41 Prozent der Berliner haben am Sonntag ihre Stimme verweigert. Warum eigentlich? Morgenpost Online hat sich auf die Suche nach dem Nichtwähler begeben.
Rot oder Grün? Oder doch lieber Lila? In den Arkaden am Potsdamer Platz ist das am Wahlsonntag eine wichtige Frage – allerdings geht es hier nicht um Parteien, sondern um Luftballons. Es ist verkaufsoffener Sonntag, zusätzlich findet ein großes Straßenfest zum Weltkindertag statt – die Wahl dagegen ist auf den ersten Blick kein großes Thema. Angesagt sind Luftballons.
Miriam hat zwei an den Buggy gebunden, in dem sie ihre Tochter durch das Einkaufscenter schiebt. Einer ist grün, der andere gelb. Bei politischen Farbenspielen hat die junge Mutter aber keinerlei Präferenzen. Für welche Partei die Farbe Gelb denn eigentlich steht, weiß sie nicht. „Ich habe noch nie gewählt“, sagt die 28-Jährige. „Was die Bürger wollen, wird ja sowieso nicht umgesetzt. Ich glaube nicht, dass es eine Partei gibt, die irgendwas für mich tun könnte.“ Aber beschäftigt hat sie sich damit noch nicht. Dass die Arkaden heute offen haben findet sie gut, es gibt nämlich Geschenke. Zwei rote Gratis-Schirmmützen hängen an den Griffen des Buggys. Der Ex-Mann hat ihr zweites Kind an der Hand, „der geht aber auch nicht wählen“, sagt Miriam und lacht etwas verlegen. Deshalb wollen auch beide ihren wirklichen Namen nicht verraten. „Ich interessiere mich nicht für Politik“, sagt Miriam – aber in der Zeitung lesen soll keiner, dass die beiden Nichtwähler sind.
Draußen regnet es in Strömen, ohne Schirm kommt man nicht weit. Oft muss das schlechte Wetter als Grund für eine geringe Wahlbeteiligung herhalten. Man bleibt lieber zu Hause, will nicht vor die Tür. Doch diejenigen, die heute hier einkaufen, sind ja schon rausgegangen.
Bei der Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2006 gaben nur 58 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen ab – vier von zehn Wählern blieben damals lieber zu Hause. Fünf Jahre zuvor hatte die Wahlbeteiligung noch 68,1 Prozent betragen. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 stieg die Wahlbeteiligung nach ersten Ergebnissen wieder leicht auf knapp 60 Prozent an.
Ginge es nach der Statistik, müsste rund die Hälfte der Leute, die hier herumschlendern, Nichtwähler sein. Doch die Suche nach dem bekennenden Berliner Nichtwähler gestaltet sich schwierig. Er ist wie ein Phantom, das man jagt, aber nicht zu fassen bekommt. Nicht in Mitte, nicht in Kreuzberg und auch nicht in Prenzlauer Berg.
„Wenn ihr einen findet, dann sagt dem mal, dass es so nicht geht“, schimpft einer, der gerade aus dem Wahllokal kommt.
Labis gibt zumindest seinen Vornamen preis. Er wählt nicht. „Das hat einfach keinen Sinn. Die Politiker sagen nicht die Wahrheit und irgendwie sind alle Parteien gleich“, sagt der Kellner. Bevor er ins Wahllokal gehe, würde er viel lieber hier Eis mit seinen zwei Kindern essen. „Das ist besser als wählen. Zur Wahl gehen ändert nichts für mich – aber meine Kinder, die freuen sich.“
Anlässlich des Weltkindertages finden etliche Aktionen für Kinder statt, viele Mitarbeiter sind seit dem frühen Morgen dabei, bauen Stände auf, blasen die begehrten Luftballons auf und legen Bastelsachen bereit. Bleibt da Zeit, um heute noch Wählen zu gehen? „Ich habe schon lange Briefwahl gemacht“, erzählt ein Mann, der als Biene verkleidet ist und Blumen verschenkt. Martina, die für eine Krankenversicherung Flyer verteilt, sagt: „Ich muss hier heute von zehn bis 18 Uhr arbeiten. Vorher wählen zu gehen, war mir echt zu stressig.“ Ob sie gegangen wäre, wenn sie frei gehabt hätte? „Ich glaub' nicht, ich hätte sowieso nicht gewusst, wen ich wählen soll.“ Aber auch sie will sich nur mit ihrem Vornamen zitieren lassen. „Wenn ich mich mal irgendwo bewerbe und man mich im Internet sucht, dann will ich nicht, dass man denkt, ich wäre irgendwie nicht engagiert.“
Der Flohmarkt am Mauerpark im Stadtteil Prenzlauer Berg ist nicht so gut besucht wie sonst. Durch den Regen sind riesige Pfützen entstanden, über die man nur auf Brettern von Stand zu Stand gelangt.
Vera und Julia verkaufen Kleidung. Beide gehen heute zum ersten Mal in ihrem Leben nicht zur Wahl. „Für mich war das eine sehr schwere Entscheidung“, sagt Vera, die als Lehrerin arbeitet. „Ich will Ja sagen zur Demokratie, aber es ist leider egal, was man wählt, man kann nichts ändern.“ Daher habe sie sich entschieden, ab sofort nicht mehr zu wählen. „Ganz besonders stört mich, dass immer von allen Parteien Versprechen gemacht werden, die dann nicht eingehalten werden.“ Ihren Nachnamen möchte sie auch nicht sagen – aber sie lässt sich fotografieren. Genauso wie Julia. Die 32 Jahre alte Erzieherin wählt nicht mehr: „Ich schaue auch keine Nachrichten mehr. Ich habe mich innerlich von der Politik distanziert.“ Auch sie sagt, dass es doch egal sei, wen man wähle. „Die Politik ist ein Selbstläufer, ich hab' da keinen Einfluss. Für mich ist keine Partei mehr glaubhaft“, sagt sie und wippt ihre drei Jahre alte Tochter Lena auf dem Schoß. „Alle Parteien sind sich total ähnlich. Ich war sehr lange der gleichen Partei treu. Aber das ist jetzt auch vorbei.“ Lenas Vater kommt dazu und nimmt die Dreijährige auf den Arm. „Du kannst gleich mal sagen, warum du auch nicht wählen gehst!“, ruft Julia ihm zu. Doch das will er nicht: „Ich muss mein Kind jetzt wickeln, das ist mir wichtiger als zu wählen oder darüber zu reden.“
Statt gar nicht zur Wahl zu gehen, kann man den Stimmzettel ungültig machen, um seinen Protest auszudrücken. Doch diese Möglichkeit zieht keiner der befragten Nichtwähler in Betracht: „Ich habe bisher immer ein Kichergesicht auf meinen Zettel gemacht“, erzählt ein älterer Herr in blaugrüner Regenjacke, „aber dieses Jahr mache ich gar nichts.“ Es sei doch sowieso kein Unterschied in den Parteiprogrammen zu erkennen, „außer zwischen ganz links und ganz rechts.“
Gestatten: Nichtwähler? Mitnichten. Auch, wenn sie ihren Namen nicht nennen wollen: Der Herr in der Regenjacke, Julia und Vera – sie geben immerhin an, dass sie sich nicht an der Wahl beteiligen. Die meisten Berliner, die am Wahlsonntag draußen unterwegs sind, tun das nicht. Von 20 befragten Personen äußert höchstens eine, nicht wählen zu gehen. Die anderen 19 sagen, dass sie es schon getan hätten, per Brief oder persönlich – oder dass sie es in Kürze tun wollten.
Besser darüber schweigen
Geht man danach, was die Menschen über ihr Wahlverhalten angeben, kann die Klage über die stetig wachsende Zahl der Nichtwähler nur ein Mythos sein. Bei den Wahlen 2006 waren es aber tatsächlich 42 Prozent der Menschen, die nicht wählen gingen. Und mit 41 Prozent ist die Fraktion der Nichtwähler in diesem Jahr nicht wesentlich kleiner geworden. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass einige Menschen nicht die Wahrheit sagen. Und das merkt man vielen an. Sie zögern, schauen ihren Partner fragend an und erst dann fällt ihnen plötzlich ein, dass sie ihre Stimme schon abgegeben haben.
Warum? Manche mögen sich bedrängt fühlen von der Frage, ob sie Nichtwähler sind. Man kann sich das so vorstellen: Auch das Nichtwählen ist eine Form, sein Wahlrecht auszuüben. Und zu den Grundsätzen des Wahlrechts gehört das Wahlgeheimnis. So wie man nicht sagt, was man wählt, sagt man auch nicht, ob man wählt. „Was geht Sie das an?“, könnten Nichtwähler also denken.
Bei den jüngsten Landtagswahlen gingen zuletzt immer mehr Menschen nicht ins Wahllokal. Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen im Mai waren es 44,1 Prozent. In Mecklenburg-Vorpommern verweigerten Anfang September mit 48,6 Prozent so viele Bürger wie noch nie die Stimmabgabe. Einen historischer Tiefpunkt gab es 2006 in Sachsen-Anhalt: Dort gingen 66,6 Prozent der Berechtigten nicht zur Wahl. Die geringste Beteiligung bei einer Landtagswahl in Deutschland seit Kriegsende.
Obwohl das Nichtwählen mittlerweile absolut angesagt ist, überwiegt wohl bei vielen auch nach wie vor das Gefühl, sich gesellschaftlich zu isolieren, wenn sie offen dazu stehen, Nichtwähler zu sein. Wahlpflicht sei Bürgerpflicht, hören sie dann, und wer nicht wähle, der dürfe sich auch nicht beschweren. Auch wenn beinahe die Hälfe der Berliner den Wahlen fern bleibt, fühlt sie sich offenbar trotzdem in der Minderheit. Und schweigt besser.
Die Wähler unter den Berlinern schweigen nicht. Sie äußern sehr deutlich, was sie von den Nichtwählern halten. Im ersten Stockwerk der Arkaden am Potsdamer Platz sitzt an einem Tisch ein junger Mann mit seinen Freunden bei Orangensaft, Schrippe und Frühstücks-Ei. „Ja“, antwortet er auf die Frage, ob er Berliner sei, und „natürlich“, deutlich lauter, auf die, ob er in diesem Jahr wählen gehe. Und dann schiebt er hinterher: „Gebt den Nichtwählern von mir einen Tritt in den Hintern!“