Wenigen Politikern ist es vergönnt, selbst bei denjenigen nostalgische Gefühle heraufzubeschwören, die sie kaum erlebt haben. Willy Brandt zählt zu dieser raren Spezies: Ein Beleg dafür, wie viel mehr als nur ein Politiker der Mann war. Mit einer Steuersenkung oder sozialen Wohltaten mag man im Gedächtnis bleiben. Für Nostalgie, diese diffus wärmende Emotion, die einem vormacht, früher sei alles besser gewesen, reichen die Instrumente der Berufspolitik nicht aus. Hier geht es offenkundig um weit mehr. Die einen nennen es Charisma. Doch diesem Ausdruck haftet etwas Negatives an. Charisma, das kann kein Verständiger leugnen, hatten viele menschenverachtende Despoten auch.
Überzeugungen, Habitus, Rhetorik gehören zum Stil
Wahrscheinlich also geht es um Stil. Nicht um Äußerlichkeiten wie Modebewusstsein – obwohl so etwas natürlich dazugehört – sondern um echten Stil, um Stil, der alle Aspekte der Persönlichkeit umfasst: Überzeugungen, Habitus, Rhetorik. Was also ist es, was Brandt bis heute ausstrahlt, wenn man seine Fotos betrachtet, ihn in Filmen agieren sieht oder seinen Reden zuhört? Vielleicht nähert man sich dem Mann am besten, wenn man sich zunächst klar macht, was Brandt nicht hatte. Da wäre beispielsweise ein Foto seines großen Verbündeten und Rivalen Helmut Schmidt (ein Mann nebenbei, der schon zu Lebzeiten für Nostalgieschübe sorgt, das muss man erst einmal schaffen).
Aufgenommen 1967 beim Berliner Presseball, zeigt es, wie der Verleger Axel Springer seinem Gegenüber väterlich-begütigend die Fliege zum Frack richtet. Schmidt, ein rasiermesserscharfer Seitenscheitel teilt sein Haupthaar, bleckt die Zähne und schenkt Springer ein unvergleichliches Haifischlächeln: Die aggressive Geste eines ehemaligen Weltkriegs-Offiziers, frei von Selbstzweifeln, bei ihm ist alles am richtigen Platz. Helmut Schmidt, der nach der Devise „Das Erreichte sichern“ vorging, dieser Mann weckt die Sehnsucht nach einer Welt, in der ein Wort ein Wort ist und das Leben für den Ehrlichen Aufstiegschancen bereit hält. Oder wenigstens überschaubar bleibt. Man darf dafür auch mit der nötigen Härte zu Werke gehen.
Nichts Soldatisches, nichts Zackiges
Nichts davon ist bei Brandt zu finden. Obwohl auch er den Krieg im Exil sehr wohl erlebte – Fotos aus dieser Zeit zeigen einen Mann, den die Gräuel zumindest äußerlich nicht gebrochen haben – findet sich an ihm beim besten Willen nichts Soldatisches, nichts Zackiges, nichts, das im Entferntesten an Befehl und Gehorsam erinnert. Helmut Schmidts Frack ist die Uniform, die der Mann zu bestimmten Anlässen anzuziehen hat. Sein berühmt-berüchtigter Zigarettenkonsum hat bis heute keinen Anflug von Hedonismus. Wenn Willy Brandt sich eine ansteckte – und das tat er gern und oft –, dann verströmte das neben dem Rauch immer auch die Aura fröhlichen Genusses.
Was die Bekleidung betrifft: Die beiden großen Maßschneider im Berlin der 50er- und 60er-Jahre hießen Steinhardt (Atelier am heutigen Europacenter) und Müller (Leibnizstraße, Ecke Kudamm). Ein Senatskollege soll Willy Brandt einst zu Müller gelotst haben. Eigentlich passen Sozialdemokratie und Maßkleidung nicht gut zusammen. Sich etwas auf den Leib schneidern zu lassen, das riecht zu sehr nach Unterscheidung, danach, sich selbst herauszuheben. Aber der Regierende Bürgermeister war nach anfänglichem Zögern ein guter Kunde. Damals galt mehr als heute: Kleidung definiert, wie man zu den Dingen steht. Ein schludriges Äußeres war nichts, dem man vertraute.
Willy Brandts Smokings oder Fräcke wurden bei den diversen Bundespressebällen und anderen großen gesellschaftlichen Anlässen statt zur Uniform zum Kleidungsstück eines Zivilisten. Wenn man das gegen Brandt auslegen wollte, könnte man sagen: in diesen Anzügen stolzierte ein Galan. Es herrschte ja speziell in den 60er- und 70er-Jahren auch kein Mangel an entsprechenden Geschichten über sein Verhältnis zum anderen Geschlecht. Wobei Brandts Ehepartnerin Rut in diesen Jahren durch ihre Anmut und Klugheit ohnehin Neid auf sich zog. Auch das eine ganz andere Beziehung als die bombensichere Angelegenheit zwischen Helmut und Loki Schmidt.
Eine Rhetorik, die entlarvte
Dieser Hauch von Glamour war der westdeutschen Nachkriegspolitik bis dahin fremd gewesen. Um zu verstehen, woher er rührte, muss man sich die Leistung vor Augen führen, die Willy Brandt als Regierender Bürgermeister West-Berlins vollbrachte. Im Nachkriegsdeutschland wimmelte es vor Ex-Nazis, Ex-Soldaten und Ex-Hitlerjungen. Noch dazu entwickelten speziell die Sowjets in Berlin, sprichwörtlich vor Brandts Haustür, eine militärische Drohkulisse. Brandt aber zeigte der Welt, dass man auch als Zivilist in dieser Atmosphäre bestehen konnte.
Dieser Geist wird in seinen wohl berühmtesten Worten der Jahre vor dem Mauerbau deutlich: Die Stimme nachdenklich-knarzig, sprach er im Zusammenhang mit den vielen Flüchtlingen aus dem Osten von einer „Abstimmung mit den Füßen“. Die Botschaft in Richtung Ost-Berlin und damit Moskau war eine eindeutige: Wenn euer Gesellschaftssystem dem unsrigen so sehr überlegen ist, warum laufen euch dann die Bürger scharenweise davon? Eine Rhetorik, die entlarvte, ohne Drohungen nötig zu haben. Später, bei Kennedys „Ich bin ein Berliner“-Rede, bestand Brandt mühelos neben dem smarten Gast aus den USA, während Bundeskanzler Adenauer ganz offensichtlich einer anderen Epoche angehörte.
Man könnte behaupten, dass eben dieses Zivile Brandts größter ästhetischer Trumpf wurde. Ihm gelang, was weder Adenauer noch Erhard noch Kiesinger bewerkstelligten: eine teilweise Versöhnung der Welt der Intellektuellen und Künstler mit der Politik. Ein Visionär als Kanzler, der den Glauben an eine bessere Welt in seiner Person sichtbar und erlebbar machte, ohne dafür poltern zu müssen. „Wandel durch Annäherung“ – was für eine griffige Formel. Der Kniefall von Warschau, was für eine große Symbolik. Da mochte beim Konstruktiven Misstrauensvotum gegen ihn Korruption im Spiel gewesen sein; am Tag nach der gewonnenen Auseinandersetzung traf er sich in Bonn mit seinem CDU-Kontrahenten Rainer Barzel und trank ein Bier. Wieder so eine Geste. Willy Brandt, der Friedensnobelpreisträger, musste kein pragmatischer Macher wie Helmut Schmidt sein.
Wer Visionen habe, der müsse zum Arzt, ätzte Helmut Schmidt
Gleichzeitig war dieses Zivile wohl Brandts Verhängnis. Schon während seiner Kanzlerschaft war er von Gerüchten umwittert (Manches erwies sich später als wahr). Von Depressionen, war die Rede, von einsamen Stunden und Exzessen, kurz: vom Schlimmen, was all denen passieren kann, deren Weltanschauung auf Zweifeln basiert. War es nicht geradezu zwangsläufig, so streuten Gegner, dass dieser Mann über den DDR-Spion Günter Guillaume stolperte? Etwas, das einem wachsamen Machttaktiker nie passiert wäre?
Wer Visionen habe, der müsse zum Arzt, ätzte Helmut Schmidt einmal ganz allgemein, Brandts Fraktionschef Herbert Wehner, ein Mann, der stalinistische Stahlbäder überlebt hatte, war bei einem Besuch in Moskau deutlicher geworden: „Der Kanzler badet gern lau.“
So wurde Brandt, die Hände gefaltet, die Stimme immer bedächtiger, zum Mahner. Einer, der in Wahlkämpfen zugab, bestimmt nicht immer alles richtig gemacht zu haben. Aber auch einer, der sein moralisches Potenzial dafür einsetzte, Helmut Kohl während dessen Regentschaft vor der versammelten Fernsehnation das Wort mit der harschen Bemerkung abzuschneiden, der Kanzler habe gelogen, und das lasse er ihm nicht durchgehen. Die beiden verstanden sich übrigens privat sehr gut.
Seinen letzten Triumph, die deutsche Einheit, gönnte Willy Brandt jeder. Noch immer streitet die Nachwelt darüber, ob die Einheit trotz oder auch wegen seines neuen dialogfreudigen Stils gegenüber der DDR und ihrer Führung zustande kam. „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“: Diese Worte kann man als Willy Brandts Vermächtnis begreifen. Und man muss kein hoffnungsloser Romantiker sein, um sich in einer Welt voller parteisozialisierter Berufspolitiker ein wenig mehr vom Stil dieses Mannes zu wünschen.