Berliner Schätze

Als der Kalte Krieg in Berlin zum Kampf mit Lärm wurde

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Susanne Leinemann

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Eine fast vergessene Geschichte aus Willy Brandts Zeit als Regierender Bürgermeister: Nach dem Mauerbau errichtete der Westen ein „Studio am Stacheldraht“ und beschallte den Osten mit Nachrichten.

Manchmal ist auch ein Regierender Bürgermeister genervt. „In den letzten Tagen hat es in unserer Stadt eine ganze Menge Krach gegeben“, meldet sich Willy Brandt im Mai 1963 zu Wort, „und zwar nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinne.“ Worauf er danach in seiner Sendung „Wo uns der Schuh drückt“ eingeht, ist ein fast vergessenes Kapitel deutsch-deutscher Geschichte: der Berliner Lautsprecherkrieg.

Der beginnt gleich nach dem Mauerbau 1961. Zwar ist ab jetzt West von Ost getrennt, aber der Schall kennt keine Grenzen. Warum nicht Aufrufe und Nachrichten rübersenden? Damit kann man informieren, appellieren – und ja, auch provozieren.

Der Osten hat es vorgemacht. Als Konrad Adenauer am 22. August 1961 endlich in West-Berlin eintrifft und mit ernstem Gesicht zum versperrten Brandenburger Tor schreitet, da ließen die DDR-Grenzer den populären Schlager: „Da sprach der alte Häuptling der Indianer – Wild ist der Westen, schwer ist der Beruf“ lautstark erklingen. Die getragene Stimmung ist ruiniert, Apachen-Adenauer lächerlich gemacht.

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Die Reaktion folgt prompt. Vom Innensenator geht an besagtem 22. August ein Brief an Bürgermeister Willy Brandt mit der Idee raus, selbst Lautsprecherwagen an der Grenze zu postieren. „Wie ich inzwischen durch Herrn Voelkers erfahren habe, hat der Herr Bürgermeister das Vorhaben grundsätzlich gebilligt“, heißt es drei Tage später in einem Schreiben. Die „erforderlichen Mittel“ seien im Haushalt vorhanden. Es ist die Geburtsstunde des „Studio am Stacheldraht“. Ab nun rüstet auch West-Berlin tontechnisch auf: Man montiert Lautsprecher auf das Dach eines VW-Bullis, stellt sich irgendwo an die Grenze und beginnt eine halbstündige Sendung für DDR-Grenzer und Ost-Berliner. Angekündigt mit Fanfare, gefolgt von Gong und Information. „Sie hören objektive Nachrichten aus aller Welt“ und die Rubrik „Und das steht nicht im ,Neuen Deutschland’.“ Danach der Radetzkymarsch oder die Polka „Im Gänsemarsch“.

Das bleibt nicht ohne Folgen. Auch der Osten schafft nun viel Gerät an die Grenze. Wenn die eine Seite sendet, versucht die andere zu stören. Und ist das „Studio am Stacheldraht“ mal nicht vor Ort, dann ergreift der West-Berliner selbst die Initiative: Er drückt die Hupe seines Autos, und im allgemeinen Hupkonzert gehen die Worte zum „Sieg des Sozialismus“ unter. Ab und zu wird der Streit auch handfester. In den Einsatzberichten des „Studio am Stacheldraht“ fliegt während der Sendungen allerlei über die Mauer: Steine, Wasser von Wasserwerfern, Nebeltöpfe und sogar Tränengaspatronen.

„Terrorsystem“ in der DDR

Zum Glück kann man sich bei letzteren auf deren schlechte Qualität verlassen. „Sie warfen vier Tränengaskörper“, heißt es einem Bericht vom Juli 1962. „Nur einer davon, der mit Sprengsatz versehen war, funktionierte. Die drei anderen waren Blindgänger. Daraus ergab sich eine günstige Gelegenheit, auf die Minderwertigkeit der VEB-Produktion hinzuweisen.“ Die Häme ist gut vorstellbar. Ein bisschen muss man an den „Krieg der Knöpfe“ denken. Kleine große Jungs, die sich gegenseitig ärgern.

Und Willy Brandt? Der trägt das muntere Kriegsspielchen als Bürgermeister anfangs mit – wie heißt es im Schreiben: Er habe das Studio „grundsätzlich gebilligt“. Von der „Schandmauer“ spricht er damals, und dem „Terrorsystem“ in der DDR. So etwas erwarten die West-Berliner von ihrem Bürgermeister, es ist Kalter Krieg. Schwer fielen ihm diese markigen Worte sicherlich nicht; zu erschüttert war er über den Mauerbau. Trotzdem bleibt er zuversichtlich.

„Aktive Politik ohne Illusion“

„Auch wenn das kein Trost ist: Ich bin überzeugt, dass diese Mauer sich als eine der größten Niederlagen erweisen wird, die der Kommunismus je erlebt hat“, schreibt er fast prophetisch im September 1963, bald nach dem Kennedy-Besuch. Vielleicht ist es diese Zuversicht, die ihn schnell reell werden lässt. Früh deutet sich seine Politik der kleinen Schritte an – weniger Pathos, mehr konkrete Verbesserungen für alle Berliner. „Wir sind gegen den staubbeladenen Plüsch in der Politik, wir sind für eine aktive Politik ohne Illusion.“ Zwei Jahre nach dem Mauerbau können die West-Berliner ihre Verwandten in Ost-Berlin immer noch nicht besuchen. Das will er ändern.

Doch zurück zum Mai 1963 und dem Krach. Was genau war da passiert? Hören wir Willy Brandt: „Das Studio am Stacheldraht hat seine neuen Lautsprecherwagen einmal erprobt. Sie sind offenbar sehr wirksam.“ Diese neuen Wagen sind ein Geschenk zum 1. Mai. Im Jahr zuvor waren nämlich die Maifeierlichkeiten des DGB vor dem Reichstag empfindlich vom Osten gestört worden. Darauf setzt sich das „Berliner Maikomitee“ des DGB mit Technikern von Siemens, Telefunken und den Profis des „Studio am Stacheldraht“ zusammen, um ihr Fest zu retten. Von einer „neuen Apparatur“ ist plötzlich die Rede, einer Wunderwaffe der Tonkunst, die Senat und den Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen schlappe 320.000 DM kosten soll und die sich perfekt „zur Abwehr eventueller Störversuche unserer Freiheitskundgebung“ eigne. Das Geld wird flott bewilligt; heraus kommen vier neue Mercedes-Spezialfahrzeuge, die mit „Ruthmann-Steiger“ ausgerüstet sind – das sind Kranaufbauten, die die Lautsprecher in ganz neue Höhen heben. Nun dringt der Schall bis weit hinein nach Ost-Berlin.

Die Ton-Eskalation hat eine neue Stufe erreicht.

Willy Brandt deeskaliert

Und die Antwort? „Auf der anderen Seite hat man darauf eine Lärmkampagne begonnen“, klagt Willy Brandt. Und zwar gerade dort, wo Wohngebiete sind. Die würden jetzt dauerbeschallt. „Nicht etwa eine halbe Stunde, sondern stundenlang. Nicht etwa, um etwas zu erproben, sondern um zu belästigen, wenn möglich zu quälen.“ Das gefällt dem Regierenden nicht, wie sollte es auch, wenn seine eigenen Bürger keine ruhige Minute mehr haben. Und wie reagiert Brandt? Er deeskaliert. „Der Senat hat in der Vergangenheit bewiesen, dass er keinen Lärmkrieg wünscht.“ Keinen Zweifel lässt er daran, wer schuld an dem Schlamassel hat: die Ulbricht-Clique in Ost-Berlin. Die hätten die kleine „Erprobung“ des Studios zum Vorwand genommen, um nun alle zu terrorisieren. „Wir müssen bereit sein, wenn es notwendig ist, zu antworten“, sagte Brandt deshalb kämpferisch. Um im nächsten Satz eine Wende einzuleiten: „Aber wir werden unsererseits nicht mit etwas beginnen, was die Nerven strapaziert, aber wenig ändert.“ Was für ein Dämpfer für die Tonkämpfer des Kalten Krieges, was für eine Absage an das „Studio am Stacheldraht“.

Doch so ist Brandts Politik als Regierender Bürgermeister – er bleibt realistisch, hat immer vor Augen, was wirksam ist und was nicht. Damit wird er wenig später großen Erfolg haben. Am 23. Dezember 1963 wendet er sich in einer Sendung wieder an die Bevölkerung: „In diesen Stunden sitzen Tausende von Berlinern im Ostteil unserer Stadt beieinander. Zum ersten Mal nach 28 langen Monaten haben sie ihre Angehörigen wieder sehen können.“ Das Passierscheinabkommen tritt in Kraft – Brandt hatte sehr darum gekämpft. Es ist ein stiller, feierlicher, berührender Moment.

Lautsprecher hätten da nur gestört.

Dank an das Landesarchiv