Elf Jahre alt war der Messdiener Winfried Fesselmann, als ihn ein Kaplan während einer Ferienfreizeit in Essen sexuell missbrauchte. Das Verbrechen flog auf, der Geistliche wurde 1980 versetzt. Ins Erzbistum München, dem Joseph Ratzinger damals als Bischof vorstand. Der Priester durfte weiterarbeiten, auch mit Kindern.
„Ratzinger war direkt in den Fall verwickelt“, sagt Fesselmann. Darum will er mit anderen Missbrauchsopfern aus katholischen Einrichtungen den heutigen Papst auf jeder seiner Reisestationen in Deutschland an das dunkle Kapitel Missbrauch durch Geistliche erinnern. Er selbst wird immer noch von dem Schrecken aus der Kindheit heimgesucht. Ärzte attestierten ihm eine Posttraumatische Störung. Er ist seit zwölf Jahren arbeitslos. Sein Peiniger durfte weiter im Kirchendienst arbeiten.
Erst nachdem Morgenpost Online die systematischen Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg öffentlich gemacht hatte und in der Folge eine ganze Welle von Enthüllungen durch Deutschland gebrandet war, brachte der ehemalige Messdiener im März 2010 auch seinen Fall und die Mitverantwortung des Bischofs Ratzinger ans Licht. Erst jetzt suspendierten die Kirchenoberen den Priester. Bis heute lebt er in München, bezieht Gehalt von der Kirche. „Und die Opfer leben von Hartz IV“, sagt Fesselmann bitter. Der Vatikan habe seine wiederholten Bitten nach einem Gespräch mit dem Papst ignoriert. Nur das „Almosen“ von 5000 Euro habe er wie andere Missbrauchsopfer von der Kirche erhalten.
Protest vor der Hedwigskathedrale
Der Mann aus dem Ruhrpott hat sich am Mittwoch wortgewaltige Unterstützung zu einer kleinen Pressekonferenz auf den Stufen der Hedwigskathedrale am Bebelplatz mitgebracht. Barbara Blaine, Präsidentin des SNAP-Netzwerkes, das nach eigenen Angaben 12.000 „Überlebende des Missbrauchs durch Priester“ sowie deren Unterstützer versammelt, verlangte vom Papst, auf das geplante Geheimtreffen mit ausgewählten Missbrauchsopfern zu verzichten. Solche Gesten seien bedeutungslos und dienten nur dazu, Papst und Kirche in ein besseres Licht zu rücken. Stattdessen solle der Papst dafür sorgen, dass Kinder wirksam geschützt würden.
„Während der Papst Deutschland besucht, werden Tausende von Kindern weltweit von Priestern und Ordensleuten missbraucht“, sagt die Amerikanerin. Die Kirche müsse die Archive öffnen, missbrauchende Priester feuern und die Täter der Polizei übergeben. Allein in Deutschland geht SNAP von 300 pädophilen Geistlichen aus. NAP, 1988 in den USA gegründet, hatte Anteil an den großen Entschädigungsprozessen, die die Kirche in den USA und anderen angelsächsischen Ländern die Kirche Millionen gekostet haben. Jetzt strengt SNAP eine Klage gegen die Kirche vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag an, wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Blaine erinnerte an den Missbrauchsskandal in einem Heim für gehörlose Kinder im US-Staat Wisconsin. Ratzinger soll als Chef der Glaubenskongregation schon 1996 von dem Missbrauch erfahren, aber nichts unternommen haben.
Mathias Bubel, den Jesuiten während seiner Schulzeit am Berliner Canisius-Kolleg missbraucht haben, wird den Papst an diesem Donnerstag am Flughafen auf besondere Weise willkommen heißen: „Ich halte ein Schild hoch mit einem Pfeil zur Justizvollzugsanstalt Moabit“, sagt Bubel. Der Papst müsse sich der Justiz gegenüber rechtfertigen wegen der „Vertuschung und Verschleierung von Zehntausenden Straftaten“. Auch sein Peiniger, der Jesuitenpater Wolfgang S., war der Glaubenskongregation, deren Chef Ratzinger war, früh bekannt. Dieser hatte 1991 in seinem Laisierungsverfahren gestanden, in Hunderten von Fällen Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts missbraucht zu haben. Solche Akten werden nach dem Ausscheiden aus dem Priesterstand im Vatikan verwahrt. „Keiner traut sich zu sagen, da kommt ein Mittäter“, sagt Missbrauchsopfer Bubel.
Beratung in Kreuzberg
In der Kreuzberger Beratungsstelle Tauwetter, die Männer mit Missbrauchserfahrungen unterstützt, sind im vergangenen Jahr nach Angaben des Psychologen Thomas Schlingmann etwa 20 Prozent der 300 hilfesuchenden Männer in katholischen Einrichtungen verletzt worden. In vielen dieser Fälle hätten die Täter nicht nur wie sonst oft bei Missbrauch ihre Autorität ausgenutzt. „Da schwingt oft noch etwas Religiöses, Geistiges mit“, sagt der Berater. „Dann wird es komplizierter“. Denn seinen Sportverein könne man wechseln, seine Kirche nicht. Deswegen sei es für viele, die sich nicht von ihrer Kirche abkehren wollen, sehr schmerzvoll, sich mit ihren Erfahrungen auseinanderzusetzen. Gerade für diese Opfer sei es wichtig, wie sich die Kirche und ihr Oberhaupt zum Missbrauch positionieren.