Spaziergang

Alice Sara Ott – die Frau, die für Lang Lang einsprang

| Lesedauer: 14 Minuten
Julia Friese

Foto: Martin U. K. Lengemann

Alice Sara Ott ist 24 Jahre alt und eine weltweit geschätzte Pianistin. Ihre Karriere begann, als sie eines Tages für ihren Kollegen Lang Lang einsprang. Wir trafen sie in ihrem Kreuzberger Kiez.

Pagenkopf und Piano sind lackschwarz. Beides gehört zu einer zierlichen Frau im violetten Kleid. Ihre Finger streichen mal sachte über den Klangkörper, dann greifen sie beherzt in ihn hinein, bearbeiten die Tasten wie einen Teig. Mit nackten Füßen tritt sie seine Pedalen, ihre Augen sind geschlossen. Immer wieder stößt sie sich von dem Instrument ab, als ringe sie mit ihm um jeden Ton.

Um sie herum ruht der blass-beleuchtete Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Die Pianistin strebt nach Ausdruck, das Publikum nach Regungslosigkeit. Jedes pfeifende Atemholen ist ein Malheur, jedes Husten ein Affront.

Nach zwei Stunden endet das Konzert im Applaus und dem erschöpften Verbeugen der Pianistin Alice Sara Ott. „Danach war ich in der Spätvorstellung von ,Iron Man 3’“, sagt sie am darauffolgenden Vormittag in einem Café in Kreuzberg. Aus dem barfüßigen Pianowesen ist eine junge Frau in Tank-Top und roten Turnschuhen geworden. „Eigentlich wollte ich ,Star Trek’ gucken, aber der ging mir dann doch zu lang“, sagt sie noch. Dann nimmt sie uns mit. Auf einen Spaziergang durch ihren Kiez.

Mit vier sitzt Alice Sara Ott am Klavier

Alice Sara Ott ist 24 Jahre alt. Siegerin zahlreicher Musikwettbewerbe, ehemalige Schülerin des Salzburger Mozarteums und Echo Klassik Preisträgerin. Als sich der chinesische Star-Pianist Lang Lang vor zwei Jahren kurz vor einem Auftritt in London krank meldete, suchte man nach Ersatz und fand Alice. Die britische Presse war voll des Lobes. Sie habe das Zeug zur Legende, hieß es im „Guardian“. „Als ich drei Jahre alt war, wusste ich dass ich Pianistin werden will“, sagt die junge Frau im Kreuzberger Sonnenschein, vor dem sie sich mit einem schwarzen Basthut schützt.

Andere ihres Alters, Kinder der „Generation Maybe“, probieren bis in ihre Dreißiger hinein verschiedene Lebensentwürfe aus, studieren, brechen ab, studieren etwas anderes, können sich nie entscheiden. Alice ist anders. „Ich hatte mit drei Jahren, wie wahrscheinlich viele in dem Alter, das Problem, dass ich mich auf Grund meines sehr geringen Wortschatzes nicht wirklich verständigen konnte“, sagt sie.

Als ihre Eltern – ihre Mutter ist ebenfalls Pianistin, der Vater Elektroingenieur – sie zu dem Klavierkonzert eines Freundes mitnahmen, habe sie dort einen Aha-Moment erlebt: „Ich saß da und dachte: Wenn ich genau das mache, was der Mann dort macht, wenn Musik zu meiner Sprache wird, dann werden die Leute mich verstehen und mir zuhören.“ Ihre Stimme ist dunkel. Die Worte wählt sie mit Bedacht: „Mit vier begann ich, Klavier zu spielen, weil ich nach Aufmerksamkeit und Bestätigung suchte“, sagt sie.

„Berlin passt zu uns Musikern“

Seit Mai wohnt Alice Sara Ott mit ihrem Freund, einem Dirigenten, in Berlin unweit vom Görlitzer Park. „Ich mag die Stadt, sie ist ein starker Gegensatz zu München, und sie passt zu uns Musikern“, sagt sie. Ihre Tage begännen spät, sie schliefen lange. „Die Konzerte beginnen ja erst um acht, in manch anderen Ländern sogar erst um neun oder zehn. Und nach einem Konzert habe ich so viel Adrenalin im Blut, dass an Schlaf vor zwei Uhr nicht zu denken ist.“

Sie sei ein absoluter Nachtmensch. Auf Popkonzerte oder in Clubs gehe sie für gewöhnlich aber nicht, um ihr Gehör nicht zu schädigen. „Meine Mutter ist viel auf Konzerte gegangen. Die war bei Pink Floyd und David Bowie. Ein wenig beneide ich sie darum.“ Aber wenn sie zu Hause in Berlin sei, genieße sie es vielmehr auch nachts noch Lebensmittel einkaufen oder in einem Restaurant essen gehen zu können. „Hier zum Beispiel“, Alice deutet auf einen Italiener an der Ecke Cuvrystraße. „Hier sitze ich häufiger.“

An ihrem Klavier in ihrer Wohnung übe sie nachts zwar mit Kopfhörern, aber in der Straße, in der sie wohne, da ist Alice überzeugt, würde es auch niemanden stören, wenn sie um zwei oder drei Uhr nachts noch üben würde. „Eine Partymeile ist das“, sagt sie. „Über Lärm kann sich hier niemand beschweren.“ Es gefällt ihr. Ebenso gefalle es ihr, dass ihr Kiez so multikulturell sei. Das Gefühl, zu keiner Kultur wirklich dazuzugehören, habe sie stets begleitet.

„Musik ist die einzige Sprache, bei der Herkunft keine Rolle spielt“

In Deutschland spräche man sie mit „Ching Chang Chung“ an, in Japan wundere man sich, dass sie fließend Japanisch spreche. „Aber das macht nichts“, sagt Alice. Sie habe die Musik. „Musik ist die einzige Sprache, bei der Hautfarbe, Herkunft und Nationalität keine Rolle spielen.“ Wo immer sie spiele, werde sie warm empfangen. Ein Passant fragt Alice nach Feuer. Die Pianisten sucht in dem großen Jutebeutel, der ihr von der Schulter hängt. Sie findet ein Päckchen Streichhölzer. Sie schenkt es dem Passanten.

„Meine erste große Bestätigung bekam ich, als ich fünf Jahre alt war“, sagt Alice im Görlitzer Park. Hunde laufen um ihre Beine herum. Dealer mit glänzenden Sonnenbrillen buhlen um ihre Aufmerksamkeit. „Mein Lehrer hat mich an einem Jugendwettbewerb teilnehmen lassen. Beim Abschlusskonzert im Herkulessaal der Münchener Residenz haben mir tausend Leute zugehört. Sie waren aufmerksam, von Anfang bis zum Ende. Das hat mir so viel Befriedigung gegeben, dass ich das immer weitermachen wollte.“

Es sei ihr Verlangen gewesen, Klavier zu spielen. Sie betont, dass ihre Eltern, auch wenn das gerne immer wieder so dargestellt würde, nichts damit zu tun gehabt hätten. Im Gegenteil, ihre Mutter habe es anfangs sogar abgelehnt, dass Alice musiziere. Nach einem Jahr habe sie sich die damals vierjährige Alice dann aber durchgesetzt. Sie bekam Klavierstunden.

„Ich nehme jeden Zuhörer wahr“

„Für meine Mutter wäre es aber auch in Ordnung gewesen, hätte ich nach zehn Jahren Unterricht das Klavierspielen beendet. Es gab da keinen Druck.“ Ihre Schwester ist ebenfalls Pianistin. Sie habe sich schon mit zwei Jahren für das Tasteninstrument entschieden.

Beobachtet man Alice Sara Ott am Klavier, hat man nicht das Gefühl, dass sie irgendetwas von ihrer Außenwelt mitbekommen könnte. Sie wirkt der Realität entrückt, völlig in der Musik aufgelöst. „Aber ich nehme jeden Zuhörer wahr “, bekräftigt sie, während wir die Glogauer Straße betreten. „Also ich sehe sie nicht unbedingt, aber ich höre während eines Konzertes so intensiv, dass ich jeden Gast spüre.“ Das Spiel versetzte sie in einen Rausch.

„Ohne die Aufmerksamkeit des Publikums ist dieser Rausch nicht möglich“, sagt sie erst, dann hält sie inne. Nein, das stimme eigentlich nicht, korrigiert sie sich. Wenn sie beispielsweise den Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgksi spiele, dann sehe sie jedes der mit der Musik beschrieben Bilder.

An der East Side Gallery picknicken

Mehr noch: „Ich verwandele mich in sie. Erst bin ich der böse Gnom, der im Keller wohnt. Der ist für mich eine Metapher für schlechte Eigenschaften, die man zu unterdrücken versucht. Dann bin ich das alte Schloss, und dann das Ballett der noch nicht geschlüpften Küken ...“ Ba dam badi dam. Alice summt das Thema des Stückes. „Es gibt kaum ein Stück, das visueller ist als dieses.“

Wir laufen Richtung Neukölln. Hier hat ihr Freund noch bis vor Kurzem gewohnt. Und sie hat ihn oft besucht. Hat mit ihm an der East Side Gallery gepicknickt und am Landwehrkanal gesessen. „Letztes Jahr war ich sehr viel unterwegs. Ich habe in Japan gespielt und in Europa. Dieses Jahr ist es ein wenig ruhiger. Ich habe den ganzen Juli und August frei, darauf freue ich mich schon.“ Gerade ist sie im Kopenhagener Tivoli aufgetreten, als nächstes geht es für sie solo nach New York und Chicago.

In Bonn wird sie gemeinsam mit dem Beethoven Orchester auftreten. „Im Herbst werde ich dann wieder etwas aufnehmen.“ Gemeinsam mit einem guten Freund habe sie sich für Klavierstücke, die Anfang des 20. Jahrhunderts für das Ballets Russes komponiert wurden, entschieden. „Picasso, Cocteau, Massine, Satie und Djagilew haben damals Kunst um der Kunst Willen geschaffen“, sagt Alice: „Sich nicht von kommerziellen Faktoren eingrenzen lassen zu müssen, das ist das Ideal eines jeden Künstlers.“

Alle akzeptieren ihr Urteil

Fühlt sie sich manchmal eingegrenzt? „Nein“, sagt sie sofort. Sowohl ihre Plattenfirma, die Deutsche Grammophon, als auch ihr Londoner Management oder ihr PR-Team, alle akzeptierten ihr Urteil. „Ich entscheide selber, was ich spiele“, sagt Alice. „Und das ist auch wichtig. Ich muss mich schließlich damit identifizieren können.“ Trotzdem frage sie um Rat. Auch Freunde, Kollegen und bis zu seinem Tod im letzten Jahr auch ihren Lehrer, den deutschen Klavierpädogogen Karl-Heinz Kämmerling.

Manch einer, so Alice, sage ihr nach, dass sie barfuß spiele, habe kommerzielle Gründe. Ein Alleinstellungsmerkmal. Aber das stimme nicht. „Bis vor drei Jahren habe ich auf Konzerten immer High Heels getragen. Einmal musste ich dann aber an einem sehr alten Flügel spielen. Der war so niedrig, dass ich meine Knie nicht drunter schieben konnte. Also hatte ich keine andere Wahl, als die Schuhe auszuziehen.“ Barfuß habe sie sich dann sehr frei gefühlt. Und überhaupt, zu Hause sei sie doch auch immer barfuß. Warum also nicht auch auf der Bühne?

„Man muss sich in der Musik doch wohlfühlen. Ich würde mir auch wünschen, dass sich das Publikum in klassischen Konzerten ein wenig wohler fühlt“, sagt Alice. All das Räuspern und Husten resultiere nur aus der Anspannung, ruhig sein zu müssen. „Im Kino gibt es keine Etikette, und trotzdem sind alle ruhig. Husten tut da nie einer.“ Das Publikum solle sich für ein Konzert auch nicht fein machen müssen, man solle so kommen, wie man sei. Zur Not eben auch barfuß.

Zuschauer dürfen auch barfuß zu ihren Konzerten kommen

Im Rahmen der Berliner Veranstaltungsreihe „Yellow Lounge“, die Klassikmusiker raus aus den Konzertsälen, rein in die Clubs der breiten Masse bringt, habe sie zum Beispiel mal im mittlerweile geschlossenen WMF Club in Mitte gespielt. „Das Publikum saß auf dem Boden um mich herum. Ein Paar hat sich die ganze Zeit über umarmt.“ Das fand sie toll. „Wenn man so ein Publikum nicht fesselt, dann wird es natürlich unruhig, beginnt zu trinken und zu reden. Aber wenn man sie dann einmal hat, dann sind sie das stillste Publikum überhaupt.“

Auf der Neuköllner Sonnenallee blickt Alice immer wieder in die Schaufenster kleiner Einzelhandelsgeschäfte. „Finde ich faszinierend, diese vielen kleinen Läden.“ Bei ihr um die Ecke gäbe es einen Traditionsfischladen, seit über 100 Jahren gäbe es den, dort kaufe sie ein, wenn sie Sushi mache. Direkt daneben sei ein türkischer Gemüseladen. „Die verkaufen dort so kleine Gurken, die enthalten viel weniger Wasser als die großen, die sind viel geschmacksintensiver“, freut sich die 24-Jährige.

„Ich habe sehr viel Glück gehabt in meinem Leben“

Und letztens, erzählt sie, sei sie in einen dieser kleinen Buchläden gegangen, die gebrauchte Bücher für einen Euro verkaufen. Sie habe 200 Stück haben wollen, um ein Regal damit zu bauen. „Ich habe dem Herrn in dem Geschäft 50 Euro für die 200 Bücher geboten. Er wollte sie nicht haben. Sagte erst 20 und dann handelte er sich selbst noch weiter auf 15 Euro runter“, Alice schüttelt den Kopf. „So etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Ich meine, wie häufig verkauft er denn ein Buch?“ Die Pianistin streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht. Die Berliner findet sie, seien sehr nett, freundlich und hilfsbereit.

Konkrete Pläne für die Zukunft hat die Pianistin nicht. „In diesem Geschäft kann man sowieso nur sehr schwer planen“, sagt sie, und bisher habe sie sich die Frage „Was kommt als nächstes?“ auch nie stellen müssen. „Meine Karriere hat sich einfach so ergeben. Ich habe immer irgendwo gespielt und durch Mundpropaganda wurde ich weiterempfohlen.“ Alice Sara Ott hält inne. „Ich weiß, ich habe sehr viel Glück gehabt in meinem Leben.“

Das Einzige, was sie sich nun wirklich vornehme, sei, dass sie ihre Leidenschaft nie aufgeben und sich selbst stets treu bleiben wolle. „Und eine Familie möchte ich eines Tages mal gründen“, sagt sie. Nicht in allernächster Zukunft, aber das sei schon etwas, das sie sich wünsche. „Es wird nicht leicht werden, den Beruf und Mutter zu sein zu kombinieren. Aber ich denke, es ist sicherlich nicht unmöglich.“