Bei den Berliner Sozialdemokraten wird über einen Parteiausschluss von Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin diskutiert, wegen seiner umstrittenen Äußerungen über Ausländer. Doch die Auseinandersetzung ist noch viel mehr: Sie legt die Schwäche der SPD-Parteispitze offen.
Michael Müller kann nichts machen. Manche seien eben beratungsresistent, seufzt Berlins SPD-Landes- und Fraktionschef. Einigermaßen hilflos blickt die Parteiführung auf den jüngsten Gesinnungskrieg, der Berlins Sozialdemokraten erschüttert. "Viele fallen zurück in ihre SPD-Nabelschau", kritisiert ein sozialdemokratisches Senatsmitglied.
Der schlagzeilenträchtige Streit um Thilo Sarrazin offenbart die Probleme, die eine verunsicherte Partei auf dem Weg zu ihrer Selbstfindung im Vorwahljahr 2010 begleiten. Es geht um die Frage, wer der echte, gute Sozialdemokrat ist - und wer eben nicht. Parallelen zur parteiinternen Abrechung mit dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement sichern den Berliner Scharmützeln bundesweite Aufmerksamkeit. Der Führung ist die Kontrolle entglitten: "Vor ein paar Jahren hätten sie so etwas noch einfangen können", beschreibt ein SPD-Mann aus der zweiten Reihe den Wandel, "heute schaffen sie das nicht mehr".
Klaus Wowereit distanziert sich
Die Fronten sind verhärtet. Die Linken wollen den ehemaligen Finanzsenator Sarrazin mit einem Parteiordnungsverfahren aus der SPD werfen oder den Bundesbank-Vorstand wenigstens rügen lassen für seine Äußerungen über Türken und Araber. Die Parteirechte ist empört: "Auch wir machen uns nicht jede Meinung Sarrazins zu Eigen. Aber für uns ist klar: Die SPD muss Meinungsfreiheit in ihrer demokratischen Debattenkultur ertragen", ließen die Sprecher der parteirechten Gruppierung Aufbruch wissen. Dazu gehören Ex-Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing, Fraktionsvize Fritz Felgentreu und der stellvertretende Landesvorsitzende und Bürgermeister von Mitte, Christian Hanke: "Die Berliner SPD hat wichtigere Aufgaben zu lösen, als sich mit sich selbst zu beschäftigen", finden die Aufbruch-Leute. Auch Jörg Stroedter, Sprecher der dritten Parteigruppierung, der Berliner Mitte, sieht das ähnlich: "Von Rauswürfen halte ich gar nichts." Man müsse solche Auseinandersetzungen innerhalb der Partei austragen.
Aber die Verletzungen, die Sarrazin mit seinen Äußerungen über unproduktive Migranten, die drohende Machtübernahme der Türken mittels einer höheren Geburtenrate und die Warnung vor "immer neuen Kopftuchmädchen" erzeugt hat, reichen tief. "Alle, die links sind und Migrationshintergrund haben, fühlen sich persönlich angegriffen", sagt ein führender Sozialdemokrat.
Dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, der am Dienstag erstmals seit seinem Weihnachtsurlaub vor die Presse trat, kommt der Streit ungelegen. Aber dem Frontmann ist ebenso klar, dass er gegen den linken Zeitgeist in seiner SPD nichts ausrichten kann. Die Berliner Linke, deren Kopf Wowereits Europa-Referatsleiter Mark Rackles ist, stellt in den Parteigremien eine Mehrheit. Wowereit wollte sich nicht festlegen, ob Sarrazin die SPD verlassen soll. Das sei Sache der Gremien der Landespartei, sagte Wowereit. Das Menschenbild, das hinter Sarrazins Äußerungen in "Lettre International" sei aber kein sozialdemokratisches Menschenbild. "Ich distanziere mich von den Äußerungen", wiederholte Wowereit seine Worte aus dem vergangenen Jahr. Sarrazin sei zu klug, als dass er nicht wüsste, was er da sage oder schreibe, so Wowereit. Aber sowohl eine Heroisierung, als auch eine Verteufelung von Sarrazin sei unangemessen.
Alte Feinde gegen Thilo Sarrazin
Hinter dem Feldzug gegen den früheren Finanzsenator stehen wichtige Berliner Sozialdemokraten. Mit im Boot sitzt Dilek Kolat, Kreisvorsitzende in Tempelhof-Schöneberg. Sie ist verheiratet mit Kenan Kolat, dem Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde in Deutschland, der sich von Anfang an über Sarrazins Aussagen erregte. Der Pankower Abgeordnete Torsten Schneider liefert den theoretischen Überbau für die Attacke: Wer so argumentiere wie Sarrazin, lege "die Axt an den obersten Grundsatz abendländischer Kultur, an unseren obersten Verfassungsgrundsatz, an das oberste Leitbild der SPD - an die Menschenwürde selbst", schreibt der Rechtsanwalt in einer Mail an seine Genossen.
Der Kreisvorsitzende von Spandau, der gebürtige Palästinenser Raed Saleh, bildet die Speerspitze der Anti-Sarrazin-Front. Mit seinem Kreis hat er nach dem ersten Freispruch für Sarrazin vor dem Parteigericht in Charlottenburg-Wilmersdorf nun die Landesschiedskommission angerufen. Dahinter steht auch der frühere Spandauer Abgeordnete Hans-Georg Lorenz, Sprecher des ganz im linken SPD-Rand angesiedelten Donnerstagskreises. Er hat stets gegen die Kürzungspolitik Sarrazins und Wowereits aus der ersten rot-roten Legislaturperiode gekämpft. "Die Kritiker wollen mit Sarrazin auch Müller und Wowereit treffen", sagen Kenner der Partei.
Erste SPD-Mitglieder treten aus
Die Schlacht spielt auf einem Feld, auf dem die Sozialdemokraten große Leerstellen aufweisen. In der Integrationspolitik liegen Welten zwischen den Positionen. Auf der einen Seite stehen Leute wie Sarrazin oder Neuköllns Bürgermeister Heinz Buschkowsky, die auch Druck und Sanktionen gegen integrationsunwillige Zuwanderer für nötig erachten. Auf der anderen Seite beanspruchen Leute wie Kolat und Saleh die Deutungshoheit, die auf Sozialprogramme und Angebote der Mehrheitsgesellschaft setzen. "Da sehe ich keine gemeinsame Grundlage", sagt ein Sozialdemokrat, der sich in der Mitte des Meinungsspektrums ansiedelt.
Dennoch hat Wowereit gerade das parteiinterne Streitthema Integration zum Schwerpunkt des neuen Jahres ausgerufen. Er will das Vorhaben aber weiter fassen und zu einer sozialen Frage machen. Wowereits gestrige Kernbotschaft lautete: "Der Aufstiegswille ist bei vielen Menschen nicht mehr da." Das sei unabhängig von der Herkunft. Zu viele Menschen hätten sich darauf eingestellt, von Transferleistungen des Staates zu leben. "Elementar für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist, den Aufstiegswillen in allen Schichten zu etablieren", sagte Wowereit. Er distanzierte sich allerdings von Forderungen, Leistungen zu kürzen - wie sie vom rechten Parteiflügel immer wieder erhoben werden. "Einem Single kann man ja Leistungen kürzen, wenn er nicht arbeiten will. Aber wie soll man das bei einer Familie machen?", fragte er. Man brauche wegen der Sprachbarriere zu den Migranten türkische Medien und Mittler in den Kiezen, so Wowereit. Wie er konkret sein Vorhaben umsetzen will, erklärte der Regierende Bürgermeister nicht. Auf diese Probleme gebe es keine schnellen Antworten.
Wowereit, der auch stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD ist, kündigte an, das Thema "sozialer Aufstieg" auch bei der Klausurtagung des Bundesvorstands der SPD am kommenden Wochenende anzusprechen.
Über Sarrazins Verbleib in der SPD wird nun die Landesschiedskommission befinden. An Sarrazins Seite steht als Rechtsbeistand ein aktives Senatsmitglied: Justiz-Staatssekretär Hasso Lieber. Frühere Vertraute Sarrazins haben inzwischen genug von ihrer Partei: Am Dienstag wurde bekannt, dass sein früherer Staatssekretär Klaus Teichert seinen Austritt erklärt hat.