Die Finanzkrise hat die deutsche Wirtschaft fest im Griff. Wenn es den Menschen schlecht geht, geht es traditionell einer Branche sehr gut - dem Pfandleihwesen. Wenn der Geldbeutel leer ist, kann man hier sehr leicht mit kleineren Wertgegenständen wieder flüssig zu werden.
Die Pfandleiher haben keine Zeit. Im "Leihhaus am Görlitzer Bahnhof" in Kreuzberg stehen die Kunden von morgens bis abends Schlange, nur zwischen 13 und 14 Uhr ist Mittagspause, "und zwar pünktlich".
Bei "Pfandkredit Neukölln" an der Karl-Marx-Straße herrscht ebenfalls Stress. Gerade wird ein Berg von nicht abgeholten Uhren, Ketten, Laptops, DVD-Rekordern für die Auktion vorbereitet. "500 Pfänder", ruft der Juniorchef ins Telefon, "wir sind nur ein kleiner Familienbetrieb, verstehen Sie!" Der nächste Pfandleiher fleht: "Schreiben Sie nichts!" Er fürchtet um den Ruf seiner Branche.
Das deutsche Pfandleihwesen vermeldet Rekorde. Eine Million Menschen hätten sich in Deutschland im vergangenen Jahr auf diese Weise einen Kredit geholt, so der Zentralverband des deutschen Pfandkreditgewerbes, mehr als je zuvor. "Die 200 deutschen Pfandkreditbetriebe setzen auf weiteres Wachstum", heißt es hoffnungsfroh in einer Pressemitteilung.
Archaisches Tauschsystem
Aber auch wenn die Pfandleiher ihr Geschäft als "moderne Dienstleistung" anpreisen, bleibt es doch eine Tabuzone. Der Verlust der Kreditwürdigkeit und der menschlichen Würde liegen nah beieinander. Viele Leihhäuser arbeiten diskret. An der Mommsenstraße im edelsten Teil Charlottenburgs wird Geld hinter feudaler Jugendstilfassade verliehen; eine Firmenkette hat sich den Tarn-Namen "Exchange" gegeben. Es gibt ein Leihhaus nur für Münzen, im Internet eins für Waffen und immer mehr für Autos. Einer hat sich sogar auf Luxuswagen spezialisiert. Er beleihe nur "Spielzeug", erklärt er großspurig, Gemüsetransporter und gammelige Gebrauchtwagen interessieren ihn nicht. Wer zu ihm komme, habe eher Probleme mit der Steuerfahndung als mit dem Sozialamt. Adresse und Namen will er nicht nennen, seine Kunden fänden ihn auch so. "Die wollen das Geschäft diskret abwickeln."
Das "Leihhaus am Görlitzer Bahnhof" an der Wiener Straße wirbt groß an der Hauswand für sich, doch der Weg hinein führt über die Hofeinfahrt und eine knarrende Holztreppe in den ersten Stock. Oben trennt eine Glasscheibe die Welten. Dahinter steht Klaus Grohmann, ein Herr in grauem Zwirn und Krawatte. Davor, an zwei Durchreichen im Stil eines Postamtes der 50er-Jahre, stehen Menschen Schlange. Die Blicke ins Nichts gerichtet, in den Händen leere Taschen, große Pakete oder gelbe Pfandzettel, warten sie im "Leihhaus am Görlitzer Bahnhof", bis sie an der Reihe sind.
Eine sehr alte Dame im Pelz, mit Perücke und rosa geschminkten Lippen drängelt ein bisschen hinter einem kräftigen Mann im Blaumann. Zwei müde Mütter schieben ihre halb erwachsenen Söhne vor. Die eine trägt Kopftuch, der Sohn soll für sie aus dem Arabischen übersetzen. Sie will Goldschmuck beleihen. Die andere Frau hat graue Strähnen im Haar. Ihr Sohn trägt große Ringe im Ohr und einen gigantischen Flachbildfernseher im Karton.
Klaus Grohmann zieht die Glasscheibe ein Stück hoch. Er reicht dem Jungen eine Dreiersteckdose: "Bitte mal anschließen", es klingt fast symbolisch, fast so, als ginge es um einen Anschluss an das Leben, das der junge Mann gerade vorübergehend verlässt. Dieser packt das Gerät mit düsterer Miene aus und schaltet es ein letztes Mal ein. Als seine Mutter eilig die Geldscheine aus der Durchreiche fischt, wartet er schon draußen.
Die alte Dame im Pelz achtet genau darauf, dass niemand sieht, wo genau ihre frisch erworbenen Geldscheine verschwinden. Sie murmelt etwas vom Krieg, den Russen und der Enkelin. "Ich tue es für das Kind!" Warum nicht zur Bank gehen? Falsche Frage. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Armut und Geldnot.
Das Hin und Her von Dingen und Scheinen am Tresen geht schnell. Ohne überflüssige Worte. Die Menge rückt füßeschlurfend vor. Am Monatsende stehen sie bis weit ins Treppenhaus. "Abholen oder verlängern", fragt Grohmann jeden, ohne Fragezeichen. Momentan verlängern die meisten. Gut für ihn. Er lebt von den Zinsen und Gebühren.
Eine Frau Mitte 30 in Schiebermütze und Pali-Tuch schiebt einen Laptop in die Durchreiche. Sie preist das verkratzte Gerät an: "Das ist nur Staub". Grohmann taxiert den Wert. Zu seiner täglichen Lektüre gehören Angebote der Elektronikketten und der Goldpreis.
Ein weißhaariger Herr lässt mit jovialer Geste Pfand- und Geldscheine in die Durchreiche segeln: "Ick kann mir wat leisten, meene Rente wurde erhöht - um sechzehn Euro!" Er wartet vergebens, dass jemand lacht. Grohmann pult zwei Armbanduhren aus dem Zellophan, entfernt das gelbe Schildchen. Der Kunde legt sich eine ums Handgelenk. "Oh, Datum jeht noch", sagt er überrascht, als gäbe es in einer Pfandleihe keine Zeit.
Es ist tatsächlich ein bisschen so. Einmal geschätzt, behält das Pfand im Leihhaus seinen Wert, bis es ausgelöst wird. Auf dem Wert basiert die verliehene Summe. Ein Tauschsystem, das archaisch erscheint in einer Welt, in der Preise und Werte immer rascher verfallen, wie Grohmann und seine Kollegen beklagen. Er beleiht vor allem Schmuck und Technik, aber auch Musikinstrumente. "Die Leute überbrücken mit dem Geld die Rente, den Lohn, sie zahlen die Stromrechung oder Schulden", sagt Grohmann, "sie verlängern einfach das normale Leben". Längst nicht alles, was teuer ist, wird beliehen. Bei Computern und Handys sei der Preisverfall zu groß, sagt Grohmann, Pelze und Teppiche nehme schon lange keiner mehr. Ebenso Kleidung. Das sprichwörtliche letzte Hemd lässt sich nicht mehr versetzen. Immer mehr Kunden bringen Tand, den man ihnen angedreht hat: "Unglaublich! Das liegt an dieser sensationsheischenden Werbung." Die Wahrheit über "echtes" Gold bringt ein Holzkästchen an den Tag. Es enthält Fläschchen mit Säuren. "Gold", das sich angreifen lässt, fällt durch. Zu Grohmann kommen in letzter Zeit immer mehr Selbstständige, die keinen Kleinkredit von den Banken mehr bekommen, "Monteure, Gemüsehändler, Leute aus dem Mittelstand, die Löhne zahlen müssen oder Material". Die Krise? Nein, er wird nachdenklich, das habe schon früher begonnen. Vielleicht habe aber auch die ganze Krise viel früher begonnen.
Schon immer sind gut verdienende Beamte aus anderen Bezirken zu ihm gekommen, sagt er, ebenso solche, die Arbeit und Wohnung verloren haben. Er bedient sie alle. Pfandleiher fragen nicht nach Schuld, nach "Bonität" und anderen Euphemismen der Bankenwelt. Der Personalausweis reicht. Und bei Neuwaren eine Quittung. Das Pfandgeschäft, oft gehässig als "zweitältestes Gewerbe der Welt" geschmäht, ist keines, das dem Menschen die Ehre abkauft.
Neukölln ist für sie kein Problemkiez
Bei "Pfandkredit Neukölln" an der Karl-Marx-Straße gibt es sogar schon Kredite ab fünf Euro. "Wenn Sie damit jemandem helfen können, sich Essen einzukaufen, dann tut man das gern, auch wenn wir daran nichts verdienen", sagt Daniel Eichner, der Juniorchef. Sein Geschäft liegt gut sichtbar am U-Bahnhof Rathaus Neukölln, ein Schaufenster zeigt gebrauchten Schmuck, das Innere erinnert an eine helle, moderne Bank. Doch Banken gibt es nicht mehr viele hier, das Geld kommt meist vom Arbeitsamt, von Freunden, der Familie. Oder aus dem Leihhaus. Sie hätten bewusst aus der "verschämten Ecke" im ersten Stock herausgewollt, als sie vor zehn Jahren in diese Räume zogen, sagt Eichner. Er erklärt, warum der "Problemkiez" Nord-Neukölln für sie keiner ist. "Das Beleihen von Wertgegenständen ist in den meisten Kulturen verbreitet, man muss nur wissen, wie man mit den Menschen umgeht." Deutsche, hat er beobachtet, "leihen sich eher etwas von Fremden als in der Familie. Im islamischen Kulturkreis bekommen die Frauen Gold zur Hochzeit, damit sie in Notzeiten die Familie unterstützen. Und Asiaten borgen sich oft das Gold in der Familie, um dann damit zu uns zu kommen". Das klingt nach viel Lebenserfahrung für einen, der wie Eichner gerade 33 Jahre alt ist. Er betreibt sein Geschäft zusammen mit den Eltern. Er hat Möbeltischler gelernt, eine Ausbildung zum Pfandleiher gibt es nicht. Vielleicht erklären sich so die vielen Familienbetriebe.
Klaus Grohmann vom "Leihhaus am Görlitzer Bahnhof" steht seit 30 Jahren hinterm Tresen, seine Frau sogar mehr als 40. Es waren ihre Urgroßeltern, die das Leihhaus 1875 gründeten. Inzwischen ist auch hier der Sohn mit eingestiegen. Viele der Kunden beleihen denselben Gegenstand wieder und wieder, manche kommen seit Jahrzehnten, sagt Klaus Grohmann. Das Pfandgeschäft sei beständig, die Zeiten längst vergessen, als nach dem Krieg der Schwarzmarkt zur Konkurrenz wurde. Ebenso die Durststrecke nach der Währungsreform 1949, als vielen Leihhäusern das Bargeld ausging.
Ohne das geht es bis heute nicht, sagt er. "Pfandleiher galten bei den Banken noch nie als kreditwürdig." Umgekehrt dürfte es inzwischen ähnlich aussehen - in dem handfesten Wertesystem der Pfandleiher kann wohl kaum noch eine Bank bestehen.
Der wahre Seismograf der Krise, sagt Klaus Grohmann, seien nicht Pfänder in Rekordzahl. Sondern jene, die nicht wieder abgeholt würden. Etwa neun Prozent gingen in die Versteigerung, "das ist völlig normal". Die Auktionen haben auch für ihn etwas Endgültiges. "Wer nichts mehr hat, kann auch nichts mehr beleihen. Und wir verlieren einen Kunden." Oder, wie es sein junger Kollege aus Neukölln im schönsten Bankerdeutsch formuliert: "Armut ist für uns wirtschaftlich uninteressant."
In seinem Geschäft, sagt Grohmann, habe sich über die Jahrzehnte nicht viel geändert, und er meint nicht nur die antiquierte Einrichtung. Gab es je Überfälle, Bedrohungen, ist der soziale Abstieg nicht bei ihm angekommen? Er macht wieder dieses unbeteiligt freundliche Gesicht, das er zwischen sich und die Welt schieben kann wie die Glasscheibe seiner Durchreiche. Die schärfste Waffe, die er gegen die Widrigkeiten der Welt bereithält, ist ein Blütenduft-Raumspray. Es steht griffbereit unterm Tresen.