„Deinen Job möchte ich nicht haben“, sagt ein Kollege zu Sigrid Brandt. Das kennt sie schon. Sie wird selten beneidet um das, was sie tut. Sigrid Brandt ist der Cop vom Berliner Alexanderplatz.
Geboren in Coesfeld, aufgewachsen in Greven im Münsterland, arbeitet die 48-Jährige nun schon seit 29 Jahren bei der Berliner Polizei. Jeden Morgen fährt sie von ihrem Wohnort in Brandenburg mit dem Motorrad in die Stadt. Wenn sie die Türme und Kuppeln sieht, spürt sie ein erhabenes Gefühl. Sie hat es nie bereut, nach Berlin zu gehen.
Es ist das eine, für die Polizei in der Hauptstadt zu arbeiten, und das andere, „Kontaktbereichsbeamtin“ auf dem Alexanderplatz zu sein. Der Alex wird als „kriminalbelasteter Ort“ eingestuft. Das ist Polizeideutsch für „gefährlich“.
Ein kleines Zelt mit Kerzen und Briefen erinnert bis heute an die tödliche Prügelattacke auf Jonny K. vom Oktober 2012. Im Juni 2013 erschoss ein Polizist unmittelbar hinter dem Platz einen schizophrenen Mann, der mit einem Messer auf ihn losgehen wollte. Und an diesem Dienstag wurde ein Afrikaner brutal zusammengeschlagen.
Sigrid Brandt soll auf dem Alex den Kontakt zum Bürger halten, soll Konflikte früh erkennen und lösen. Notfalls auch tatkräftig einschreiten. Das sind ziemlich viele Aufgaben für eine ziemlich kleine Frau. Aber unwohl fühlt sie sich nicht in ihrer Haut: Sie hat einen kerzengeraden Gang und eine feste Stimme. Während andere Kollegen nur eine Erkennungsnummer an ihrem Hemd tragen, prangt bei ihr ein Schild mit ihrem Namen. „Die Leute sollen wissen, mit wem sie es zu tun haben.“
Es gibt viele Taschendiebe auf dem Alex
Kaum hat die 48-Jährige ihr Operationsgebiet an diesem Abend betreten, als sie von drei jungen Männern auf Englisch angesprochen wird. Einer von ihnen hat seinen bulgarischen Pass verloren und will wissen, wie er Ersatz bekommen kann. Die Frau in Uniform gibt bereitwillig Auskunft.
Auf dem Alexanderplatz hat die Polizistin auch immer wieder mit Taschendiebstählen zu tun. Die Touristen seien zu sorglos, sagt Brandt. Sie stünden auf, um ein Foto zu machen, und ließen ihre Tasche unbeobachtet liegen.
„Schauen Sie doch bitte mal!“, sagt ein Passant und deutet auf einen Mann, der unter einer Eisenbahnbrücke reglos am Boden liegt. Sigrid Brandt kniet sich neben ihn und fasst ihn an der Schulter. „Marek, aufstehen!“ Sie kennt ihn – wie so viele hier. Der Mann ist betrunken. Die Polizistin ruft den Notarzt.
Der Passant, der sie hergeholt hat, beobachtet die Szene. Er kommt jeden Tag auf dem Weg von der Arbeit hier vorbei. „Man hat Angst“, sagt er. „Die Obdachlosen sind noch die Friedlichsten, aber die Jugendlichen hier sind auf Krawall gebürstet. Wenn ich sehe, da steht so'n Pulk, dann fahr ich lieber einen Zug später.“
Polizei auf dem Alex weitgehend machtlos?
Drei Touristen aus München fragen Sigrid Brandt, wo man am Besten Sushi essen kann. Während sie noch antwortet, kommt schon der nächste auf sie zu. Es ist der Inhaber eines Souvenirshops. Er beklagt sich, dass er immer wieder von glatzköpfigen jungen Männern bedroht werde. Sie hätten Postkarten gestohlen und an diesem Abend das Ladenschild beschädigt. „Sie sollen hier keine Angst haben!“, sagt Sigrid Brandt zu dem Mann, fordert Verstärkung an und nimmt die Personalien der Beschuldigten auf. In solchen Momenten ist sie froh, dass sie ihre stich- und kugelsichere Weste trägt.
Ein Streifenwagen mit zwei Kollegen fährt vor. Einer von ihnen seufzt, dass die Polizei auf dem Alex weitgehend machtlos sei. „Man bräuchte hier eigentlich 100 Beamte, die vier Wochen lang jeden Tag über den Platz gehen müssten“, sagt er. „Ich kenn' den Platz noch als kleiner Junge aus der DDR, da war ich hier öfters. Heute würde ich hier privat keinen Fuß mehr hinsetzen. Wie soll man hier Investoren finden? Bei so viel Dreck und Kriminalität!“
Sigrid Brandt sieht nicht so schwarz wie der Kollege. Auch sie kennt Momente der Ohnmacht. Aber auch Erfolge. „Ich bin ein Teil des Platzes geworden, ich werde anerkannt und respektiert.“ Sogar Freundschaften seien entstanden. Deshalb ärgert es sie doppelt, wenn wieder etwas Schlimmes passiert, so wie die Prügelattacke vom Dienstag. „Meine erste Reaktion war: Warum jetzt schon wieder das? So eine Straftat ist aber auch nicht durch den Alexanderplatz bedingt.“ Das liege einfach daran, dass der Verkehrsknotenpunkt jeden Tag von mehreren hunderttausend Menschen passiert werde.
Die Atmosphäre auf dem Platz könne auch sehr familiär sein, sagt Brandt. Sie zeigt auf eine Gruppe alter Männer, die sich zwischen Weltzeituhr und S-Bahnhof niedergelassen hat. „Die sitzen da jeden Tag. Dann gibt's die Würstchenverkäufer, die Hütchenverkäufer, die gehören alle dazu. Das ist einfach wunderschön.“