Natursteinwände, ein verglaster Warteraum und viel Tageslicht: Die große Gemeinschaftspraxis von Rainer Lenk hat eine schöne Innenarchitektur. Um sie zu betrachten, haben die meisten Patienten genügend Zeit: Ohne Termin wartet man hier mindestens eine Stunde. „Wir sind ein Akutfach“, sagt eine Arzthelferin der HNO-Praxis in Kreuzberg. „Wer zu uns kommen muss, kann nicht mehr Tage auf einen Termin warten, sondern muss schnell behandelt werden“, sagt sie. Viele Patienten kämen deshalb ohne Termin – entsprechend lang seien die Wartezeiten. „Freitags und Sonnabends muss man oft mit zwei bis drei Stunden rechnen“, sagt die Sprechstundenhilfe.
Trotz solcher Wartezeiten bei der Stichprobe von Morgenpost Online hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin – Dachorganisation der ambulanten Ärzteschaft – am Donnertsag den insgesamt 2,7 Millionen gesetzlich versicherten Berlinern und den 6800 niedergelassenen Ärzten grundsätzlich ein sehr positives Attest ausgestellt: Fast die Hälfte aller befragten Berliner hätten bei ihrem letzten Arztbesuch maximal eine Viertelstunde gewartet. Drei Viertel hätten höchstens 30 Minuten im Wartezimmer ausharren müssen, bis sie im Sprechzimmer saßen. Das gehe aus einer Untersuchung hervor, die die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen (FGW) im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) durchgeführt hat. 6065 Bundesbürger im Alter zwischen 18 und 79 Jahren wurden befragt. Diese Untersuchung hat die Berliner KV auf die Hauptstadt herunterdekliniert. Unterm Strich stützt sich die Befragung auf Antworten von 264 Berlinern – also einer relativ kleinen Gruppe.
Fast die Hälte bekommt sofort einen Termin
„Heute haben Sie Glück“, sagt dagegen die Sprechstundenhilfe von Doktor Jean Joseph Lévy bei unserem Besuch in der Kreuzberger Bergmannstraße. „Normalerweise müssten Sie mindestens 40 bis 80 Minuten warten, an Montagen sogar noch weit mehr“, sagt sie. Am Donnerstag waren hingegen nur wenige Patienten in der Praxis des Hautarztes, die Wartezeiten somit überschaubar. Termine werden wegen der starken Auslastung generell nicht mehr vergeben. „Die Patienten müssten sonst Monate auf die Termine warten“, sagt die Arzthelferin.
Mit einem Bestellsystem arbeitet indes die Moabiter Fachärztin Ursula Hübenthal-Mathe. Sie sagt: „In unserer HNO-Gemeinschaftspraxis erwarten wir hauptsächlich bestellte Patienten, die sich normalerweise nicht lange gedulden müssen. Unbestellte Patienten dagegen müssen sich auf bis zu zwei Stunden Wartezeit einstellen.“ Der Allgemeinmediziner Lutz Habenicht behandelt gänzlich ohne Termine, sodass die Patienten durchschnittlich 30 Minuten warten müssen. Generell gelte: Wer einen Termin hat, kommt schneller dran.
Der gesamte Trend ist laut KV allerdings positiv: Bekamen 2008 nur 24 Prozent der Befragten sofort einen Arzttermin, seien es jetzt 28 Prozent. An den Arbeitszeiten der niedergelassenen Ärzte hat sich indes im Laufe der Jahre so gut wie nichts geändert: Die Kassenärzte müssen nach wie vor für gesetzlich Krankenversicherte nur 20 Stunden in der Woche zur Verfügung stehen. KV-Chefin Prehn erklärt die kürzeren Wartezeiten damit, dass immer mehr Ärzte über ihre Sprechzeiten auf Türschildern informierten.
Auch die Zufriedenheit mit den Ärzten habe sich bei den Berlinern verbessert: Wollte sich 2008 noch knapp ein Fünftel der Befragten über einen Arztbesuch beschweren, seien es jetzt nur noch zwölf Prozent. Von diesen zwölf Prozent sind allerdings 37 Prozent der Ansicht, dass sie falsch medizinisch versorgt wurden. Die Erkenntnis der KV: „Die Berliner sind offenbar kritischer als der Bundesdurchschnitt.“
Die Berliner seien offenbar eher mal bereit, sich bei einem anderen Hausarzt eine Zweitmeinung einzuholen. Während nur jeder zehnte befragte Bundesbürger sich eine weitere medizinische Einschätzung bei einem zweiten Allgemeinmediziner einholt, erkundigen sich in Berlin 17 Prozent der Befragten bei einem anderen Hausarzt. Berlins KV-Chefin Angelika Prehn erklärt das vermehrte „Ärztehopping“ in der Hauptstadt mit dem großen Angebot an ambulanten Ärzten und den kurzen Wegen zu den Praxen.
Die Praxisgebühr von zehn Euro, die jedes Quartal beim ersten Hausarztbesuch fällig wird sowie bei jedem Arztwechsel ohne Überweisung, scheint die Berliner nicht sehr zu schmerzen. Denn 80 Prozent derjenigen, die einen zweiten Hausarzt aufsuchten, taten dies ohne Überweisung und mussten somit die Praxisgebühr ein zweites Mal bezahlen. Auch beim Facharzt werde jeder dritte Befragte ohne Überweisung vorstellig – müsse also die Gebühr zahlen. „Offenbar macht es den Berlinern nicht soviel aus, die Praxisgebühr zu bezahlen“, folgert Prehn. Hier unterscheide sich Berlin deutlich vom Rest der Republik: Im Bundesdurchschnitt gehe nur jeder Vierte ohne Überweisung zum Facharzt. Diese Diskrepanz erklärt die KV mit dem größeren Angebot an ambulanten Fachärzten in erreichbarer Nähe in der Hauptstadt. Diese führe offenbar dazu, dass sich Patienten schnell mal eine Zweitmeinung einholten – auch ohne Überweisung.
Die Patientenbeauftragte des Berliner Senats, Karin Stötzner, berichtet derweil von anderen Problemen in der ambulanten Versorgung: Ein Dauerbrenner sei die Diskriminierung von Kassenpatienten gegenüber Privatversicherten. Zudem finde so mancher Berliner keinen neuen Hausarzt, wenn sein alter Arzt in den Ruhestand gegangen sei. Vor allem in den östlichen Bezirken Hohenschönhausen, Köpenick, Hellersdorf und Lichtenberg gebe es Probleme von einem neuen Allgemeinarzt als Patient aufgenommen zu werden. „In den Fällen helfe ich aber, gemeinsam mit der KV“, verspricht Stötzner.