehr über die konkreten Gründe für einen Austritt – einfach, weil wir so einen Schritt verstehen und auf ihn reagieren wollen“, sagte der Sprecher.

Trotzdem ist die katholische Kirche laut Förner „noch glimpflich“ davon gekommen, was die Austrittszahlen anbelangt. Im ersten Quartal 2009 waren es sogar 1414 Mitglieder. Die damalige Abwanderungswelle sei vor allem der Verärgerung über den Holocaust-Leugner und Pius-Bruder Richard Williamson geschuldet, dessen Exkommunikation der Papst im Januar 2009 aufgehoben hatte, sagte Förner. Die gescheiterte „Pro Reli“-Kampagne in Berlin hingegen, die eine Aufwertung des Religionsunterrichts an den Schulen zum Ziel hatte, sei nicht der Auslöser gewesen – auch wenn die Initiative innerhalb der Kirche umstritten war. Die Folgen der Missbrauchsfälle sind für die Kirche dagegen lange noch nicht ausgestanden. „Ich bin nicht sicher, ob das schon die letzten Austritte aus diesem Motiv heraus waren“, sagte Förner.

Senatsverwaltung hält Zahlen für normal

In der Senatsverwaltung setzt man die Austrittszahlen nicht in Beziehung zu den Skandalen. „Zu Jahresende und Jahresbeginn gibt es immer mehr Austritte als in den übrigen Zeiträumen. Das hat nichts mit den Missbrauchsfällen zu tun“, sagte eine Sprecherin. Vielmehr sei es eine Frage des Geldes. Gerade nach dem teuren Weihnachtsmonat Dezember würden viele Bürger sich dazu entscheiden, die Kirche zu verlassen und somit die Zahlung der Kirchensteuer zu umgehen. Überhaupt sei die Austrittswelle nicht signifikant hoch, im Osten etwa habe es kaum Austritte gegeben. Bei der bislang größten gemessenen Abwanderungswelle der letzten Jahre – in den Quartalen IV/2008 und I/2009 – so die Sprecherin weiter, seien es in Berlin weit mehr gewesen. Damals sei die Wirtschaftskrise der Grund gewesen.

Ähnlich äußert sich die stellvertretende Pressebeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Heike Krohn. In besagtem Zeitraum 2008/2009 hatte die Landeskirche 5182 Mitglieder verloren, was Krohn auf die Einführung der Abgeltungssteuer für Kapitaleinkünfte zurückführt. Vielen Menschen sei zuvor nicht bewusst gewesen, dass sie auch auf Zinserträge Kirchensteuern zahlen müssen, sagte Krohn.

Die evangelische Kirche hat in Berlin nach eigenen Angaben noch 646.000 Mitglieder, Tendenz ebenfalls fallend. Im ersten Quartal 2010 verließen insgesamt 1831 Mitglieder die Kirchengemeinden, fast 20 Prozent weniger als im vierten Quartal 2009 (2229).