Gamescom

Wie Videospiele unseren Körper in Besitz nehmen

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Thomas Lindemann

Foto: dpa / dpa/DPA

Videospiele sollen ohne Joysticks auskommen, die einzige Steuerung ist der Körper. Das ist die Erkenntnis der Gamescom.

In der immer noch jungen und von sich selbst berauschten Videospiele-Industrie ist mehrmals jährlich von einer Revolution die Rede. Dafür reicht es in der Regel schon, wenn jemand eine neue Maus mit ergonomischen Knöpfen auf den Markt bringt. Doch nun ist der Branche tatsächlich eine Revolution gelungen. Bei der am Sonntag in Köln zur Ende gegangenen Spielemesse Gamescom, drehte sich alles um eine neue Generation von Hardware, die es Videospielern ermöglicht, ohne Joysticks und ähnliche Instrumente zu agieren. Keine Knöpfe, keine Kabel sollen mehr den Fluss stören.

Wer spielt, stellt sich vor einen Bildschirm und bewegt sich. Die Figuren auf dem Bildschirm ahmen die Bewegungen nach. Sie treten Fußbälle, boxen in Gesichter, reiten auf Besen durch hochauflösende Wolken. Die Werbung von Microsoft verspricht: "Bei Kinect wird mit Armen, Händen, Beinen und Füßen gespielt. Das ist kinderleicht, macht jede Menge Spaß und sorgt dafür, dass ihr noch mehr Fun mit euren Lieblings-Games haben könnt." Das klingt so frenetisch, als würde man im Urlaub von einem Aquagymnastik-Animateur behelligt, während man bloß faul in der Sonne liegen will. Und verträgt sich nur schlecht mit dem Mantra der Industrie, die unablässig versichert, ihre Erfindungen wären auch für denkende Erwachsene gedacht.

Doch vielleicht verhält es sich ja umgekehrt und die Gamescom wollte vorführen, wie sehr wir dabei sind, in eine ewige Kindheit einzutreten, in der jede erwachsene Tätigkeit durch das Als-ob des kindlichen Rollenspiels ersetzt wird. In Köln standen nur noch die 18-jährigen Jungs Schlange vor den dunklen Räumen mit den Schießspielen, in denen ein erbarmungsloses Leben in einer archaischen Welt simuliert wird. Alle anderen indessen - die Jüngeren, die Älteren und die Frauen - begeisterten sich für die neuen Bewegungssteuerungen. Sie wollten Luftgitarre spielen, Schattenboxen und Fitness ohne Geräte. Sogar Steffi Graf macht schon mit - mehr Mainstream geht kaum. Im neuen "Rexona"-Spot mimt die Tennisspielerin den digitalen Gegner, gegen den Amateure vor einer Spielkonsole antreten.

Die Erlebnisse, die von den neuen Apparaturen ermöglicht werden, sind einerseits frappierend, andererseits frappierend albern. Bei einer virtuellen Rafting-Flussfahrt steuert man durchs Wildwasser, indem man im Wohnzimmer den Körper hin- und herwirft; einen Hürdenlauf absolviert man, indem man vor dem Bildschirm hoch hüpft, damit der virtuelle Doppelgänger auf dem Bildschirm seine Hindernisse überspringt. Die Objekte, die man im Spiel bewegt, steuert man mit leeren Händen. So bekommen sie einen ganz neuen Glanz. Wer mit Kinect Bowling spielt, greift in die Luft wie ein Pantomime, wiegt vorsichtig die imaginäre Kugel, schätzt die Bahn ab und rollt sie. "Im Entdecken der Unverwendbarkeit fällt das Zeug auf", hat Heidegger gesagt. Bei den neuen Spielen stellt man fest: Wo die Kugel unerreichbar und eigentlich wirklich nicht da ist, beginnt man wieder, sie zu fühlen. Vielleicht entledigt sich die moderne Elektronik der materiellen Dinge, damit wir wieder lernen können, sie zu lieben. Gerade programmiert der große Hersteller Electronic Arts Harry Potter für Kinect um, gespielt wird, indem man einen unsichtbaren Zauberstab in die Höhe reckt. Es schadet nicht, dazu noch "Expelliarmus" zu rufen.

Sony hat ein ähnliches Konkurrenzprodukt namens "Playstation Move" entwickelt, bei dem man aber noch ein kleines Steuergerät in der Hand behält. Es ist ganz von Nintendos vier Jahre alter Wii abgeschaut, nur viel genauer und besser zu handhaben. Eingefleischte Videospieler werden es lieben, schon weil sein Kopf bunt leuchtet wie ein Laserschwert. Einen Abzug hat es auch. In einem Sony-Werbespot lacht der Comedian Kevin Butler daher nun über die Idee des Sony-Konkurrenten Microsoft, man solle schießen, ohne dabei etwas zu drücken. Doch die auf den ersten Blick absurde Körperlosigkeit ist das radikalere Konzept. Es macht Microsoft nach Jahren erstmals wieder zu einem Vorreiter: Kinect ist die Verheißung einer Welt, in der man keine dinglichen Werkzeuge mehr benötigt, nur Geist und Vorstellungsvermögen.

Wie durch ein dialektisches Zauberkunststück ist das Verschwinden der Geräte am Ende doch nur durch ihre ultimative Herrschaft möglich. Sowohl bei Kinect als auch bei Move ist eine kleine Kamera ständig auf den Spieler gerichtet, um seine Bewegungen zu überwachen und zu berechnen. Eine Mini-Variante von HAL, dem Computer-Auge aus "2001: Odyssee im Weltraum", hat mitten im Wohnzimmer Platz genommen. Vielleicht will dieses Auge uns aber gar nicht vernichten. Vielleicht will es wirklich einfach unsere Körperlichkeit neu erwecken.

Denn wo der Computer sich in mimetischer Nachahmung des Spielers übt, muss dieser eine betagte Kunstform neu entdecken und selbst zum Mimetiker werden. Bei Sonys Party-Spielen schneidet man in der Luft einer Comicfigur die Haare oder malt Bilder ins Nichts, die dann auf dem Schirm erscheinen. Beim Bogenschießen mit "Sports Champions" ertappt man sich dabei, den Arm anzuspannen, als sei da wirklich eine Sehne. Dabei misst das Gerät nur den Abstand zwischen den Händen.

Der große Pantomime Samy Molcho beklagte oft, dass die Körpersprache für uns moderne Menschen zu einer Fremdsprache geworden sei. Er sah in ihr ein Zeugnis der Menschlichkeit. "Jeder von uns will, dass man ihn wahrnimmt und respektiert", schreibt er in seinem Buch "Körpersprache". Respekt aber bedeute, "Körpersignale richtig zu interpretieren - und das geht vom Herzen aus." Nun also ist es endlich so weit: Mein Computer liebt mich wieder. Nachdem er jahrelang nur für Rückenschäden verantwortlich war, schaut er jetzt den ganzen Menschen an.

Menschen, die vor ihrer Spielkonsole knien, zappeln und gestikulieren - dieses Bild wird die Spielerszene bald dominieren. Vielleicht kehrt so auch der Tanz ins Stubenhockerleben zurück. Das Radfahren ist schon da. Mit dem "Bigben Cyberbike" kann man vor seinem Bildschirm sitzen und durch virtuelle Landschaften radeln. Bisher nur Fantasy-Welten, die ganz in die wohlige Gemütlichkeit des Auenlandes getaucht sind, doch wird man sich bald fühlen wie bei einer echten Radtour.

Der womöglich letzte Schritt zur neuen Hardware-Freiheit ist übrigens schon in Arbeit: Die kalifornische Firma Neurosky hat ein Interface entwickelt, mit sich Videospiele alleine durch Gehirnströme steuern lassen. Dabei sitzt eine Elektrode auf der Stirn des Spielers, endlich einmal wird ein Head-Set seinem Namen gerecht. Einfach dazusitzen und mit dem bloßen Gehirn durch Welten zuwandern, das gibt es natürlich schon lange: Bisher nannte man es Tagträumen. Doch braucht man wohl die maschinellen Simulationen, um das Simulierte wieder zu schätzen.

Der einzig denkbare nächste Schritt kann nun nur darin bestehen, wieder den eigenen Körper zu benutzen. Zum Beispiel wieder einen "Fußball" zu treten, wieder zu tanzen, wo man eigentlich tanzt. Die Steuergeräte, nämlich Arme und Beine hat ja jeder schon.

"Kinect" und "Move" kommen ab Herbst in den Handel.