100 Jahre Willy Brandt

Willy Brandt war „eine singuläre Persönlichkeit“

| Lesedauer: 24 Minuten

Am 18. Dezember wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Die Historiker Torsten Körner, Siegfried Heimann und Peter Merseburger haben sich intensiv mit seinem Leben beschäftigt. Ein Gespräch.

Berliner Morgenpost: Sind Sie Willy Brandt persönlich begegnet?

Torsten Körner: Ich bin 1965 geboren, also der jüngste hier in der Runde. Ich bin ihm nicht persönlich begegnet. Aber ich habe mit meinem Vater 1972 Wahlplakate geklebt, bei der berühmten Willy-Wahl. Ich war mal dabei, als er in Oldenburg gesprochen hat. Mein Vater war Ortsvereinsvorsitzender. Der südoldenburgische Raum ist sehr konservativ. Und da habe ich ihn wohl aus der Ferne erlebt und nur intuitiv begriffen: Das ist der Gute für mich. Aber seinen Gegenspieler und die ganze politische Auseinandersetzung und Dimension hatte ich als Sieben-, Achtjähriger nicht wirklich verstanden.

Peter Merseburger: Ich war Anfang der 60er-Jahre „Spiegel“-Korrespondent in Berlin. Da habe ich 1961 mit Brandt ein Gespräch im Rathaus Schöneberg geführt. Wir haben beide noch wie verrückt geraucht damals. Ich habe es mir dann abgewöhnt. Er tat sich damit viel schwerer. Es ging in dem Gespräch um den Wahlkampf und die Anwürfe gegen ihn, wegen seiner Zeit in Barcelona. Die spielten damals in einer Rednerbroschüre, die die CDU herausgegeben hatte, eine Rolle. Es wurde ihm vorgeworfen, er sei linker gewesen als die Kommunisten. Er hat dann erklärt, wie das in Barcelona war.

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Was war Brandt für ein Mensch für Sie?

Merseburger: Das war meine erste direkte Begegnung. Später, als er Kanzler war, habe ich ihn in Bonn öfters gesehen. Damals in Berlin war das eine sehr schwierige Zeit für ihn. Sie dürfen nicht vergessen: Das war vor und nach dem Mauerbau. Vor dem Mauerbau gab es Flüchtlingsströme, und nach dem Mauerbau musste er plötzlich die Moral der West-Berliner heben, ihnen Mut zusprechen. Das war, glaube ich, seine beste Zeit. Er war ein Mann, der Vertrauen einflößen konnte. Ich habe selten jemanden gesehen, der durch seine Reden so viel Kontakt zu den Massen herstellen konnte. Im Gegensatz zu der gewissen Sprödigkeit im Privaten.

Siegfried Heimann: Ich bin Willy Brandt in Berlin zwei-, dreimal persönlich begegnet. Vermittelt über Peter Brandt, mit dem ich befreundet war und bin. Das war auf Geburtstagen und bei der Heirat mit Peter Brandts erster Frau. Da war Willy Brandt zugegen. Mein Eindruck war damals, dass er sehr freundlich den Gästen zuhörte, aber immer freundlich distanziert blieb. Er machte sich manchmal, wenn Wünsche geäußert wurden, auch Notizen. Er hat mehr zugehört, als dass er diskutiert hätte.

Merseburger: Mein Eindruck war, er hatte manchmal eine heitere, in sich ruhende Souveränität – und manchmal war das eine eher abwesende, in sich ruhende Souveränität. Sicher war er ein guter Zuhörer. Sein Führungsstil hat Helmut Schmidt manchmal zur Weißglut gebracht, denn der war ein Dezisionist und gab die Entscheidung vor. Brandt dagegen hat erst einmal alle diskutieren lassen und am Ende versucht, die Summe der Diskussion zu ziehen – freilich auf seine Art.

Was unterscheidet Brandt von dem heutigen Typus des Politikers?

Merseburger: Er ist der letzte SPD-Chef gewesen, für den die internationale Arbeiterbewegung noch eine erlebte Realität war. Für die Vorsitzenden nach ihm ist die SPD eher eine Oppositionspartei, die Arbeitnehmerinteressen vertritt und die auch regiert und vielleicht Wichtiges auf den Weg gebracht hat – aber von der Tradition der Arbeiterbewegung, die ja ihre eigene, auch internationale Kultur entwickelt hatte, ist sie weit entfernt und deshalb heute weit mehr eine „normale“ Partei. Brandt ist ja in die Arbeiterbewegung hineingeboren. Seine Mutter, die als Konsumverkäuferin arbeiten musste, brachte ihn als uneheliches Kind früh in Jugendgruppen der Arbeiterbewegung unter – und so wurde sie für ihn, der eine intakte Familie ja nie erlebte, praktisch zur zweiten Heimat.

Heimann: Ich glaube nicht, dass es damals eine Generation von Politikern gab, die sich im Unterschied zu heute besonders auszeichnete. Brandt war auch in der Hinsicht in dieser Zeit eine singuläre Persönlichkeit. Es gab ähnliche Biografien von Politikern in jener Zeit, auch von Sozialdemokraten, die sich ganz anders entwickelt haben. Willy Brandt musste sich ja in der Berliner Sozialdemokratie erst mal durchbeißen. Auch als er 1955 Parlamentspräsident und 1957 Regierender Bürgermeister geworden ist, gab es noch große Vorbehalte gegen ihn. Denkwürdig ist sein Auftritt mit Rut Brandt auf dem Bundespresseball. Von Parteimitgliedern kamen Briefe an ihn, wieso Rut Brandt da im schulterfreien Kleid auftrete. Das gehöre sich nicht für die Frau eines Arbeiterführers. Das heißt, er war in der Hinsicht schon eine besondere Erscheinung für die Berliner.

Körner: Sicher, er war eine singuläre Figur. Aber was unterscheidet ihn von Politikern heutiger Generation? Ich denke schon, dass es da große Unterschiede gibt. Wofür diese Generation der jüngeren Politiker heute nichts kann. Nämlich, dass er eine dramatische Erfahrung vorzuweisen hatte, die diese Generation nicht hat. Ob in 20 oder 30 Jahren jemand hier am Tisch zusammen sitzt und über Sigmar Gabriel nachdenkt, weiß ich nicht. Das hat einfach damit zu tun, dass das Leben unüberschaubarer geworden ist. Brandt durchschreitet das gesamte 20. Jahrhundert. In all seinen Extremen. Und bildet es auch ab mit seiner radikalen linken Positionierung, wandert dann mehr in die Mitte, hat sich auseinanderzusetzen mit den Nazis, mit den Kommunisten. Das sind einfach Erfahrungen, die er unserer Generation weit voraus hat.

Heimann: Willy Brandt war allerdings hier in Berlin seit Mitte der 50er-Jahre der Vertreter des sogenannten rechten Flügels der SPD. Und er wurde von dem sogenannten linken Flügel der SPD kritisiert.

Körner: Trotzdem war er ein Modernisierer. Das ist ja das Komische.

Heimann: Er war ja, was sich für viele erst im Nachhinein herausstellte, der viel Progressivere in der behäbig gewordenen Sozialdemokratie in Berlin. Aber er galt als der angeblich Rechte. Das wurde unterstützt durch die Diffamierungen aus dem Osten, wo er der Anführer des US-imperialistischen Flügels der SPD genannt wurde. Dass er sich zu der Schutzmacht USA bekannte, hatte auch pragmatische Gründe: Er war Regierender Bürgermeister einer Stadt, die auf die Vereinigten Staaten angewiesen war.

Merseburger: Natürlich war der Brandt, den Axel Springer unterstützt hat und zu dessen Wahl die „B.Z.“ aufgerufen hat, der junge Mann von Ernst Reuter, ein rechter Sozialdemokrat, der die Amerikaner als Verteidiger der Freiheit schätzte. Aber als er nach Berlin kam und die Sozialdemokratie beim Kontrollrat vertreten sollte, wurde er scharf angegriffen – von Exil-Sozialdemokraten in Stockholm, aber auch Berliner SPD-Größen. Da ging es schlicht darum, dass er sich während der Exilzeit vom Linkssozialisten zum Sozialdemokraten gewandelt hatte, und manche Exilsozialdemokraten machten ihm Vorwürfe wegen seiner Vergangenheit. Deshalb gab es auch beim SPD-Vorstand in Hannover Zweifel, ob sie Brandt als ihren Vertreter beim Kontrollrat wirklich beauftragen könnten. Brandt hat diese Zweifel dann in einem Brief an Schumacher ausgeräumt, und er erhielt den Auftrag, weil Schumacher das Exilgezänk leid war. Aber Ollenhauer hat ihm das wohl lange nachgetragen.

Wie sehr hat das skandinavische Leben Brandt geprägt?

Heimann: Diese skandinavischen Jahre waren seine Universitäten. Er ist dort mit einem anderen Gesellschaftsmodell bekannt geworden. Ein Modell der Offenheit und dennoch ein Bekenntnis zu einer sozialistischen Gesellschaft, wie es ihm in Norwegen vorgeführt worden war. Davon ist er geprägt gewesen. Dazu kam noch, was ihn in Berlin auch unterschied und ihm Neider brachte: er war sehr weltoffen, weil er auch einige Sprachen konnte. Nicht nur norwegisch, auch englisch und französisch. Damit war er auch der gesuchte Gesprächspartner für die Alliierten.

Merseburger: Er gehörte ja, wenn Sie so wollen, einer kleinen Sekte an. Die SAP bestand aus ein paar hundert Leuten im Exil. Er sollte ja in Norwegen eine Gruppe aufbauen, deshalb ist er von Lübeck weggegangen. Die bestand zunächst aus fünf oder sechs Leuten. Im Exil hat er gelernt, die reine Lehre, die die SAP noch vertrat, in Frage zu stellen. Er hat gemerkt, dass die norwegische Arbeiterpartei eine Politik machte, die vor allem in der Wirtschaftskrise die Nöte der der Bauern und Fischer beheben wollte. Seitdem war sein Motto: Politik ist nur gut, wenn sie den Menschen nützt.

Körner: Er hat also einen Pragmatismus aus Skandinavien mitgebracht. Aber auch eine menschliche Qualität, glaube ich. Seinen integrativen Führungsstil später im Kabinett hat er in Skandinavien gewonnen. Weil er die Erfahrung gemacht hat, dass man politisch unterschiedlicher Meinung sein kann, aber gleichwohl menschlich miteinander verbunden sein kann. Rut Brandt empörte sich ja über den Wahlkampf in Deutschland: Dass man versuchte, sich unter die Haut zu stechen.

Merseburger: Die norwegische Arbeiterpartei hat versucht, die Flügel zusammenzuhalten. Das war für Brandt eine wichtige Lehre. Das hat er dann selber probiert.

Die SPD entscheidet ja in einem Mitgliederentscheid über eine Große Koalition. Wie würde das SPD-Mitglied Brandt entscheiden?

Merseburger: 1966 war er zunächst gegen die Große Koalition. Das darf man nicht vergessen. Er wollte da eigentlich kein Minister werden, höchstens Wissenschaftsminister. Dann musste ihm Helmut Schmidt beibringen: Wenn du unser Vorturner bist, musst du auch einen wichtigen Posten übernehmen, den des Vizekanzlers und Außenministers. Das hat er dann mit großem Elan gemacht. Aber ursprünglich wollte er die große Koalition nicht, weil er ahnte, dass mit der CDU längst fällige Änderungen in der Deutschlandpolitik nicht durchzusetzen waren.

Heimann: Ja, aber weniger aus sachlich-inhaltlichen Gründen. Er wollte mit diesem Kanzlerkandidaten der CDU nicht in eine Regierung gehen. Kiesinger wollte er nicht. Und heute? Von Ihnen, Herr Merseburger stammt ja das Wort, dass Brandt Realist und Visionär war. Er hätte natürlich ausgerechnet, welche Alternativen gibt es außer einer Großen Koalition. Ich glaube schon, dass er, zögerlich zwar, für eine Große Koalition gestimmt hätte.

Körner: Das wäre schon interessant zu sehen, wie sich Willy Brandt mit der Ostdeutschen Angela Merkel vertragen hätte, mit einer CDU, die ja weitgehend sozialdemokratisiert ist.

Ein wesentlicher Tag für Berlin war ja der Tag des Mauerbaus. Der ehemalige Sozialist Brandt erlebt ein erstes Scheitern der sozialistischen Idee. Was mag in Brandt vorgegangen sein?

Heimann: Er hat den Tag nicht als ein Scheitern der sozialistischen Idee empfunden. Was in der DDR sich abspielte, war für ihn kein Sozialismus. Alle rechneten damit, dass etwas passieren würde, aber nicht so, wie es dann tatsächlich abgelaufen ist. Aus dieser Erschütterung, wie das mitten in Berlin geschah, ist sein Brandt-Brief, so muss man es doppeldeutig nennen, an Kennedy entstanden. Der sehr scharf war, was bei Kennedy zu Verstimmung führte. Dass ein Dorfschulze, wie Egon Bahr es einmal ausdrückte, dem Präsidenten Vorschriften machen will, was er machen soll. Aus Bonn wurde kritisiert, dass es über den Kanzler hätte gehen müssen. Und er hatte ja direkt geschrieben. Aber Brandt hat zugleich gesehen, dass die alten Vorstellungen von Deutschlandpolitik im wahrsten Sinne des Wortes an eine Mauer geraten waren. Und dass jetzt offenbar neue Ideen notwendig sind. Die hat er mit anderen, Egon Bahr, Heinrich Albertz, Dietrich Spangenberg und Klaus Schütz entwickelt und daraus ist der Vorlauf einer neuen Ostpolitik entstanden, nämlich das Passierscheinabkommen von Weihnachten 1963.

Das war ja auch ein historischer Moment der Profilierung gegenüber Adenauer. Adenauer versäumte es ja, nach Berlin zu kommen. Er versäumte es, den Mauerbau zu seinem Thema zu machen, also wurde es zu Brandts Thema.

Merseburger: Das geschah mitten im Wahlkampf. Brandt wurde als der junge deutsche Kennedy gegen den vergreisten Adenauer aufgebaut. Der ganze Wahlkampf hatte amerikanische Züge, weil Klaus Schütz in Amerika gewesen war und dort die Wahlkampftechnik studiert hatte. Von ihm kam auch diese große Idee der Deutschlandfahrt. Der Regierende Bürgermeister fuhr damals in einem offenen Mercedes mit einem Berliner Stander, der Stander war damals politisch wichtig für die möglichen Wähler. Damit fuhr er über Lande, machte hier und da einen Stopp und redete. Das war völlig neu für deutsche Wahlkämpfe.

Heimann: Adenauer hat noch einen draufgesetzt. Er ist nicht nur nicht nach Berlin gekommen. Er hat auf einer Wahlkampfrede von Willy Brandt alias Frahm gesprochen. Also auf die nichteheliche Geburt Brandts angespielt und die Diffamierungen gegen die Person Willy Brandt fortgesetzt.

Körner: Im Großen und Ganzen hat es Adenauer aber nicht wirklich geschadet, dass er nicht nach Berlin kam. Die SPD legte drei, vier Prozent zu. Die Westdeutschen, die ganz fest in ihrem Antikommunismus waren – die CDU plakatiert mit „Keine Experimente“ – verließen sich auf diesen alten, verwitterten Fuchs Adenauer. Die Berliner waren natürlich empört, dass Adenauer nicht gekommen ist. Ich habe das leider in dem Buch nicht geschrieben: Mir hat Brandts Haushälterin erzählt, dass er einen lautstarken Streit mit Adenauer am Telefon hatte, als Kennedy dann tatsächlich kam. Adenauer wollte nur mit Kennedy im Wagen sitzen und Brandt hätte in einem zweiten Wagen sitzen sollen. Tatsächlich sind sie dann zu dritt im Wagen gesessen. Das hat Brandt sich durchgesetzt.

Merseburger: Vielleicht ist, was die Reaktion auf die Mauer angeht, noch wichtig: Die West-Berliner waren aufgebracht, auch gegen die Westmächte. Es gab damals antiamerikanische Töne und Plakate auf dem dem Rudolph-Wilde-Platz bei einer großen Kundgebung. Das war meiner Ansicht nach Brandts große Stunde, als er versuchte, die Menge einerseits im Zaun zu halten, vom Sturm auf die Mauer abzuhalten, aber ihnen andererseits auch Mut zuzusprechen. Auf dieser Kundgebung hat er gesagt: Ich habe einen Brief an den US-Präsidenten geschrieben. Um zu zeigen: Ich nehme eure Sorgen ernst. Ich habe mich an den Chef der Schutzmacht gewandt. Das war eine rednerische Leistung erster Güte. Brandt ist in der Berlin-Krise zur nationalen Figur geworden.

Körner: Dieses Beruhigende oder Sicherheit gebende hat er beim Ungarn-Aufstand 1956 schon geschafft. Da wollten die Berliner auch schon Richtung Brandenburger Tor ziehen. Vor allem junge Leute waren empört über die blutige Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes. Brandt hat es als einziger Redner vor dem Schönberger Rathaus geschafft, die Masse ein Stück weit zu erreichen. Die ließ sich aber auch dennoch in Teilen nicht davon abhalten, Richtung Brandenburger Tor zu ziehen. Ich habe noch einmal Presseberichte kürzlich nachgelesen. Brandt fuhr sozusagen der Menge hinterher, stellte sie immer wieder. Einmal am Steinplatz, dann noch ein zweites Mal und sprach immer wieder auf sie ein. Rut war an seiner Seite. Ich habe mir auch die Rede am 16. August 1961 noch mal kürzlich angeschaut: 300.000 Menschen vor ihm, ein Hexenkessel, und die ganzen Plakate, die da in der Menge zu sehen sind, da ist eine große Aggressivität. Sprachlich-rhetorisch war es gar nicht so eine Meisterleistung. Seine Rhetorik greift über die Sprache hinaus, sie ist auch Körper, Ton und Augenblick. Er selbst wirkt in dem Augenblick wie ein Leidgeprüfter. Aber er sagt den Menschen: Ich bin einer von euch. Aber ich bin auch mehr. Ich schaffe es, für euch zu handeln. Das zeichnet ihn in der historischen Situation aus.

Wie sehen Sie die Diskrepanz zum Familienmenschen Brandt? Der Politiker, der so vielen Leuten als menschlich erschien und dann der Vater, der für seine Kinder so distanziert, kühl war?

Körner: Das kann man nicht vereinheitlichen. Hier den warmherzigen, charismatischen Politiker, dort den kalten Vater. Ich glaube, durch seine unsichere, schüttere Kindheit und Jugend hat er eine soziale Bindegewebsschwäche entwickelt. Aber er war für jedes Kind in anderen Phasen ein anderer Vater. Ninja zum Beispiel ist unbelasteter, sie ist in Norwegen aufgewachsen und musste sich mit dieser Übermachtgestalt Brandt nie auseinandersetzen wie die Brüder. Peter und Lars hatten teilweise in Ansätzen ein ganz normales Familienleben. Was von heute ja undenkbar ist: die sind 1960 zusammen in den Urlaub gefahren über die Transitstrecke. Im kleinen Wagen, Brandt auf dem Beifahrersitz, Rut fuhr.

Was für ein Auto?

Körner: Ein Opel Kadett, glaube ich.

Merseburger: Opel fuhr immer Schmidt.

Körner: Es kann auch ein Käfer gewesen sein. Der erste Wagen von Rut Brandt war ein Käfer. Und Matthias als Nesthäkchen hat auf dem Venusberg wieder einen ganz anderen Willy Brandt erlebt. Der in ganz anderer Art und Weise noch mal von der Politik eingefangen war. Die Beziehung zu Rut Brandt wurde brüchiger. Jedes der vier Kinder hat einen anderen Willy Brandt erlebt. Ich glaube, dass das große politische Talent auch damit zusammenhängt, dass Brandt private Melancholien mit sich schleppte, die aus ihm wiederum einen anderen Politiker machten, einen anders sprechenden Politiker, einen nachdenklicheren Politiker. Einen möglicherweise auch toleranteren Politiker im Hinblick auf neue politische Gruppen in der Bundesrepublik. Das habe ich in dem Buch versucht zu zeigen, dass das private Moment auch ins Politische hineinspielt und er sich umgekehrt natürlich in der Familie nie von dem Politiker befreien konnte, der er war.

Heimann: Toleranz war etwas, was er in Norwegen gelernt hat. Er konnte mit unterschiedlichen Positionen umgehen. Das spielt dann auch in seiner Familie eine Rolle. Peter Brandt war in seiner Jugend als Schüler schon und in den ersten Semestern als Student mit seinem Vater oft nicht einer Meinung. Er hat sich immer sehr links positioniert. Und er ist dann in Schwierigkeiten gekommen. Er hat demonstriert. 1967 ist er verhaftet worden in der Meinekestraße. Willy Brandt wurde daraufhin von eigenen Parteigenossen zur Ordnung gerufen. Er solle gefälligst in seiner Familie für Ordnung sorgen.

Körner: Von Helmut Schmidt zum Beispiel.

Heimann: Aber auch hier aus der Berliner SPD kamen Briefe. Brandt wies diese Zumutungen zurück. Er erziehe seine Kinder tolerant. Das heißt, er akzeptiere auch, dass sie eine andere Meinung haben. Er sei nicht bereit, mit der Zuchtrute gegenüber seinem Sohn aufzutreten.

Merseburger: Was nicht ausschließt, dass er gelegentlich einen kleinen Wutanfall gehabt hat. Es gibt die Geschichte, dass er irgendwann mal gesagt hat: Wenn der Peter so weitermacht, muss ich zurücktreten. Ich glaube, das hat Rut Brandt beschrieben. Dann hat sie zu ihm gesagt: Vergisst du vielleicht deine eigene linke Vergangenheit, Willy? Und dann hat er eingelenkt und wurde wieder tolerant.

Was bleibt von Willy Brandt?

Heimann: Sehr viel. Seine Kanzlerschaft spricht für sich, die Erfolge seiner Außenpolitik sprechen für sich. Darüber darf nicht vergessen werden, dass er auch sehr lange Regierender Bürgermeister in Berlin war. Auch für Berlin hat er sehr viel erreicht in dieser Zeit. Ich glaube, das bleibt – wie auch immer die Umstände seines Rücktritts waren. Meiner Ansicht nach hätte er nicht zurücktreten müssen. Brandt hat das hinterher auch bereut.

Körner: Vielleicht zeigt es aber auch seine Größe: dass er in dem Moment von der Macht lassen konnte. Für mich bleibt das Familienthema wichtig, weil es weit über die Familie hinaus weist. Ich schaue gern in die 60er- und 70er-Jahre zurück und sehe diese Familie als moderne Familie. Zum ersten Mal mit einer richtigen First Lady in der Bundesrepublik. Mit einer Norwegerin. Was ja in gewissen Weise auch exotisch war für die Bundesrepublik. Mit Söhnen, die sich politisch engagieren, und einem Vater, der sie gewähren lässt, tolerant. Ich sehe einen anderen Politikstil. den er in die deutsche Politik einbrachte. Dieses Skandinavische, dieser integrative Moment. Und natürlich solche Gesten wie den Kniefall. Das war eine große politische Kraft: symbolische Gesten zu setzen. Ich habe sehr unter Helmut Kohl und dessen Ära gelitten, wo die Gesten symbolisch immer sehr inszeniert waren und irgendwie verunglückten. Bei Brandt hatten die eine gewisse natürlich Kraft, Aura und Integrität. Sie schienen nicht berechnet zu sein, sie kamen aus einem tief empfundenen Gefühl, aus einem spontanen politischen Gestaltungswillen. Deshalb wird Willy Brandt zu seinem 100. Geburtstag auch so sehr gefeiert.

Merseburger: Das wichtige an Brandt ist aus meiner Sicht das Antitotalitäre. In der Familie aber auch insgesamt. Er war gegen den Totalitarismus der Nazis, gegen den des Stalinismus. Er hat im Grunde eine demokratischere Form vorgelebt als es vorher im etwas obrigkeitlichen Adenauerstaat gängig war. Außerdem hat er versucht, so wie Adenauer die Westorientierung festgeschrieben hat, Deutschland nach dem Osten hin zu öffnen. Durch den Abbau von Feindbildern hat er die Deutsche Einheit erst möglich gemacht. Ich glaube, das ist sein großes Verdienst.

Heimann: Meines Erachtens darf nicht vergessen werden, dass er auch nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler weiterhin eine politische Persönlichkeit mit großem internationalen Ansehen war. Er war Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen und in der Nord-Süd-Kommission mit internationalen Problemen der Politik befasst. Er hat sich sehr engagiert, diese Probleme lösen zu helfen. Wenn man heute in der Welt herumfährt und nach deutschen Politikern fragt, ist es sein Name, der immer zuerst genannt wird.

Das Gespräch führten Felix Müller und Jan Draeger