Fachkräftenotstand

Die wenigsten Altenpfleger bleiben bis zur Rente

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Anette Dowideit

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Stress und schlechtes Image schrecken junge Leute ab, im Altenheim zu arbeiten. Doch bereits 2020 werden rund 300.000 Fachkräfte fehlen.

Altenpflege ist anstrengend: Arbeit im Schichtdienst, mal früh morgens, mal spät nachts. Sich beim ständigen Heben und Bücken den Rücken kaputt machen. Den Tod sehen. Sich von Alzheimerpatienten beschimpfen lassen. Und von den Angehörigen auch, weil die denken, die Pflegerin sei Schuld, dass so wenige Leistungen bezahlt werden. Und das alles für ein Einstiegsgehalt von gerade mal 1800 Euro brutto im Monat.

Man fragt sich, ob Vanessa Otto sich das gut überlegt hat. Die 19-Jährige und ihre 14 weiblichen und vier männlichen Mitschüler sind in der Ausbildung zum Altenpflegehelfer im Frankfurter Hufelandhaus. An diesem Vormittag sitzen sie im Klassenzimmer im Ausbildungszentrum, einem pragmatisch gebauten Betonklotz im Nordosten der Stadt, und diskutieren über die Philosophie, die hinter ihrem Beruf steckt.

Altenpflegehelfer sind eine Art Light-Version der Altenpfleger. Die Ausbildung dauert nur ein Jahr statt drei Jahre, dafür dürfen die examinierten Altenpfleger später zum Beispiel Spritzen setzen, Verbände anlegen und zum Stationsleiter aufsteigen.

2030 wird es 3,4 Millionen pflegebedürftige alte Menschen geben

Von beiden Berufen gibt es in Deutschland viel zu wenige Absolventen. Laut Bundesanstalt für Arbeit sind Altenpfleger die meistgesuchten Arbeitnehmer in Deutschland, und der Arbeitgeberverband Pflege warnt, dass im Jahr 2020 rund 300.000 Altenpfleger fehlen werden . Denn die Zahl der pflegebedürftigen Alten wächst rasant. Im Jahr 2030 wird es 3,4 Millionen von ihnen geben, prognostiziert das Statistische Bundesamt. Derzeit sind es 2,1 Millionen.

Das ist ein Problem. Denn gleichzeitig gibt es kaum einen Beruf, der unter Heranwachsenden so schlecht angesehen ist. Nur 3,4 Prozent der Schüler an Gymnasien können sich laut einer Umfrage der Universität Bremen überhaupt vorstellen, später in einem Pflegeberuf zu arbeiten. Unter den Realschülern sind es ebenfalls klägliche 5,3 Prozent.

Wahrscheinlich liegt das auch am niedrigen Einkommen und dem dadurch geringen Ansehen in der Bevölkerung. "Es gilt die Regel: Wer wenig verdient, der wird auch als wenig qualifiziert angesehen", sagt der Münchener Pflegeexperte Claus Fussek. Als Konsequenz, meint Fussek, müssten die großen sozialen Dienstleister, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz oder Diakonie zum Beispiel, die Löhne kräftig heben, um den Beruf attraktiver zu machen.

Doch wie soll das gehen angesichts der leeren Pflegekassen? Schon jetzt reichen die Zuschüsse, die ein alter Mensch für das Leben in einem Heim oder die Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst von der Kasse bekommt, nur für einen Bruchteil der Gesamtkosten. Gleichzeitig ist kaum ein Erwerbstätiger bereit, mehr als die derzeit knapp zwei Prozent seines Bruttoeinkommens an die Pflegeversicherung zu zahlen.

Experten warnen schon seit Jahren: Sollte sich nicht etwas Grundlegendes ändern an der Einstellung der Beitragszahler – und der Politiker, die für die Höhe dieser Beiträge verantwortlich sind – steuert Deutschland auf ein Desaster zu. Massen von Greisen würden bald viel zu wenigen Pflegern gegenüber stehen, die sie versorgen sollen.

In dem Job geht es um Respekt

Vanessa Otto und ihre Mitschüler im Hufeland-Haus sind Teil einer ziemlich kleinen Minderheit. Ihnen ist das durchaus bewusst, sagen sie, ebenso wie die Tatsache, dass ihre Arbeit mies bezahlt und darüber hinaus auch noch schlecht angesehen ist. "Wir gehören zur Unterschicht", sagt einer der jungen Männer in der Diskussionsrunde im Klassenzimmer, und die anderen nicken bestätigend.

Warum sie sich trotzdem für diese Ausbildung entschieden haben? "Man lernt in diesem Beruf ziemlich viel über Respekt", sagt Vanessa Otto und schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. "Man lernt, mit dem Ende des Lebens umzugehen. Und man bekommt ganz viel Dankbarkeit zurück."

So viel Reflexion überrascht bei so jungen Leuten. Dankbarkeit, Respekt, diese Begriffe fallen häufig in dieser Unterrichtsstunde. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass beim Blockunterricht – die Schüler sind immer abwechselnd in der Schule und ihren Ausbildungsbetrieben, Altenstiften oder ambulanten Diensten im Umkreis von 50 Kilometern rund um Frankfurt – die Auseinandersetzung mit dem Beruf fest zum Programm gehört.

In den letzten Tagen haben die Schüler Collagen gebastelt, in denen es um das Selbstbild der Altenpfleger geht. Auf bunte Pappen haben sie mit Filzstift Worte und Sätze wie "Empathie" und "Pflege ist mehr als Waschen" geschrieben, dazu Zeitungsausschnitte aufgeklebt, auf denen nette junge Pfleger mit glücklich lächelnden alten Damen "Mensch Ärgere Dich Nicht" spielen.

Der Alltag sieht allerdings oft ganz anders aus. In den Ausbildungsbetrieben gebe es teilweise viel zu wenige ausgebildete Fachkräfte , die Anleitung geben könnten, erzählt einer der Schüler: "Ich muss mir fast alles selbst beibringen. Meistens ist keiner da, den ich fragen kann."

Eine andere Schülerin erzählt, dass auf ihrer Station im Altenheim morgens im Frühdienst, wenn die Bewohner aus den Betten geholt und versorgt werden müssen, oft nur drei Pflegeschülerinnen eingeteilt seien, aber keine einzige examinierte Fachkraft. Und damit sei auch niemand da, der die Verantwortung übernehmen könne, wenn einem der Heimbewohner etwas passiert.

"Pflegekräfte werden verheizt"

"Die Leute werden schon in der Ausbildung systematisch verheizt", urteilt Pflegeexperte Fussek. Das führt dazu, dass Pflegekräfte weit häufiger krank sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. Laut einer vor wenigen Tagen veröffentlichten Studie der Techniker Krankenkasse (TK) fielen Altenpfleger im Schnitt 18,9 Tage krankheitsbedingt im Job aus, während es durchschnittlich bei allen Versicherten nur 12,3 Tage waren.

"Dabei resultieren die hohen Belastungen nicht aus dem interessanten Beruf an sich, sondern aus den vielfach schwierigen Arbeitsbedingungen", sagt Marion Menke, Professorin für den Studiengang Pflege und Expertin für die Ausbildungs- und Beschäftigungssituation von Pflegenden an der Hochschule für Gesundheit in Bochum.

Was sie damit meint, zeigt sich am Beispiel der Berufskrankheit Nummer Eins bei Altenplegern, den Rückenbeschwerden. Sie machen laut mehreren Studien mehr als ein Fünftel aller Krankheitsfälle aus.

Alte Menschen zu pflegen ist körperlich anstrengend: Häufig müssen die Pfleger ihre Patienten heben, tragen oder sich zu ihnen herunterbücken. Laut einer Untersuchung der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) aus dem Jahr 2004 leiden 35 Prozent aller Altenpfleger in ambulanten Diensten unter Kreuz- und Rückenschmerzen und 36 Prozent unter Nacken- und Schulterschmerzen.

"Würde man dieses Heben bei Bedarf zu zweit machen, wäre die Belastung für den einzelnen Pfleger weit geringer", sagt Professorin Menke. Doch dafür fehlen oft die Zeit und das Geld, und damit das Personal.

Zwar gibt es auf den Stationen in der Regel Geräte wie Hebehilfen, die den Pflegern die Arbeit erleichtern und den Rücken schonen sollen. In der Praxis, erzählen die Pflegeschüler, fehle aber oft einfach die Zeit, quer durch die Station zu laufen und den Apparat zu holen.

"Außerdem wollen viele alte Leute nicht mit so einem Gerät aus dem Bett gehoben werden, weil es ihnen weh tut", sagt Vanessa Otto. "Sollen wir sie etwa zwingen?" Auch in der Untersuchung der Berufsgenossenschaft sagten fast 40 Prozent der Befragten, aus Zeitdruck häufig auf Hebehilfen zu verzichten.

Körperlicher und psychischer Stress

Das Problem ist, dass es durch die starken körperlichen Belastungen – und dazu den psychischen Stress durch den Schichtdienst und die oft anstrengenden Bewohner – kaum ein Altenpfleger schafft, bis zum Rentenalter durchzuhalten. Was den Pflegermangel noch weiter verschärft.

Zum Glück gibt es aber immer mal wieder Quereinsteiger. Wie Yvonne Brenden, deren Biografie beispielhaft dafür steht, was die Altenpfleger antreibt. Brenden ist 42 Jahre alt und damit eine der ältesten Schülerinnen im Altenpflegehelferkurs. Sie ist ausgebildete Hotelfachfrau, leitete bis vor ein paar Jahren ein Restaurant in Karben bei Frankfurt.

"Der Beruf hat mir aber nichts mehr gegeben", sagt sie. Eine Freundin riet ihr, wie sie beim ambulanten Pflegedienst anzufangen. Es sei "Liebe auf den ersten Blick" gewesen zwischen ihr und ihrem neuen Beruf.

Sie gab ihren alten Job auf und arbeitete, "natürlich gegen deutliche finanzielle Einbußen", wie sie sagt, drei Jahre als ungelernte Kraft, bevor sie die Ausbildung am Hufeland-Haus begann.

Ein paar Stockwerke unterhalb der Klasse der Altenpflegehelferschüler liegt das Klassenzimmer der Altenpflegeschüler. Also denen, sie sich für die dreijährige Ausbildung entschieden haben. Auch bei ihnen geht es im Unterricht häufig darum, ob es richtig war, ausgerechnet Altenpfleger zu werden. Eine Schülerin erzählt, ihre Mutter sei Akademikerin.

"Ich esse nichts, was du gekocht hast"

Sie sei richtig wütend geworden als sie, die Tochter, ihr offenbart hatte, ihr Berufswunsch sei Altenpflegerin. Und auch von den Freunden sei die Unterstützung, die sie erfahren habe, nicht gerade groß gewesen. "Meine Freunde wollten anfangs nicht mehr zu mir zum Essen kommen. Sie sagten: Ich esse nichts, was du gekocht hast." Schließlich habe sie vorher alte Menschen angefasst.

Abgeschreckt hat sie das alles nicht. Die Leute brauchen uns doch, sagen die meisten der Pflegeschüler, wenn man sie fragt, warum sie nicht einfach aufhören und sich einen Bürojob suchen. Immer wieder hört man den Satz: "Wenn wir uns nicht um die alten Leute kümmern, dann ist ja gar keiner mehr da, der es macht".

Es scheint, als fühlten sich die Altenpfleger als Mitglieder einer kleinen, eingeschworenen Gemeinschaft, die an sich selbst höhere moralische Ansprüche stellt als der Rest der Gesellschaft – und darauf zu Recht stolz ist. Umso härter treffen sie die immer zu Wahlkampfzeiten wiederkehrenden Politikervorschläge, man könne doch schwer vermittelbare Arbeitslose zum Dienst im Altenheim einteilen.

Wenn man die Schüler im Hufelandhaus darauf anspricht, regt sich Wut in vielen Gesichtern. "So etwas tut uns weh", sagt Yvonne Brenden. "Denn das signalisiert: Das, was ihr tut, kann nun wirklich jeder." Und mit solchen Signalen, meint sie, motiviere man wohl kaum mehr junge Leute, in den Beruf einzusteigen.