Der große Zeiger der Uhr geht gerade auf ein Uhr mittags zu, als Berlins Bäderchef eine gute Idee hat: „Wir können im Strandbad Wannsee einbrechen.“ An einem Montag hat hier in der Gegend nicht viel auf. Und bei der Kälte geht es jetzt einfach darum, einen einigermaßen warmen Ort zu finden, wo man vielleicht noch einen Kaffee trinken kann. Das Strandbad Wannsee ist fast um die Ecke. „Da kochen wir uns was! Es gibt bestimmt ein paar alte Dosen“, gehe ich auf den Vorschlag des Bäderchefs ein.
Ole Bested Hensing in seinem langen, dunklen Wollmantel wirkt auf den ersten Blick allerdings nicht wie einer, mit dem man über eine Mauer klettert und in ein leeres Freibad einbricht. Der unten mit einer Pulle Bier steht, während man selber zum Zehn-Meter-Brett hinaufsteigt und dann in ein Becken springt, in dem kein anderer schwimmt. Aber vielleicht ist Hensing ja doch so ein Typ. Wir werden sehen.
Die Aufregung, die er mit den Bäderbetrieben in den vergangenen neun Monaten seit seinem Amtsantritt verursacht hat, zeugt zumindest von einer gewissen Risikobereitschaft. Erst zogen die Eintrittspreise an. Dann gab es eine neue Tarifstruktur, die das Baden in den Mittagsstunden zwar billiger machte, zu anderen Zeiten aber auch wieder teurer. Die Familienkarte ist günstiger, aber auch nur, wenn sich zwei Erwachsene und fünf Kinder zusammenfinden.
„Die Schwimmbäder sollten moderner und gefälliger sein“
Auf der anderen Seite gehen in Berlin einfach nicht mehr genug Menschen schwimmen. Fast vier Millionen weniger sind es in den letzten Jahren geworden, der Kostendeckungsgrad liegt bei gerade mal 23 Prozent – 15 Millionen Euro Einnahmen stehen 65 Millionen Euro Kosten gegenüber. Untersuchungen haben, so Hensing, ergeben, dass die Bäder bevorzugt von den oberen gesellschaftlichen Schichten genutzt werden.
Eigenartig, dabei hatte ich gedacht, dass der Typ, der mich im Wilmersdorfer Hallenbad jedes Mal mit seinen wuchtigen Schwimmstößen zur Seite zu drängen versucht, eher zur Sorte Disko-Türsteher gehört – und nicht Anwalt.
Hensing glaubt nun, dass die anderen, die nicht schwimmen gehen, es deshalb nicht tun, weil es kein richtiges Angebot für sie gibt. Weil es keine „erlebnisorientierten Bäder“ gibt. „Die Schwimmbäder sollten mehr dem gesellschaftlichen Anspruch entsprechen, moderner und gefälliger sein.“ Falsch sei es, sich auf „sportorientierte Bäder“ zu konzentrieren. „Wir brauchen Vielfalt. Das gehört sich für eine Großstadt. Im Moment werden einige Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen, das geht nicht.“
In der Bademode bleibt der Bäderchef konservativ
Auch die Zahl der Saunabesucher ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Hensing erzählt, wie er im Neuköllner Bad Ursachenforschung betrieben hat. „Mich wunderte immer, dass die Saunanutzung relativ schlecht ist. Es gibt in Neukölln ja einen sehr hohen muslimischen Bevölkerungsanteil. Dann habe ich mal nachgefragt: Bietet ihr auch Frauensaunatage an? Ja, machen sie. Dann habe ich auf die Liste geschaut und festgestellt, da sind nur Männer beschäftigt. Wenn Männer Aufgüsse in der Sauna bei muslimischen Frauen machen, dann kommen die gar nicht erst. Das haben wir jetzt geändert: Eine Kollegin aus Charlottenburg ist jetzt nach Neukölln gewechselt.“
Wo wir uns mit Hensing verabredet haben, ist Neukölln weit weg. In Kladow spürt man kaum etwas von der Großstadt Berlin. Es ist eher so, als ob man auf dem flachen Land untergekommen ist. An heißen Sommertagen schlägt man sich hier nicht in vollen Freibädern herum, sondern aalt sich an Seen im Schatten großer Eichen. So macht es auch Hensing, der Groß Glienicker See ist einer seiner Lieblingsorte. Der Mann zieht in der heißen Zeit das See- dem Chlorwasser vor. Er hat, auch das will man doch mal von einem Bäderchef wissen, fünf Badehosen, seine liebste ist schwarz. Er mag es nicht, wenn sie bis zu den Knien gehen. Bei der Bademode bleibt der Bäderchef tapfer konservativ.
Als Treffpunkt hat Hensing den Gutspark Neukladow gewählt, ein schönes, verborgenes Stück Grün am Ufer der Havel. Im 18. Jahrhundert hatte König Friedrich Wilhelm Ill. es seinem hoch geschätzten Kabinettsrat Anastasius Ludwig Menken geschenkt. Der Großvater von Otto von Bismarck galt, weil er moderne Verwaltungsmethoden im preußischen Staat einführte, als Reformer. Passt ja: Ein Spaziergang durch den Park eines früheren Reformers mit einem, der auch reformieren will.
Nur in Kladow war noch was frei
Es ist wirklich sehr idyllisch hier. Schade nur, dass das Gutshaus und die angrenzenden Gebäude verfallen. Man habe nach Investoren gesucht, meint Hensing. Was würden Sie denn hier machen?, frage ich ihn. „Ein Riesenschwimmbad bauen natürlich.“
Er hat einen zügigen Schritt. Natürlich sei er ein Spaziergänger, sagt er, wie kann man auch in Kladow leben, ohne einer zu sein. „Im Winter ist es nicht so schön, aber im Sommer genial. Die Kombination, dass man die Großstadt tagsüber hat und danach hier rauskommen kann.“ Es gibt auch noch ein Haus in Florida, wo er seine Ferien verbringt. Der Vorteil ist, dass es dort „keine Jahreszeiten gibt“.
Kladow wurde für Hensing, schon als er 1984 zum Studium nach Berlin gekommen war, erster Wohnort. Er war nämlich damals etwas naiv, hatte gedacht, er könnte fünf Tage vor Semesterbeginn noch einfach mal schnell eine Wohnung finden. Erst als er sich in Charlottenburg in einer Schlange von 200 Menschen bei einer Besichtigung wiederfand, merkte er, dass er falsch lag. Nur in Kladow war noch was frei. Etwas mulmig wurde ihm, als er mit dem Bus zur Wohnungsbesichtigung fuhr und der Fahrer über Lautsprecher erklärte: „Liebe Fahrgäste, wir verlassen jetzt West-Berlin.“ War ja nur ein Witz, aber Hensing dachte: O Gott, ich habe keinen Pass dabei.
Die Mutter ist Dänin, der Vater Norweger
Der Pass. In dem kann man etwas von seinem Leben ablesen. Zum Beispiel, wo ein Teil des Namens herkommt. Ole Bested Hensing wurde im dänischen Esbjerg geboren. Die Mutter ist Dänin, der Vater Norweger. Nur verstanden haben sie sich nicht lange. Als der kleine Ole drei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Zu seinem leiblichen Vater hat er heute keinen Kontakt. Im Haus der Großeltern in Dänemark wuchs er auf, bis die Mutter einen neuen Lebenspartner fand, einen Tischlermeister aus Bremen. Er nahm nicht nur seinen Nachnamen Hensing an (Bested ist der Familienname der Mutter), der Mann wurde auch eine Art Vaterersatz. Aber Dänemark mussten sie verlassen, da war er sechs Jahre alt. Was ein gewaltiger Schritt war.
Als er eingeschult wurde, sprach er nur Dänisch. Und wollte auch nicht akzeptieren, dass er nun des Deutschen mächtig werden sollte und die anderen nicht des Dänischen. „Aber ich konnte mich da nicht durchsetzen“, erklärt er grinsend. Nach einem halben Jahr sprach er fast nur noch Deutsch, in dem Alter lernt man eine andere Sprache auch noch akzentfrei. Wenn er heute nach Dänemark fährt, kann er sich zwar verständigen, aber er habe den Sprachschatz eines Sechsjährigen. Es bleibt eben doch was auf der Strecke.
Bäder-Pressesprecher Matthias Oloew, der mit dem Fotografen einige Meter vor uns läuft, winkt jetzt und mahnt zur Eile. Wir sollen die Fähre noch erreichen. In dieser Jahreszeit fährt sie nicht so oft. Das Komische an Oloew und seinem Chef ist, dass sie sich duzen. Diese skandinavische Umgangsart hat der neue Bäderchef eingeführt.
Sieben Jahre war er Chef von Tropical Islands in Brandenburg
Oloews früherer Chef bot ihm das Du erst nach drei Jahren an – als er aufhörte. Hensing wartete gerade mal drei Minuten des Kennenlernens ab, dann war man schon beim Du. Er mache das völlig unterschiedslos mit allen Angestellten der Bäderbetriebe. Man würde das annehmen, aber manche der älteren Kollegen reagieren auch reserviert. Es wäre ihnen zu eng, meinten sie. Hensing kann das nicht nachvollziehen. Es sei doch manches schwieriger in einer Anstalt wie den Berliner Bäderbetriebe, als er vorher gedacht habe.
Wir betreten jetzt die fast leere Fähre, die uns auf die andere Seite nach Wannsee rüberbringen soll. Die Kontrolleurin kommt, und ich löse eine Fahrkarte für Hensing. Ich frage ihn, warum er sich das eigentlich angetan hat mit dem Job bei den Bäderbetrieben? Das habe er sich auch schon in den letzten Monaten gefragt, meint Hensing. Sieben Jahre war er Chef von Tropical Islands in Brandenburg, das von dem malaysischen Konzern Tanjong betreiben wird. Dort habe er auch 30 Prozent mehr verdient. Der Entschluss muss mit einer beruflichen Sinnfindung zu tun haben: „Es ist halt ein Unterschied, ob man für einen asiatischen Milliardär arbeitet und ihm hilft, seine nächste Milliarde zu verdienen, oder für die Stadt, in der man lebt. Etwas für die eigene Stadt tun, das war der primäre Reiz.“
Dabei bräuchte er sich gar nicht mehr aufreiben. Mit dem Erdgasunternehmen natGAS, das er mit aufgebaut hat, konnte er viel Geld verdienen – die letzten Anteile verkaufte er vor einigen Jahren. Er kann eigentlich zu Hause bleiben oder reisen, lesen, nichts tun. Beneidenswert? Er habe das versucht. Ein paar Monate in Australien gelebt, auch in Amerika, Square Dance habe er mit seiner Freundin gelernt, aber irgendwann war ihm das dann doch „stinklangweilig“. Ist er reich? „Es geht mir eben so, dass ich nicht mehr arbeiten muss.“ Und: „Wenn man das weiß, kann man vielleicht auch ein bisschen offener reden.“ Kann so etwas heißen wie: Ich bin nicht auf euch angewiesen.
In der Jugend jeden Tag zum Schwimmtraining
Geld zu haben macht eben auch sicher. Aber, sagt Hensing, er will hier etwas bewegen und nicht mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt werden. Wir schauen gerade aus dem Fenster der Fähre auf den Flensburger Löwen, der stolz und majestätisch am Seeufer steht. Vielleicht ist das ja auch die Antriebsfeder von Ole Bested Hensing: Stolz.
Er war einmal Leistungsschwimmer. 50 Meter Brust und 400 Meter Rücken, da war er gut. Nur: „Wenn man etwas gewonnen hatte, war die Belohnung, dass man noch eine Stunde mehr trainieren durfte.“ Am Ende war es dann jeder Tag in der Woche. Und wenn man 16 Jahre alt ist, hat man auch noch andere Interessen. Er hat dann aufgehört, ganz plötzlich, keine Lust mehr gehabt. Seine Familie war entsetzt. „Aber ich glaube, das war schon okay. Schwimmen ist auch eine relativ einsame Sportart.“
Nach dem Abitur wollte er unbedingt ins Ausland. Was er konnte? Schwimmen, natürlich. Er bekam einen Job auf Long Island, an der Ostküste der USA. In einer Ferienanlage für Jugendliche suchten sie einen Rettungsschwimmer. Er stieg dort schnell auf, wurde Abteilungsleiter. Er habe, sagt er, mit deutscher Gründlichkeit gearbeitet. Wenn einer der Mitarbeiter etwas nicht so machte wie vorgeschrieben, kritisierte er ihn sofort. Aber so bekam Hensing auch seine erste Lektion im Arbeitsleben.
„Du musst dafür sorgen, dass deine Mitarbeiter Spaß haben“
Eines Tages nahm ihn sein Chef zur Seite und meinte: „Drück doch mal ein Auge zu. Auch wenn es nicht den Vorschriften entspricht, lass sie doch einfach machen.“ Und: „Weißt du, wenn unsere Mitarbeiter keinen Spaß an ihrem Job haben, dann überträgt sich das direkt auf unsere Gäste. Dann haben auch unsere Gäste keinen Spaß. Du bist quasi Entertainer. Du musst dafür sorgen, dass deine Mitarbeiter Spaß haben. Dann brauchst du dich um die Gäste gar nicht mehr kümmern.“
Das habe sich bei ihm tief eingeprägt. „Diese deutsche Gründlichkeit und Regelungswut, die bringt uns in Bereiche, wo die Sache aufhört, Spaß zu machen. Ich beobachte das auch bei den Bäderbetrieben. Da wird auf jedes Komma in einem Personalvertretungsgesetz herumgeritten.“
Und während sich der Bäderchef so in Rage redet, hat er auch wieder festen Boden unter den Füßen. Wir haben die Fähre verlassen und stehen nun an der Rönnebypromenade. Das ist ja heute wie ein Urlaubstag, sage ich. Hensing erzählt daraufhin, wie er bei seinem vorigen Arbeitgeber seine Urlaubswünsche durchgesetzt hat. Die Betreiber von Tropical Islands wollten ihm nämlich nur 20 freie Tage im Jahr gewähren, er aber bestand auf 30. „Sie waren entsetzt und sagten, sie hätten sowieso gedacht, dass ich die 20 gar nicht nehme.“ Schließlich gab man ihm sechs Wochen. Auch eine Form, seine Freizeit durchzusetzen.
Das letzte Foto ist geschossen, das letzte Wort fast gefallen. Ins Wasser können wir heute nicht gehen. Wir bleiben auf dem Trockenen. Noch einen Kaffee? „Loretta am Wannsee“ sah von außen düster aus, hat aber doch geöffnet, wie sich herausstellt.
Schade, mit dem Berliner Bäderchef ins Strandbad Wannsee einzubrechen, das wäre doch mal aufregend gewesen.