„Verkehr ist wie Fußball, Wetter und Rente – Verkehr geht als Thema immer.“ Hajo Schumacher, Kolumnist der Berliner Morgenpost, hat diesen Satz am Dienstagabend gesagt. Er moderierte das Leserforum „Morgenpost vor Ort“ in der Classic Remise in Moabit. Und er sollte mit seinem Satz Recht behalten.
Zum Thema „Wem gehört die Straße?“ waren rund 100 Leser gekommen, um mit der hochrangigen Expertenrunde auf dem Podium leidenschaftlich zu debattieren. Fußgänger, die sich über Radfahrer ärgern. Radfahrer, die sich über Autofahrer ärgern. Autofahrer, die sich über das Baustellenchaos ärgern. Und viele, auf die sogar alle drei Eigenschaften zutreffen, weil sie sich – wie in Berlin durchaus gebräuchlich – je nach Situation, Anliegen, Zeit und Wetter mal mit dem Auto, mal mit Bus und Bahn, zu Fuß oder auf dem Rad durch ihre Stadt bewegen.
Deshalb sei das heiß diskutierte Thema auch immer „eine Frage der situativen Ethik“, sagte Schumacher. Oder, anders gesagt: Egal mit welchem Verkehrsmittel die Menschen unterwegs sind, sie sehen sich stets im Recht. Emotionen bleiben da nicht aus.
Zu Lasten anderer Gruppen
Die Expertenrunde auf dem Podium bildeten Verkehrssenator Michael Müller (SPD), Volker Krane, Verkehrsvorstand des ADAC Berlin-Brandenburg, die ADFC-Landesvorsitzende Eva-Maria Scheel, Christian Wiesenhütter, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK), und Morgenpost-Redakteur Andreas Abel. Politik, Interessenverbände, Wirtschaft – alle wollen mitentscheiden, wie die Zukunft des Verkehrs in der sich wandelnden Stadt aussehen soll.
Konzepte, Ideen und Planungen, um die alltäglichen Probleme zu lösen, gibt es reichlich, das wurde am Dienstagabend deutlich. Doch längst nicht immer sind die Interessen angesichts des begrenzten Straßenraumes miteinander vereinbar. „Verbesserungen für eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern gehen in der Regel zu Lasten anderer Gruppen“, sagte Verkehrssenator Müller. „Das kann ich auch nicht auflösen.“
Die Probleme sind im Alltag offensichtlich: „Ich habe deutlich den Eindruck, dass die Aggressivität zunimmt“, sagte Morgenpost-Redakteur Abel. „Wir haben eine ganze Reihe von Nutzungskonflikten“, bestätigte Wirtschaftsvertreter Wiesenhütter.
Radfahrer beanspruchen selbstbewusst mehr Raum
Vor allem die Frage, wie die Stadt mit der wachsenden Zahl der Radfahrer umgehen soll, erhitzt die Gemüter. Für neue Radstreifen müssen vielerorts Autofahrspuren verengt oder Parkplätze reduziert werden. Inzwischen wird in Berlin etwa jeder 15. Weg mit dem Rad zurückgelegt. Die Radfahrer verweisen auf ihre gute Klimabilanz und beanspruchen selbstbewusst mehr Raum.
Der Automobilclub ADAC würde die Konflikte gern auflösen, indem Auto- und Radverkehr weitgehend getrennt werden. Verkehrsvorstand Krane plädierte deshalb für den Bau weiterer Radstraßen, wie es sie in Berlin bisher nur vereinzelt – etwa an der Linienstraße in Mitte – gibt. „Wir wollen das häufiger haben“, sagte Krane. Ein Netz von Radstraßen, parallel zu den Hauptstraßen, sei für Autofahrer und Radler die beste und sicherste Lösung.
Doch ausgerechnet bei den Radfahrern sind die, so Krane, „exklusiven Angebote“ gar nicht so beliebt. Von „Mogelpackungen“ war im Publikum die Rede. ADFC-Landeschefin kritisierte: „Das Konzept klingt nett, aber es ist nicht echt.“ Weil die Radfahrer auch in den ausgewiesenen Zonen nicht vorfahrtberechtigt seien, würden vor allem zügige Alltagsradler die Straßen eher meiden. „Die Technik wird besser, die Räder schneller“, sagte Scheel. „Und auch wir wollen wie jeder andere möglichst schnell von A nach B kommen.“
Verkehrsteilnehmer von vielen Baustellen in Berlin ausgebremst
Wie die Verkehrsteilnehmer auf vier Rädern werden allerdings auch die Radfahrer bei diesem Anliegen oft von Baustellen ausgebremst. „Wer beispielsweise durch Mitte muss, der kann schon verzweifeln“, sagte Senator Müller. Warum aber häufen sich Baustellen und blockieren teilweise gleichzeitig wichtige Parallelverbindungen – wie derzeit die Invalidenstraße und den Boulevard Unter den Linden? Und warum dauern die Arbeiten so lange?
„Die Konkurrenz, die wir auf der Straße erleben, die erleben wir auch unter der Straße“, sagte IHK-Vize Wiesenhütter. Die Vielzahl von Leitungen unter der Erde würden immer wieder dazu führen, dass verschiedene Unternehmen unkoordiniert ihre Bagger schicken. Wiesenhütter kritisierte außerdem die Haushaltspolitik. Weil das Geld für Baumaßnahmen meist erst im Frühjahr freigegeben werde, könne nach Planungen und Ausschreibungen oft erst im Herbst richtig mit dem Straßenbau begonnen werden, „kurz bevor dann schon der erste Frost kommt“.
Senator Müller bestätigte das Problem. Auch seien Abstimmungsprozesse zwischen Leitungsunternehmen, Verkehrslenkungsbehörde und Bezirken „teilweise kompliziert“, sagte er, verwies aber auf bereits erzielte Verbesserungen bei der Baustellenkoordination. So würden unzureichende Anträge für Baustellen inzwischen schon im Vorfeld aussortiert, die Genehmigungsbehörde damit deutlich entlastet. Zugleich verteidigte Müller die rege Bautätigkeit.
Schwertransporte, Großveranstaltungen und Filmdrehs
„Wir brauchen eine leistungsfähige Infrastruktur, und dafür müssen wir auch bauen.“ Allerdings, so Müller, seien es nicht allein die Baustellen, die für Staus und Ärger sorgen. Etwa 10.000 Schwertransporte und mehrere tausend Großveranstaltungen und Sperrungen für Film- und Fernsehdrehs würden die Situation zusätzlich verschärfen. „Es wird nicht möglich sein, die Baustellen zu haben und die vielen schönen Veranstaltungen, und keiner merkt’s“, sagte der Senator.
Der Wandel der Stadt treibt auch die Leser der Berliner Morgenpost um. Warum müssen an der Schorlemerallee Dutzende Parkplätze verschwinden und Bäume „zugepflastert“ werden, um einen neuen Radstreifen anzulegen, wollte Anwohnerin Elisabeth Schmidt wissen. Leider ließen sich nicht immer alle Interessen unter einen Hut bringen, sagte Senator Müller. Martin Lutz, Stadtteilexperte des ADFC sagte, dass es im Vergleich zur Innenstadt an der Schorlemerallee auch nach dem Umbau keine wirkliche Parkplatznot gebe. Besser wäre es allerdings für alle Beteiligten gewesen, auf der Straße Tempo 30 einzuführen.
Für gespaltene Reaktionen sorgte Morgenpost-Leser Heinrich Strößenreuther, Erfinder der „Straßensheriff-App“, mit der Radfahrer etwa Falschparker auf Radwegen anschwärzen können. „Natürlich ist Parken auf dem Radweg nicht in Ordnung“, sagte ADAC-Vertreter Krane „Aber es hat schon seinen Grund, dass Petzer auf dem Schulhof früher immer alleine spielen mussten.“ Radlobbyistin Scheel äußerte hingegen Verständnis für Strößenreuther. „Schließlich geht es in vielen Fällen um echte Gefahrensituationen.“
In Berlin fehlt ein Radverkehrsbeauftragter
Gefährlich für Radfahrer sind vor allem Autos, die rechts abbiegen. Leser Christian Giesecke forderte deshalb, die Radstreifen links von der Abbiegespur für Autos zu markieren. Senator Müller verwies auf einige Fälle, wo diese Forderung bereits umgesetzt sei – etwa an der Ecke Mühlenstraße/Straße der Pariser Kommune (Friedrichshain). Bei künftigen Straßenumbauten werde das häufiger realisiert.
Warum der Senat inzwischen seit Jahren auf einen Radverkehrsbeauftragten als Schnittstelle zwischen Radfahrern und Verwaltung verzichte, wollte Leser Hein-Detlef Ewald wissen. Senator Müller antwortete, dass er den Radverkehr als so wichtig ansehe, dass alle Teile seiner Verwaltung damit befasst sein müssten. ADFC-Landeschefin Scheel kritisierte diese Haltung. Der Fehler am Berliner Konzept des Radverkehrsbeauftragten sei gewesen, dass es sich um ein Ehrenamt gehandelt habe. „Wir brauchen einen Beauftragten in Vollzeit und mit Entscheidungsbefugnis“, sagte sie.
Bordsteine an Kreuzungen werden abgesenkt
Ein anderes Problem sprach Ursula Gruhn aus Spandau an. Sie sitzt im Elektrorollstuhl und wird in ihrer Mobilität oft durch Falschparker oder zu hohe Bordsteine blockiert. Bei jedem Straßenumbau würden die Bordsteine an Kreuzungen inzwischen grundsätzlich abgesenkt, sagte Senator Müller. Auch beim Bau von Aufzügen an U- und S-Bahnhöfen habe Berlin schon viel erreicht. „Es wäre aber unredlich zu versprechen, dass die Stadt schon morgen komplett barrierefrei umgebaut ist.“
Wem gehört die Straße? Diese Frage wird weiter für hitzige Debatten sorgen. Vielleicht ist die Antwort aber auch so einfach, wie es Eva-Maria Scheel vom ADFC formulierte: „Die Straße gehört uns allen, und wir alle müssen uns so verhalten, dass es funktioniert.“