100 Jahre Willy Brandt

Auf eine Zugfahrt im Salonwagen mit Willy Brandt

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Ulli Kulke

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Vor 30 Jahren reiste unser Autor mit dem Ex-Kanzler zwei Tage durch Deutschland. Es war Wahlkampf, Helmut Kohl an der Regierung und die Grünen kurz vor ihrem Einzug in den Bundestag.

Er hatte mich mal zum Heulen gebracht. Das erzähle ich Willy Brandt natürlich nicht, als ich ihm gut zehn Jahre später gegenüber sitze, Ende Februar 1983, an einer Art Wohnzimmertisch im Salonwagen, der auf Schienen irgendwo durch Süddeutschland kreuzt. Das geht nicht, es wäre ein Fauxpas. Um routinierte Abgeklärtheit ist man da im Gespräch bemüht, nur keine Blöße geben als junger Journalist der linken Tageszeitung „Taz“, im Umgang mit Sozialdemokraten.

Aber die Erinnerung an den Sonntag der „Willy-Wahl“ im Jahr 1972 ist in dem Moment noch lebendig. Am Abend jenes 19. November war ich mit meinem 20 Jahre alten VW-Käfer gerade durch das Niemandsland zwischen den innerdeutschen Kontrollpunkten Helmstedt und Marienborn gerollt, wie fast jeden Sonntagabend, als gegen 19.00 Uhr die ersten Hochrechnungen aus dem Transistor auf dem Beifahrersitz gekrächzt kamen. Die SPD hatte gewonnen, 45 Prozent für Willy Brandt, eine satte Mehrheit für die sozialliberale Koalition, für die Ostpolitik, für das Gute in meinen Augen, natürlich.

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Ich traute meinen Ohren nicht. Umfragen hatten ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt und meine persönliche Prognose war erst recht niederschmetternd gewesen, nach der Schlammschlacht im Wahlkampf, nach der Kampagne des Springer-Verlages – für den ich heute selbst arbeite – gegen Brandt und seine Ost-Politik. Die war nun gerettet. Ich saß allein im Auto, Emotionen, feuchte Augen. Brandt hatte, begnadet mit einem beispiellosen Charisma, die Mehrheit hinter sich gebracht, der Aufbruch hatte gewonnen, mehr Demokratie, mehr Annäherung an den Osten, und was man damals alles so hörte und dachte.

„Lassen Sie uns über einen neuen Aufbruch reden, Herr Brandt“, will ich nun, 11 Jahre später, im Salonwagen Stimmung aufbauen. Mit ihm, der für den Aufbruch zuständig war. Er hatte ihn eingeleitet als Gründungskanzler der sozialliberalen Ära. Und stehen die Zeiten jetzt nicht wieder auf Aufbruch? Es ist der 26. Februar 1983, in gut einer Woche wollen die Grünen in den Bundestag gewählt werden, zum ersten Mal. Sie sprachen doch immer vom blauen Himmel über der Ruhr, Herr Brandt, jetzt, mit den Grünen klappt’s vielleicht, Sie sind doch im tiefsten Innern gegen die Pershing-Stationierung, gegen die Nachrüstung, und jetzt, gemeinsam mit der grünen Petra Kelly? Warum sollte sie nicht wiederkehren, die Spontaneität am Wahlabend Herr Brandt, so wie weiland an dem des 28. September 1969, als Sie mit dem FDP-Chef Walter Scheel gemeinsam ganz Bonn überrumpelten und die Koalition neuen Typs aus dem Hut zauberten, mit ihrem Höhepunkt drei Jahre später, zur Willy-Wahl.

Klar, man fühlt sich auch als taz-Reporter, als solcher inzwischen Anhänger der Grünen, bei so einem Interview ein wenig als Mittler für derartige neue Bündnisse, für den neuen Aufbruch, alles ist politisch. Wenn auch gehandicapt. Noch immer ist die Diskussion in der Zeitung nicht verstummt, inwieweit man sich überhaupt mit dem Bonner Geschehen abgeben sollte, ob ein ordentliches taz-Büro in der Bundeshauptstadt überhaupt statthaft sei.

Artikel im Büro von Gerhard Schröder geschrieben

Würde der Anspruch auf Unabhängigkeit nicht korrumpiert durch allzu große Nähe zur großen Politik? Die erste Zeit, zu Beginn der 80er Jahre, meint man, ohne Hauptstadt-Büro auszukommen, mit der bigotten Konsequenz, dass der Korrespondent seine Artikel im Abgeordneten-Büro des früheren Juso-Chefs Gerhard Schröder schreibt und von dort nach Berlin faxt, weil einer aus der taz Schröders Assistenten kannte. Nach den Vormittags-Pressekonferenzen im Regierungsviertel muss man da schon mal den späteren rot-grünen Bundeskanzler aus dem Mittagsschlaf auf seinem Büro-Sofa wecken, um arbeiten zu können. „Komm rein“, bleibt Schröder stets umgänglich, abends geht es zum gemeinsamen Bier in die „Provinz“, von der aus er sehnsüchtig auf Kanzleramt gegenüber schaute. Bloß keine Nähe zur Bonner Politik.

Zu all dem Schrägen, dem Experimentellen, dem Anti- und Alternativansatz der taz in den frühen Jahren gehörte natürlich ihre Unberechenbarkeit. Sichtbar zum Beispiel daran, dass die Redaktion ein solches Interview, wie ich es nun eine Woche vor der Wahl mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden führte, hinterher einfach nicht abdruckte. Dabei war es für das Umfeld der Zeitung eine doch bemerkenswerte Wahl, die Grünen zogen am 6. März 1983 wirklich erstmals in den Bundestag ein. Das Tonband, immerhin, habe ich noch, Brandts Meinung zu meiner Aufbruchstimmung existiert also noch.

Warum wurde sie nicht gedruckt? Aus routinierter Respektlosigkeit der Redaktion, aus Abneigung gegen die Sozialdemokratie? Ich weiß es nicht mehr. Es kann sein, dass die Pressestelle bei der Autorisierung zu viel geändert hatte und wir uns das nicht gefallen lassen wollten. Der Zuständige, Brandts damaliger Sprecher, hieß Wolfgang Clement, und der hatte – im Gegensatz zum Autor dieser Zeilen – keine wirkliche rot-grüne Lebensphase, jedenfalls nicht im Innern seines Herzens. Und Willy Brandt, sein Chef?

Die Sprache mit dem rollenden „R“

Hemdsärmelig am Wohnzimmertisch, aufgeweckt und einnehmend schaut der 69-Jährige den Reporter an. Da ist sie, die öffentlich so bekannte Stimme, nun aber von gegenüber, die Sprache mit dem rollenden „R“, mit den breiten, emotionsgeladenen Betonungen, die sein Wesen ausmacht. Arnulf Baring dürfte sie im Ohr gehabt haben, als er schrieb, Brandt vermittle den Menschen das erhebende Gefühl, ähnlich wie Kennedy, „indem sie ihm hülfen, dienten sie einem großen Ideal“. Die äußeren Bedingungen sind eigentlich beförderlich für eine Aufbruchs-Diskussion. Schon der Zug und der alte Salonwagen aller früheren Bundeskanzler, in dem Brandt nun mit einem runden Dutzend Journalisten zwei Tage durch Süddeutschland tourt. Von einer Wahlkampfrede zur nächsten geht es.

Zwischendurch Kaffee und Cognac im Speisewagen, Brandts Leibgetränk, wer wollte sich da zurückhalten? Gewiss, der Plüsch im Salon, Tischdecke, Polstersessel, Gardinen, all das fördert kaum avantgardistische Gedanken. Aber der Zug hat es in sich, er hatte manchen Aufbruch erlebt. In Moskau, als Adenauer 1955 die ersten Beziehungen zu den „Soffjetts“ knüpfte. In Erfurt, wohin Brandt selbst zum spektakulären DDR-Besuch mit diesem Zug aufgebrochen war, 1970, kein halbes Jahr nach seiner Wahl zum Bundeskanzler.

Und die Zeit spricht dafür, die Parallelen liegen auf der Hand. Die Wahl im September 1969, Brandts erster Aufbruch, beendete die für die Linke so schwer verdauliche Große Koalition mit dem einstigen Nazi Kiesinger, die die SPD viele Mitglieder kostete, die sie dem links-intellektuellen Lager und der sozialdemokratisch angehauchten Kultur-Szene entfremdete. Danach wehte wieder frischer Wind. Und nun, am 26. Februar 1983, ist die Lage doch ähnlich. Ist denn nicht ganz Deutschland entsetzt vom heimtückischen Ausscheiden der FDP aus der sozialliberalen Wertegemeinschaft ein halbes Jahr zuvor? Aus drei Landtagen ist sie seither achtkantig rausgeflogen, jetzt dann auch aus dem Bundestag, sowieso.

Helmut Kohl genießt noch nicht den Respekt seiner späteren Jahre

Komisch, beim Smalltalk und den hintergründigeren abendlichen Tischgesprächen mit den Pressekollegen im Speisewagen, von dichtem Rauch umwoben, ist diese Meinung beileibe nicht so einhellig, wie sie meiner Meinung nach doch sein sollte. Nicht nur, dass da von wirtschaftlichen Notwendigkeiten die Rede ist, den Staatsfinanzen und wer das alle bezahlen sollte, auch kommt grundsätzliche Kritik an Brandts Regierungszeit zur Sprache; Unzulänglichkeiten, auch persönlicher Art. Auch wenn der neue Kanzler Helmut Kohl, der nach einem Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 Helmut Schmidt gestürzt hatte, an dem Abend bei den Kollegen für manchen Lacher gut ist, noch längst nicht den Respekt seiner späteren Jahre genießt. Geistig-moralische Wende, haha.

Meinen rot-grünen Traum jedenfalls will an dem Abend keiner im Zug teilen, kaum jemand rechnet überhaupt mit dem Einzug der Alternativen in den Bundestag. Es ist spät. Ich vertrete mir die Beine vorm Zug. Tief hinabsteigen musste ich, der Zug steht auf dem Abstellgleis (ich meine es war in Gunzenhausen). Schwach beleuchtet steht er da in seiner strengen dunkelgrünen, ins Schwarze changierenden Eleganz, breite Fenster, als wäre er der große Bruder des Mercedes 600 Pullmann, staatstragend. Alkohol fließt hinter den Vorhängen, im Speisewagen ordnen die Journalisten die deutsche Politik.

Und im Waggon weiter vorne? Wer hatte noch mal das Gerücht aufgebracht damals, über Kanzler Brandt und Damenbesuch in solchen Sonderzügen? Eine Schwedin soll es mal gewesen sein, ein Gerücht von vielen ähnlich lautenden, die zwischen der Verhaftung des Kanzler-Spions Guillaume und Brandts Rücktritt 1974 aufkamen. „Später mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht mit der Faust auf den Tisch geschlagen habe, diesem Unfug sofort ein Ende zu bereiten“, schrieb er, der dieses Gerede lange auf die leichte Schulter genommen hatte, später in seinen „Erinnerungen“. Eine Nacht mit Willy Brandt auf dem Abstellgleis.

Sympathie für die Grünen?

Also, Herr Brandt, was ist jetzt mit dem neuen Aufbruch, mit den Grünen? In Ihren Wahlkampfansprachen heute redeten Sie gegen die FDP und die Grünen an, aber unterschiedlich. Es klingt doch durch, dass Sie nichts dagegen hätten, wenn die Grünen in den Bundestag kämen, sind sie Ihnen sympathisch? „Ich weiß nicht, ob es eine Woche vor der Wahl klug ist, das durchzubuchstabieren“, wehrte Brandt ab, „wenn man Vorsitzender einer Partei ist, kann man nicht gleichzeitig für eine andere sein.“ Eine bewusst vielsagende Antwort? Nein, ein Augenzwinkern schenkt er dem taz-Reporter dabei nicht, keine Fraternisierung, die Stimme bleibt im Wahlkampf-Modus.

„Frau Kelly hat das ja leider so zugespitzt: Die SPD sei der Hauptgegner“. Okay, aber wenn sie das gelassen hätte? Nein, „das wäre auch ohne die Zuspitzung nicht anders gewesen“. Sympathie für die Grünen? Kleiner Schreck, hatte ich, die taz, da eine unpolitische Frage, gestellt? Wäre peinlich. „Etwas, was mir sympathisch ist...“, beginnt Brandt die Antwort, bricht dann aber ab, schwenkt um: Nun, er halte es „für einen Vorteil", dass es „solche Herausforderungen gibt“ für seine Partei. Die Friedenskomponente, die ökologische Frage, das sei „nichts Gegnerisches“ zu seiner SPD, der Sache müsse man sich aber selbst annehmen.

Es wird nicht so recht mit dem Aufbruch und Willy Brandt. Er ist nicht in der Stimmung. Aufbruch? „Die Wirtschaftskrise geht heute tiefer, keiner weiß, wie tief sie gehen wird“, sagt er, „und heute sind wir ganz anders als damals dem Rüstungswettlauf ausgesetzt.“ Immerhin, bei diesem Thema bricht er mit der Parteiräson, von Helmut Schmidt aufgestellt: Man müsse bei der Rüstung nicht Gleichgewichte auf allen Ebenen schaffen, deutet er an. Das klingt ja wie ein Verzicht auf Nachrüstung, Herr Brandt. „Ja, ich kann nichts dagegen sagen, wenn man es auf diesen Komplex bezieht, aber wenn denn entschieden werden soll, dann bin ich gebunden an die Beschlusslage meiner Partei“ – will sagen: leider gebunden. Und die hieß: Nachrüstung, Pershing II. Immerhin, da war sie, die Nähe zu den Grünen in der für sie doch so elementaren Frage, und die Distanz zu Helmut Schmidt.

Mehr Aufbruch ist nicht drin 1983, ich muss für mein Heldenbild von Willy Brandt weiter auf den Moment der Willy-Wahl 1972 schauen, und auf seinen Coup mit Scheel 1969. Immerhin, bei der großen Bonner Demonstration gegen die Nachrüstung Monate später wird Brandt als Redner auftreten – und von der Nachrednerin Petra Kelly heftig kritisiert. In den ersten zwei Jahren nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag (die FDP bekam übrigens etwas mehr Stimmen als die Grünen) wird Brandt sich öffentlich oft gegen Rot-Grün aussprechen. Und die taz wird ein ordentliches Büro in Bonn beziehen.