Gründerzeit

Wo in Berlin die wilden Start-ups wohnen

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Sören Kittel

Foto: Reto Klar

Zwischen Betahaus und Social Impact Lab: In Berlin arbeiten junge Unternehmen gemeinsam in speziellen Bürohäusern.

Soeben haben die Mitarbeiter des Start-ups einfach.de gezeigt, wie sie mit ihrer Idee das Service-Business in Berlin komplett umkrempeln wollen. Jetzt sind Sonja Philipp und Martin Thiel dran. Doch die beiden 27-Jährigen vom Start-up 6people haben ein Problem.

Sie wollen den rund 80 Zuhörern nicht zu viel von ihrer Idee verraten. Martin Thiel sagt nur: „Wir wollen ein neues Getränk auf den Markt bringen, das eine spezielle Funktion hat.“ Es soll keinen Alkohol enthalten und nicht wie der Szene-Drink „Club Mate“ schmecken. Selbst über die Farbe des Getränks wollen sie nichts sagen. Aber Thiel verspricht: „Wer heute Abend an unserem Marktforschungs-Spiel teilnimmt, der erfährt mehr.“

Solche Vorträge sind so oder ähnlich seit vier Monaten im Betahaus in Kreuzberg zu hören. Jeden Donnerstagmorgen sprechen in dem Gemeinschafts-Bürohaus am Moritzplatz junge Start-ups von ihren Ideen. Es gibt Croissants, Marmelade, guten Kaffee und jede Menge Ideen. Madeleine Gummer von Mohl ist eine der Leiterinnen des Hauses und hat auch schon oft Vorträge gehört, von Gründern, die noch weniger von ihrer Idee erzählen wollten als Martin Thiel.

Dabei geht es im Betahaus darum, Wissen miteinander zu teilen, schließlich sitzen bei diesen Treffen auch oft Stars der Szene im Publikum, die sich einfach mal anschauen wollen, was die jungen Leute so Neues treiben. Seit fast vier Jahren ist dieses Frühstück für junge Gründer ein regelmäßiger Treffpunkt, um Tipps zu bekommen und auch drängende Fragen zu diskutieren. Danach gehen die meisten in die Büros, die auf den vier Stockwerken hinter dem Café liegen, und arbeiten weiter.

„Ach, da bringt dann jeder seine Schreibmaschine mit?“

Madeleine Gummer von Mohl hat diesen Erfolg des Projekts Betahaus im April 2009 nicht voraussehen können. Damals saßen die meisten Gründer noch in Cafés in Mitte und Kreuzberg und arbeiten dort an ihren Laptops. „Als wir angefangen haben“, sagt die 31-Jährige, „wusste keiner, was das ist.“ Sie seien Pioniere gewesen auf dem Feld der Gemeinschafts-Bürohäuser, die im Gründer-Jargon „Co-Working-Spaces“ genannt werden. „Als ich meiner Großtante davon erzählte, hat sie gefragt: ‚Ach, da bringt dann jeder seine Schreibmaschine mit?’“, sagt Gummer von Mohl. Und im Prinzip habe die Tante damit Recht gehabt: In den Co-Working-Spaces arbeiten viele Menschen an unterschiedlichen Projekten, sitzen aber zusammen in einem großen Raum. Das können Anwälte sein, Journalisten, Grafiker, Blogger, Übersetzer oder Videokünstler. Die Kreativen in den Berliner Cafés gibt es immer noch, aber viele sitzen inzwischen auch in richtigen Büros.

Martin Thiel von 6People jedenfalls ist genau deshalb ins Betahaus gekommen. Vorher saß sein Team in einem anderen Co-Working-Space in Prenzlauer Berg, inzwischen gibt es in fast jedem Stadtteil solche freien Büro-Häuser. „Doch dort gab es nicht so eine Gemeinschaft“, sagt Thiel. Jeder habe mehr für sich gearbeitet. „Hier wurden wir immer wieder gefragt, ob wir noch etwas brauchen.“ Das sei zuerst irritierend gewesen, aber inzwischen finde er das gut. Seine Kollegin Sonja Philipp kennt auch das Gegenteil. Sie habe Zuhause lange an ihrer Magisterarbeit geschrieben. „Da stellt man sich den Wecker und muss sich immer selbst motivieren, an den Schreibtisch zu gehen und nicht zwischendurch ständig Pausen zu machen“, sagt sie. Hier sei sie umgeben von einer angenehmen Betriebsamkeit – die auch inspirieren kann.

Kostenloses Coaching, Mentoring und eine Fachberatung

Als einer der ersten Co-Working-Spaces gilt das „Building 20“ der US-Universität „M.I.T.“. Das Haus in Massachusetts sollte eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissen werden. Es war alt, stand abseits der großen Institute und genügte nicht einmal den Feuerschutz-Standards. Zudem war es eng, dunkel und hatte ein verwirrendes Gänge-Labyrinth. Deshalb bekamen dort in den 50er-Jahren kleine Forschungsbereiche ein Büro: Linguisten saßen Tür an Tür mit Physikern oder Akustikern. Sie lernten einander in den Pausen und auf dem Flur kennen, und so kam es ganz nebenbei zu interdisziplinärer Forschung: Die Mikrowelle und die Hochgeschwindigkeitsfotografie wurden hier erfunden, und der Elektrotechniker Amar Bose traf hier auf die Menschen, die ihm später seine heute berühmten „Bose“-Lautsprecher bauten.

Das „Building 20“ wurde 1998 abgerissen, aber das Konzept findet sich inzwischen weltweit wieder. Zum Beispiel eben im Betahaus in Berlin. „Erst gestern kam meine Büronachbarin“, sagt Madeleine Gummer von Mohl, „und fragte, ob ich wüsste, wie das mit den Rechten von Videos auf einer Webseite sei.“ Da passte es, dass gleich einen Raum weiter eine Juristin sitzt, die ihre Doktorarbeit über Medienrecht schreibt.

Wenn aber das Team größer als zehn Leute wird, ziehen viele Gründer in andere, eigene Büros. Oder in spezialisierte Co-Working-Spaces, sogenannte Inkubatoren, in denen Gründer beisammen sitzen, die mit ihren Ideen ein ähnliches Ziel verfolgen, und dabei von Experten unterstützt werden. So zum Beispiel das „You is now“ von Immobilienscout24 am Ostbahnhof oder das Social Impact Lab am Kottbusser Tor. „Wir bieten einen kostenlosen Arbeitsplatz sowie kostenloses Coaching, Mentoring und eine Fachberatung“, sagt Norbert Kunz, Geschäftsführer des Social-Impact-Lab-Betreibers IQ Consult. Rund 25 Teams haben sich dort gerade angesiedelt, für maximal acht Monate. Gemeinsam entwickeln sie soziale Innovationen, IQ Consult fördert die jungen Unternehmen, Gewinne werden in neue Konzepte investiert. Ähnlich wie im Betahaus gibt es auch im Social Impact Lab eine große Küche, wo sich die einzelnen Teams treffen, sowie feste Termine, an denen sie sich vernetzen. „Auch für die Sauberkeit sind die Teams selber zuständig“, sagt Kunz.

Eine Tür ist eine Tür

Diese neue Arbeitsatmosphäre hat nichts mit den Büros aus den 60er-Jahren gemein, in denen Menschen hinter Plastiktrennwänden an ihrem Projekt arbeiteten. An all diesen Orten sind die Räume hell, die Schreibtischen groß und das WLan überall verfügbar. Madeleine Gummer von Mohl vom Betahaus kennt viele von diesen themenspezifischen Inkubatoren und hat einige wie „You is now“ auch bei der Innenarchitektur beraten. „Es gibt auf diesem Gebiet immer wieder Veränderungen“, sagt sie, „die bei Fachtagungen von Co-Working-Spaces besprochen werden.“ So habe sie erst kürzlich gemerkt, dass der „Silent Room“, in dem nicht telefoniert werden darf, im Betahaus nicht mehr so häufig genutzt wurde. Inzwischen heiße er „Not-Silent Room“. Wer Ruhe brauche, könne sich auch die Kopfhörer von Bauarbeitern aufsetzen, die den Lärm abhalten.

Letztlich aber gibt es in allen Großraumbüros Regeln, die zum Teil erst hier entstanden sind. Zum Beispiel diese: Wenn beide Kopfhörer im Ohr stecken: nicht ansprechen. Wenn einer im Ohr steckt: nur ansprechen, wenn es wichtig ist. Keine Kopfhörer im Ohr bedeutet: frage mich! Es gibt noch andere Regeln, die sich um den Konsum von Kaffee (Flatrate für 25 Euro im Monat) oder um Zigaretten (nur draußen) drehen. Das wichtigste Gesetz für diese im Allgemeinen so offenen Büros aber lautet: Eine Tür ist eine Tür.

Vorzüge der neuen Bürokultur

So, wie sich die Regeln der Zusammenarbeit verändern, so entwickeln sich auch die Arbeitsorte ständig weiter. Simon Schaefer beispielsweise wird in diesem Jahr mit seinen Kollegen einen Co-Working-Space in Berlin eröffnen, der das Thema Co-Working auf eine andere Ebene heben soll. Aus einer ehemaligen Destillerie an der Brunnenstraße im Norden von Mitte will er mit der „Factory“ ein Gemeinschaftsbüro machen, das sechsmal so groß ist wie das Betahaus und schon jetzt Internet-Unternehmen wie Soundcloud und Mozilla beherbergt. Auf den insgesamt 12.000 Quadratmetern soll es neben einem Basketballplatz, einem Fitnessraum und einer Kantine auch kleineren Start-ups die Gelegenheit geben, sich mit den Großen zu vernetzen. Für die Innenarchitektur haben sie sich an den Bürohäusern ihres Partners Google orientiert sowie von Facebook und Youtube inspirieren lassen.

Um zu sehen, was das bedeutet, muss man sich mit Simon Schaefer nur auf eine der vielen Dachterrassen des Komplexes stellen, und schon beginnt der 35-Jährige von den Vorzügen der neuen Bürokultur zu schwärmen: „Wir haben unser Treppenhaus nach außen verlegt“, sagt er, „so gibt es für jeden auf jedem Stockwerk eine Möglichkeit, sich nach draußen zurückzuziehen und zu reden.“ Doch auch innerhalb der Großraumbüros wird es auf jeder Etage bis zu zehn kleine und drei große Räume geben, in denen Sitzungen abgehalten werden können – ob mit sechs Teilnehmern oder allein mit einem Computer, der mit einem Kollegen in Indien oder den USA verbunden ist.

Sechs Monate im Betahaus gebucht

Amtssprache auf den Fluren ist in den meisten Großraumbüros in Berlin Englisch, das wird auch beim Frühstück vom Betahaus deutlich. Für Martin Thiel, Sonja Philipp und die anderen vier von „6people“ war das am Anfang eine Überraschung, denn für ihr Marketingspiel, mit dem andere mehr über ihr geheimes neues Getränk erfahren können, suchen sie nur deutsche Mitspieler. „Aber wir haben das Co-Working praktisch in unseren Businessplan mit aufgenommen“, sagt Martin Thiel. Sechs Monate haben er und seine Kollegen zunächst im Betahaus gebucht. Ob sie danach hier bleiben, in ein größeres Büro ziehen, von Zuhause arbeiten oder einfach wieder ins Café an den Rosenthaler Platz gehen – das besprechen sie dann.

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