Berlins Jugendämter schlagen Alarm: In einer Stellungnahme erklärten die Mitarbeiter, dass sie die vorgeschriebenen Standards zum Kinderschutz nicht mehr einhalten können. Sie seien total überlastet.

Die Jugendämter können die vorgeschriebenen Standards zum Kinderschutz nicht mehr einhalten. Das teilten die Mitarbeiter der Sozialpädagogischen Dienste am Donnerstag in einer gemeinsamen Stellungnahme mit. Bereits vor einem Jahr hatten die Sozialpädagogischen Dienste, erste Anlaufstelle im Falle einer Kindeswohlgefährdung, in einem Brandbrief darauf hingewiesen, dass sie ihrer Aufgabe nur noch ungenügend nachkommen können.

Im Dezember hatten sie als Hilferuf weiße Tücher aus den Fenstern gehangen. Doch seither ist nichts passiert. „Die Folge ist, dass viele Mitarbeiter die Sozialpädagogischen Dienste verlassen, weil sie überfordert sind. Durch diese hohe Fluktuation verschärft sich das Problem weiter“, sagt Andreas Kraft von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Leidtragende seien die Kinder. Jeder Fall, in dem ein Kind schwer misshandelt werde, mache die Mitarbeiter der Jugendämter betroffen.

Gründe für die Überlastung seien steigende Fallzahlen, eine wachsende Zahl an Kindern und neue Kinderschutzvorgaben, die vor allem mehr Dokumentation erfordern würden. Barbara Berry arbeitet seit 20 Jahren im Sozialpädagogischen Dienst des Jugendamtes Mitte. Sie betreut derzeit 80 Familien, in den meisten würden zwei bis drei Kinder leben. Darunter seien psychisch kranke oder drogenabhängige Eltern, Schulschwänzer oder Fälle von häuslicher Gewalt. 80 Fälle seien eindeutig zu viel. Die Hälfte wäre maximal verkraftbar, wenn man die Familien tatsächlich ausreichend betreuen wollte. „Regelmäßige Kontakte sind gar nicht möglich, wir können nur noch reagieren, wenn von der Polizei oder der Schule Meldungen kommen, dass in der Familie wieder etwas vorgefallen ist“, sagt Barbara Berry.

Treffen mit Familien müssen wegen Personalmangel ausfallen

Dabei sei es beispielsweise in Fällen häuslicher Gewalt vorgesehen, dass die Familie acht Wochen nach dem Vorfall noch einmal besucht wird. Das sei gar nicht möglich. Auch die eigentlich vorgesehenen regelmäßigen Treffen mit den freien Trägern, die in den Familien arbeiten, würden oft ausfallen. „Wir können nur noch das machen, was im Akutfall nötig ist“, sagt Berry.

Was das bedeutet, beschreibt Barbara Berry, die im Soldiner Kiez tätig ist, mit dem Tagesablauf vom vergangenen Dienstag: „Innerhalb von vier Stunden kamen acht Neueingänge“, sagt sie. Bei einem Kind meldete die Schule blaue Flecke, das Gesundheitsamt meldete drei Fälle von Verwahrlosung, zwei junge Erwachsene brauchten Hilfe, weil sie obdachlos waren, eine verzweifelte Mutter kam mit ihrem verhaltensauffälligen Kind, das die Schule nicht mehr unterrichten wolle, und zwei Scheidungsfälle kamen vom Gericht.

Offen stellen in Jugendämtern können nicht besetzt werden

Aktiv werden konnte Barbara Berry an diesem Tag nur bei dem Kind mit den blauen Flecken. Sie besuchte die Familie und die Schule, um entscheiden zu können, ob das Kind in der Familie bleiben kann oder in Obhut genommen werden muss. „Alle anderen Fälle müssen warten, obwohl auch eine Verwahrlosung schnelles Handeln erfordert“, sagt die Sozialpädagogin. Dabei sei sie noch im Vorteil, weil sie langjährige Erfahrung habe. Eine junge Kollegin brauche mehr Zeit, wenn sie etwa entscheiden soll, ob eine Inobhutnahme nötig ist. Viele offene Stellen könnten nicht besetzt werden, weil Nachwuchskräfte vor der Verantwortung zurückschrecken.

Am 30. April wollen die Mitarbeiter der Jugendämter unter dem Motto „Kinderschutz braucht Zeit und Geld“ vor der Senatsbildungsverwaltung für mehr Personal demonstrieren.