Bürgeramt und Schule, Kita und Kneipe: Rund 2,5 Millionen Berliner und Berlinerinnen waren aufgerufen, je ein Kreuz auf drei Stimmzettel zu setzen. Wie sieht es dort aus, wo über die künftige Richtung der Berliner Politik entschieden wird? Unsere Reporter konnten nicht alle 1736 Wahllokale besuchen, einige aber doch. Hier steht, was sie dort erlebt haben.
8.00 Uhr: Schlangestehen in Lichtenberg Sieben Wähler stehen schon am verschlossenen Tor der „Kultschule“ an der Sewanstraße in Lichtenberg, als die Wahlhelfer die Türen öffnen. Junge Leute stehen neben Rentnern, die Wahlhelfer dirigieren sie freundlich in die beiden Wahlbüros. Wenig später reicht die Warteschlange bis auf den Schulhof. Die Wahlbeteiligung sei hier traditionell hoch, sagt ein Wahlhelfer. Er und seine Kollegen richten sich auf einen anstrengenden Tag ein.
8.55 Uhr: Abwarten an der Dorotheenstraße Genau das Gegenteil ist in der Mensa der Humboldt-Universität an der Dorotheenstraße in Mitte der Fall. Den größten Lärm macht im Wahllokal 208 die Klimaanlage des provisorischen Baus. Die alte Mensa wird gerade saniert. Wahlvorsteher Rüdiger Reich und seine fünf „Kollegen“ an diesem Tag haben die Tische und Stühle zurechtgerückt, die Wahlkabinen aufgestellt und die Wahlzettel in der richtigen Reihenfolge bereitgelegt. Ihre Rollen wurden schon vorher festgelegt: Jedes Wahlbüro hat Wahlvorsteher, Schriftführer und Stellvertreter. Bevor die Wahl beginnt, hat der Vorsteher festzustellen, ob seine Mannschaft vollständig ist, und er muss sie auf politische Neutralität verpflichten. Der Schriftführer hat dies in einem Formblatt zu protokollieren.
Gut eine Woche zuvor haben die Helfer bereits eine zweistündige Einweisung über das gesamte Prozedere bekommen, angefangen vom Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme bis hin zur vorschriftsmäßigen Beflaggung. Für Rüdiger Reich, 68, ist all diese Bürokratie mittlerweile fast eine liebe Gewohnheit. Er lebt in Schöneberg, ist pensionierter Verwaltungsbeamter – und seit der Wende Wahlvorstand in diesem Stimmbezirk. Die aufregenden Zeiten, sagt er, seien vorbei.
„Früher kam die einstige Politprominenz der DDR bei uns wählen“, erinnert sich Reich, Joschka Fischer kam „mal mit Frau, mal ohne“. Angela Merkel war auch schon oft da. Die Kanzlerin wohnt um die Ecke. Reich lächelt. Er ist Personenschützer und Journalisten in seinem Wahllokal inzwischen gewöhnt. „Da werden schon mal Tische gerückt, damit es sicherer ist – oder im Fernsehen besser aussieht.“
Das größte Chaos habe der Medientross 2005 verursacht, sagt Reich, als Merkel als Oppositionsführerin an die Wahlurne kam. Er lacht. „Damals war es hier so voll – selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte niemanden rauswerfen können.“ Dabei stünde ihm das durchaus zu. Für den Tag der Wahl hat der Wahlvorsteher das Hausrecht in seinem Lokal. Reich wirkt gelassen. Merkel jedenfalls wird diesmal nicht kommen, sie hat per Briefwahl gewählt, ebenso wie rund 200 weitere Wähler aus seiner Liste. „Immer mehr Leute machen das“, sagt Reich, und wirkt fast ein bisschen enttäuscht. Und besorgt, ob die Wahllokale nicht eines Tages ganz eingespart werden könnten. Er setzt sich an seinen Tisch und wartet.
9.25 Uhr: Wählen im Zwergenland Die Wolken in der Schivelbeiner Straße hängen tief. Dunkel und bedrohlich schweben sie reglos über der Kindertagesstätte, als wollten sie die Wähler eindringlich warnen, bloß das Richtige zu wählen. Allein: Was ist bei einer Wahl schon das Richtige? Es regnet unablässig. Wer eintritt in das Wahllokal für die Stimmbezirke 605 und 606 in Prenzlauer Berg ist von Kopf bis Fuß durchnässt, manche ziehen nur noch zerfledderte Wahlbenachrichtigungen aus ihren Jacken.
Der Eingang verkündet für den Tag auch nichts Gutes, im linken Fenster hängt ein gebastelter Baum, dessen Blätter abfallen. „Herbst“ steht darüber. Auf der Scheibe rechts klebt ein Wintermosaik. Gutes Wahlwetter sieht wirklich anders aus. Drinnen ergibt sich ein ulkiges Bild: Viel zu große Menschen sitzen mit gekrümmten Rücken an viel zu kleinen Tischen über Listen gebeugt, machen Kreuzchen und geben die Wahlscheine aus. Das hat was von Gullivers Reisen: Die Riesen im Land der Zwerge.
Am Eingang bildet sich langsam eine Schlange, schnell huschen Männer und Frauen unter den Vorsprung, der ein wenig Schutz bietet vor den Regenmassen. Kurze, unrepräsentative Umfrage:
Mann, 40: „Grüne.“
Frau, 26: „Grüne.“
Frau, 41: „CDU.“
Frau, 19: „Piraten.“
Mann, 52: „SPD.“
Frau, 31: „Grüne.“
Hört man sich hier noch etwas länger um, verfestigt sich der Eindruck, dass die Grünen hier in der Gegend gute Chancen haben. Die FDP nennt keiner. Na dann.
9.10 Uhr: Tierische Wahlhelfer In Malchow gackert ein Huhn einsam auf dem Schulhof, nebenan weiden Schafe und Ziegen auf dem Sportplatz. Und vor dem Lehrerzimmer der „Grundschule im Grünen“ sitzen drei Kater und putzen sich. Das Wahllokal 201, Bezirk Lichtenberg, dürfte wohl berlinweit das einzige mit tierischen „Helfern“ sein. Die Grundschule im Grünen ist eine Gemeinschaftsschule – und ein Geheimtipp. Acht Katzen streifen frei durch das weitläufige Schulgebäude, dürfen gestreichelt werden und am Unterricht teilnehmen. Im angeschlossenen Streichelzoo grunzen zwei Hängebauchschweine, es gibt Hühner, Gänse, Kaninchen und noch viel mehr Tiere.
Trotzdem – in der ersten Stunde des Wahltages sind gerade mal 14 Wähler dagewesen, sagt Ulrich Negrassus, 49, „besonders viel ist das nicht“. Negrassus ist Wahlvorsteher im Wahlbüro 201, zudem ist er der stellvertretende Direktor der Schule. Er sei schon seit 1991 immer wieder Wahlhelfer, sagt er, besonders aufgeregt wirkt er nicht, obwohl in seiner Schule ganz schön was los ist. Neben dem Wahllokal wird gebastelt, im Vorraum sitzen außerdem zwei Damen, die für die Hochrechnungen des ZDF Wähler befragen.
Negrassus führt in sein Büro, fragt nebenbei: „Kennen Sie unseren Leguan?“, deutet auf ein Terrarium und sagt: Die Beteiligung sei hier immer etwas geringer als in den Nachbar-Wahlkreisen. Nebenan werden sieben Vogelspinnen in acht gut verschlossenen Terrarien betreut – von Schülern. Ein Zoobesuch ist nichts dagegen. Eigentlich sollten die Wähler doch in Scharen vorbeikommen? Er schüttelt den Kopf. „Unsere Schule liegt eben versteckt und etwas weiter entfernt von den Wohngebieten“, sagt er. Außerdem sei sie nicht behindertengerecht.
Die Wahlkabinen stehen im Klassenraum der Fünf- bis Neunjährigen. Während jetzt auf den Tischen Wahlzettel ausgegeben werden und in Namenslisten geblättert wird, machen Pinocchio und seine Kumpels ihre Runde. Als einmal kein Wähler in der Kabine ist, wagt der Kater einen Blick hinein und kommt mit fragendem Blick wieder hinaus. Als wollte er sagen: Kein Futter? Was machen die Leute da bloß?
10.10 Uhr: Bürgerpflicht macht zufrieden Die Wahlhelfer in der Mensa der Dorotheenstraße haben ein großes Tablett Süßigkeiten aufgestellt, schließlich ist Sonntag, Wahl hin oder her. Bisher haben sie 22 Wähler begrüßt. Der Sturzregen trommelt auf das Plastikdach. Ein Ehepaar sitzt auf einer der Bänke und studiert die Wahlzettel. Es sind drei: Erststimme, Zweitstimme, BVV-Wahl. Die beiden 80-Jährigen diskutieren eine Weile, die Wahlhelfer beobachten sie aufmerksam, aber nein: Keine Fragen. Die beiden machen ihre Kreuzchen und ziehen von dannen. Sie sehen zufrieden aus, und die Wahlhelfer können das gut nachvollziehen.
Das Wort „Bürgerpflicht“ wird an Tagen wie diesen oft verwendet. Wahlhelfer Arnhold Berlien, 53, zum Beispiel sagt: Er habe sich freiwillig gemeldet, weil seine Frau sich ebenfalls verpflichtet habe. „Ich finde es gut, etwas zur Demokratie beizutragen“, sagt er. Tischnachbar Dieter Kirchhof, 63, fügt hinzu: „Es ist ja auch eine gute Möglichkeit, mal hinter die Kulissen zu gucken, wie Wahlen eigentlich funktionieren“.
10.55 Uhr: Zwischen Pils und Wahlbetrug Peter Frackmann schaut ein wenig skeptisch drein. „So wenig wie heute war noch nie los“, sagt der 63-jährige Wahlvorsteher im „Xantener Eck“ in Charlottenburg – einem Wahllokal, das seinen Namen wirklich noch verdient. An den Wänden hängen Emaille-Tafeln aus den 20er-Jahren, Werbung für „Underberg“, „Doornkaat“, „Pilsener Urquell“, viele Alkoholika mehr, die Luft schmeckt nach altem Holz und Leder und Bier. Echter, typischer, bürgerlicher könnte eine Kneipe gar nicht riechen.
Frackmann ist seit 40 Jahren Wahlvorsteher, er passt hier ganz gut rein. Er arbeitet im öffentlichen Dienst, in der Senatsverwaltung für Finanzen. Auch wenn natürlich ein bestimmter Teil der Belegschaft einer Behörde zwangsverpflichtet werde, habe ihn nie jemand zwingen müssen. Das sei ja auch ein Dienst an der Demokratie, was er hier mache.
Seit sieben Uhr ist er schon hier, hat die Wahlkabinen aufgebaut, die Zettel bereitgelegt, den Schlüssel für die Wahlurne sicher verwahrt. In dem holzvertäfelten Saal, in dem das provisorische Wahlbüro eingerichtet ist, hängen hinter Frackmann die drei obligatorischen Fahnen: Berlin, rot und weiß mit dem Bären, in der Mitte die deutsche Fahne, daneben die europäische. Über Frackmann baumelt eine Lampe, der Schirm aus bemaltem Glas, sie wirft Heiligenscheinlicht auf die Freiwilligen.
So langsam trudeln ein paar Wähler ein, „da werden aber sicher noch mehr kommen heute.“ 1189 könnten es maximal sein in diesem Wahlkreis, in dem „eigentlich überdurchschnittlich viele wählen gehen“, wie Frackmann sagt. Und einige von denen nehmen es offenbar mit dem Wahlgeheimnis nicht so genau. „Wir mussten schon das ein oder andere Mal einen Mann darauf hinweisen, dass er den Wahlzettel seiner Frau nicht kontrollieren darf“, sagt Frackmann.
Neben dem erfahrenen Wahlvorsteher sitzt ein Neuling. Lary Schlüssel, gerade 18 Jahre alt, Gymnasiast aus Westend. Er hat sich spontan freiwillig gemeldet. Es sei schön, gebraucht zu werden, sagt er. „Die Wahlbenachrichtigung und den Ausweis, bitte“, diesen Satz wird er heute noch häufig sagen. Abhaken, das ist sein Job. Das klingt erst mal so, als könnte das auch ein Roboter machen, aber Schlüssel weiß, wie wichtig der Job ist. Er scheint das sehr ernst zu nehmen. Und er will es wieder machen.
11.10 Uhr: „Wer wählen will, sollte deutsch sprechen“ In Kreuzberg an der Reichenberger Straße prallen die Welten aufeinander. „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie illegal“, hat jemand mit schwarzer Farbe auf ein Plakat der Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast gesprüht. Doch Wahlplakate geben glücklicherweise nicht den Wählerwillen wider. Ein paar Meter weiter im Jugendzentrum Chip haben gegen elf Uhr immerhin 70 Wähler ihre Stimmzettel abgegeben, Wahlvorsteherin Elke Schwarz sagt. Sie hat frühmorgens mit ihren Kollegen das Lokal eingerichtet, Kaffeemaschine und Wasserkocher angeschlossen und das mitgebrachte Essen verstaut. Außerdem haben sie das Gebäude noch einmal genau besichtigt – die Betreiber des Jugendzentrums haben darum gebeten, keine „Unberechtigten“ hineinzulassen. Problemkiez eben.
Die Wähler dagegen, sagt Schwarz, seien unproblematisch. Am Vormittag sind es junge Familien, ein älterer Herr im arabischen Gewand verabschiedet sich höflich. Ein hoher Anteil der Wähler hier ist „nicht deutscher Herkunft“. Viele Parteien haben hier, in Kreuzberg-Nord, Kandidaten mit Migrationshintergrund aufgestellt. Muttersprachler unter den Helfern oder gar Übersetzer gebe es bei ihnen aber nicht, sagt die Wahlvorsteherin. „Wer wahlberechtigt ist, sollte ja wohl auch genug deutsch verstehen“. Gegenüber im türkischen Männercafé wird das bestätigt. „Gewählt? Ja“, sagt einer, aber dass er leider zu wenig deutsch spreche, um weitere Fragen zu beantworten.
Elke Schwarz (46) arbeitet wie viele Wahlhelfer im öffentlichen Dienst. Aufgewachsen ist sie in Lichtenberg. Die ersten Wahlen, sagt sie, habe sie noch zu DDR-Zeiten erlebt. „Damals musste man hingehen, sonst bekam man Ärger“, sagt sie. „Wer nicht wählen ging, musste Repressalien fürchten, man durfte beispielsweise nicht studieren.“ Und sie erinnert sich an die „Wahlschlepper“, die mit den Urnen noch zu den Bettlägerigen und Alten nach Hause kamen. Insofern sei es für sie „keine Sache“, die Wahlen zu unterstützen. Musiker Dirk Andreas (34), der mit Tochter Naoko (5) auf dem Fahrrad zur Wahl kommt, sieht das ähnlich. „Ich finde es wichtig, dass sich in Berlin nach all den Jahren etwas verändert. Also dachte ich, ich gehe schnell wählen, bevor wir nachher ein Kinderkonzert in der Komischen Oper besuchen.“
12 Uhr: Rekordversuch in der Kultschule In der „Kultschule“ an der Lichtenberger Sewanstraße stehen die Menschen immer noch Schlange. Um zwölf Uhr müssen alle Wahllokale die erste Meldung zur Wahlbeteiligung machen. Die beiden Lokale haben gute Chancen auf Plätze weit vorne: 261 waren es im einen, 380 im anderen Raum. „Ist richtig stressig heute“, sagt eine ältere Wahlhelferin, die selbst um die Ecke wohnt. Auch in dem Wahllokal, in dem sie selbst gewählt habe, habe großer Andrang geherrscht. „Die Leute haben teilweise eine Dreiviertelstunde gewartet, bis sie dran waren.“
12.05 Uhr: Der Ausweis in der Urne Wenn es heute nach Benedikt ginge, dann gäbe es bald auf der Spree nur noch Piratenschiffe. „Und im Parlament nur Piraten!“ sagt er. Aber es geht nicht nach Benedikt, er ist erst sieben, und mit seinen Eltern Thomas Jentsch, 44, und Judith Mehler, 43, auf dem Weg in die Dietrich-Bonhoeffer-Grundschule in Westend. „Es ist uns sehr wichtig, unserem Sohn schon früh zu zeigen, dass man wählen gehen sollte“, sagt Jentsch. Schließlich gehe es dabei um direkte Einflussnahme, das gehöre zur Demokratie.
Drinnen wartet Wahlvorsteherin Gerda Reichhelm. Seit drei Jahrzehnten macht sie in der Schule mit, weil sie den Kontakt mit den Menschen liebe. „So komme ich unter Leute, ich sitz' nicht so gern einfach nur vorm Fernseher rum“, sagt die 68-Jährige. Ihre Liebe zu den Menschen trägt sie immer bei sich. Bis auf die Schultern baumeln ihre Silberohrringe herab, es sind Menschen, mit Kopf, Armen und Beinen.
Mit ihren Kollegen bildet sie ein eingespieltes Team, einer bringt die Brötchen, einer backt, sie kümmert sich traditionell um die Kaffeemaschine. Etwas Besonderes passiere hier selten, sagt sie. Gut, einmal habe einer seinen Ausweis in die Urne geworfen, der musste dann um 18 Uhr noch mal wiederkommen. Aber sonst sei das hier eher eine ruhige Gegend. Bürgerlich. Hohe Wahlbeteiligung. Viele Senioren. Ständig nickt Reichhelm jemandem zu, wenn sie spricht, grüßt Menschen, die sie von der Straße kennt. Fast alle, so scheint es, kennen sie, die Wahlvorsteherin mit den türkisblau geschminkten Augen und den Menschenohrringen. Sie muss jetzt aber auch mal weiter machen, ist ja viel los.
13.00 Uhr: Kuchen, sonst weit und breit nichts Das Ambiente in der Podbielskiallee kann sich sehen lassen. Während die meisten Wähler in alten Turnhallen und Grundschulen ihre Kreuze machen müssen, dürfen die Steglitzer, zumindest hier in der Gegend, in der Königin-Luise-Stiftung wählen. Gut, auch in diesem hochherrschaftlichen Gebäude ist eine Schule untergebracht, aber der Bau macht schon was her, 104 Jahre alt ist er bereits. Im Eingangsbereich riecht es nach Kuchen, aufgeregte Zwölfjährige wuseln durch die Räume, wollen den Kuchen verkaufen. Die Schulklasse sammelt für eine Skifahrt nach Österreich. Sonst ist nicht viel los. „Wir wünschen uns schon noch mehr Trubel“, sagt einer der Wahlhelfer.
Wiebke Michaelis, 32, und Robert Renner, 26, kommen mit einem Lächeln und zwei Stückchen Käsekuchen die Treppen des Internats hinab. Der Himmel hat inzwischen ein bisschen aufgeklart, die beiden wären aber auch gekommen, wenn es den ganzen Tag weiter wie aus Eimern gegossen hätte. „Das ist mein Recht und meine Pflicht“, sagt Michaelis. Zudem sei es eine große Motivation, mit der eigenen Stimme die extremistischen Parteien auszuschließen, sagt Renner. Von den Unmengen an Partei-Plakaten, die den Weg von ihrer Wohnung bis zum Wahllokal säumen, haben die beiden sich nicht beeinflussen lassen. „Was wir wählen, steht schon lange fest“, sagt Michaelis. Die Plakate seien eher lästig, ergänzt Renner.
13.40 Uhr: Ein Pastor im Autohaus Volker Strehlow macht gerade mal ein paar Minuten Pause. Die angebissene Käsestulle liegt neben ihm, der Kaffee ist fast ausgetrunken, er spielt auf einem Minicomputer herum. Strehlow, 40, Baptist und arbeitsuchender Pastor, ist Wahlvorsteher in einem nicht ganz typischen Wahllokal. Um ihn herum, in den Hinterräumen, vor allem vor der Tür, stehen Neuwagen. Das hier ist ein Škoda-Verkaufsraum.
Im Eichhorster Weg in Reinickendorf ist gerade nicht viel los. Am frühen Morgen sei es aber proppenvoll gewesen, sagt Strehlow, ein Schnitt von knapp mehr als 50 Wählern pro Stunde. Da wäre er schon froh gewesen, wenn sie eine dritte Wahlkabine gehabt hätten. Gut, genaugenommen haben sie eine dritte Wahlkabine, nur leider wurde offenbar vergessen, einen dritten Tisch bereitzustellen. „Was soll man machen?“ Und die kleine Kabine auf den Boden zu stellen, das könne man ja nun wirklich niemandem zumuten.
Strehlow ist hier, weil er dem Wahlamt etwas zurückgeben möchte. Das hatte ihn damals, als er noch Theologie-Student an der Humboldt-Universität war und dort Wahlen organisierte, mit Material unterstützt. Zudem wolle er einen Dienst an der Gemeinschaft leisten, gerade in dieser Zeit, in der er sich nicht sonntags um eine Gemeinde kümmern könne. „Für Krankentransporte bin ich leider ungeeignet“, sagt er. 31 Euro bekommt er als Ausgleich für seine Mühen, aber um das Geld gehe es ihm natürlich nicht.
Er wird insgesamt sicherlich mehr als zwölf Stunden in dem Autohaus verbringen, wenn sehr viele Wähler kommen, vielleicht noch länger. Natürlich wünsche er sich grundsätzlich eine hohe Wahlbeteiligung. „Aber als Wahlvorstand hat man auch nichts dagegen, wenn es nicht zu voll wird.“ Sagt er und lacht. Er will noch ein paar Minuten Mittag machen, bevor es weitergeht.
Draußen, zwischen den Autos, taucht plötzlich ein Mann mit einem breiten Grinsen auf. Ohne gefragt zu werden, sagt er: „Wir sind zehn Rentner, wir haben mal die SPD und mal die CDU gewählt, aber jetzt geben wir den jungen Leute mal eine Chance. Computer, Internet, das ist ja alles wichtig. Wir haben die Piraten gewählt, schreiben Sie das ruhig.“ Er verbeugt sich kurz, dreht sich um und verschwindet wieder hinter den Autos.
13.30 Uhr: Endlich kein Regen Auch in der Grundschule im Grünen haben die Wähler inzwischen den Weg gefunden. Immerhin 289 seien schon da gewesen, sagen die Wahlhelfer. Es hat aufgehört zu regnen. Die Kater sitzen inzwischen im Hof und mustern misstrauisch die Hunde, die draußen auf ihre wählenden Herrchen warten müssen.
18 Uhr: Der spannendste Moment Wahlvorstand Rüdiger Reich vom Wahllokal an der Dorotheenstraße sagt: Der interessanteste Moment der Wahl sei für ihn das Auszählen der Stimmen. Ab 18 Uhr werden die Urnen geleert. Dann muss alles ganz schnell gehen – ganz Berlin wartet dann auf das Ergebnis ihrer Arbeit. Zuerst werden drei Stapel gemacht: Gültige Stimmen, ungültige und Zweifelsfälle. Über diese stimmen die Helfer dann ab – der Schriftführer hält das Ergebnis fest. Dann wird gezählt – und mit den Listen verglichen. Wenn alles gut geht, können sie das Ergebnis schnell an den Leiter des Wahlamts Mitte geben.
Seine Prognose, wer gewinnt? Reich lächelt. Er lässt sich nicht hinters Licht führen. „Wenn jemand mit mir ein politisches Gespräch führen will“, er deutet nach draußen, „dann nur vor der Tür. Hier drinnen ist neutrales Gebiet.“