Gesundheit

Die neuen Kinderkrankheiten sind chronisch

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Lajos Schöne

Foto: picture-alliance / chromorange

Die meisten Eltern schätzen die Gesundheit ihrer Kinder als "sehr gut" oder "gut" ein. Kinder- und Jugendärzte konstatieren: Die Krankheiten der Kinder sind immer öfter chronisch. Übergewicht, Allergien, Infektionen und psychiche Probleme – die Liste der Krankheiten ist lang. Dazu kommt Gewalt.

Fragt man Eltern in Deutschland nach der Gesundheit ihrer Kinder, so heißt die Antwort in 93 Prozent der Fälle „sehr gut“ oder „gut“. Nur bei 6,8 Prozent wird der Gesundheitszustand als mittelmäßig, schlecht oder sehr schlecht eingeschätzt. So weit die gute Nachricht. Über weniger gute berichteten Kinder- und Jugendärzte auf einer Tagung in München: Sie registrieren eine beunruhigende Verschiebung des Krankheitsspektrums von akuten zu chronischen Krankheiten und eine Zunahme psychischer Störungen.

„Es gibt ohne Zweifel eine ‚neue Morbidität‘“, sagt Professor Dieter Reinhardt, Direktor der Universitätskinderklinik München. „Hierzu zählen vor allem die Zunahme von Übergewicht, die hohe Zahl von allergischen Erkrankungen, Infektionen durch Impflücken, Verhaltensstörungen und psychische Probleme wie Aufmerksamkeitsdefizitstörung sowie Essstörungen.“ Aber auch der hohe Anteil von Jugendlichen mit Gewalterfahrung sowie Risikoverhalten in Form von Rauchen, Alkohol- und Cannabiskonsum sei beunruhigend.

Zu den Gesundheitsrisiken, von denen heute mehr und mehr Kinder bedroht sind, liefern die aktuellen Ergebnisse der europaweit größten Kinderstudie Kiggs alarmierende Fakten. Kiggs steht für „Kinder und Jugendgesundheitssurvey“. An dieser Studie des Robert-Koch-Instituts in Berlin haben 17.641 Kinder und Jugendliche aus 167 Städten und Gemeinden der Bundesrepublik mit ihren Eltern teilgenommen und damit zum ersten Mal eine verlässliche Grundlage zur Beurteilung des Gesundheitszustandes der mehr als 14 Millionen Kinder und Jugendlichen vom Babyalter bis zum 17. Geburtstag geliefert.

Problem 1 : mehr dicke Kinder. Die Zahlen sind alarmierend. 15 Prozent aller Kinder zwischen drei und 17 Jahren sind übergewichtig, 6,3 Prozent fettsüchtig. Hochgerechnet sind das 1,9 Millionen dicke und rund 800.000 fettsüchtige Kinder und Jugendliche in Deutschland. Das bedeutet einen Anstieg seit den 1980er-Jahren um 50 Prozent. Der Anteil fettsüchtiger Kinder in der Altersgruppe zwischen 14 und 17 hat sich gar verdreifacht.

Problem 2 : häufigere Allergien. Lange Zeit hatte man geglaubt, Allergien kämen im Grunde nicht öfter vor als früher, sie würden lediglich von sensibilisierten Eltern und Ärzten häufiger festgestellt. Heute besteht an ihrer alarmierenden Zunahme kein Zweifel mehr. Auf die Frage, ob jemals ein Arzt bei ihrem Kind eine der „atopischen“ Erkrankungen festgestellt hatte (dazu zählen Heuschnupfen, Neurodermitis und Asthma), antworteten 22,9 Prozent der befragten Eltern mit Ja.

Jeder vierte mit mindestens einer Krankheit

13,1 Prozent aller Deutschen erkranken irgendwann im Laufe ihres Lebens an Neurodermitis. Bei Heuschnupfen sind es 10,5 Prozent, beim allergischen Kontaktekzem 9,5 Prozent und bei Asthma 4,7 Prozent. Oft leiden Betroffene sogar an mehreren dieser Krankheiten. Fast jeder vierte Bundesbürger ist jedoch von mindestens einer dieser Erkrankungen betreffen – Männer ein wenig häufiger als Frauen.

Im Gegensatz zu anderen Gesundheitsstörungen treten Allergien in sozial bessergestellten Familien häufiger auf als in Familien mit niedrigem Sozialstatus. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind dagegen weniger häufig betroffen. Während in der früheren DDR Allergien bei Kindern seltener vorkamen, bestehen heute zwischen Ost und West keine Unterschiede mehr – das Allergierisiko hat sich auf dem ungünstigen Westniveau eingependelt.

Problem 3 : Aggression. In jeder siebten Familie machen sich die Eltern große Sorgen, weil ihre Kinder lügen, klauen oder sich prügeln. Verhaltensauffälligkeiten wie „wird leicht wütend“, „schlägt sich häufig“, „lügt oder mogelt“ oder „nimmt Dinge, die ihm nicht gehören“ berichteten 14,8 Prozent der befragten Eltern, bei Jungen häufiger als bei Mädchen. Mit 21,4 Prozent besonders häufig zeigten Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Sozialstatus derartige Verhaltensweisen.

Emotionale Probleme wurden mit Aussagen abgefragt wie „macht sich Sorgen“, „ist unglücklich oder niedergeschlagen“ „hat Ängste“ oder „leidet unter Kopf- und Bauchschmerzen“. Von solchen Problemen waren Mädchen mit 9,7 Prozent häufiger betroffen als Jungen (8,6 Prozent). Weitere Erkenntnisse: Mit großer Wahrscheinlichkeit psychisch auffällig sind 10,9 Prozent der Jungen und 8,4 Prozent der Mädchen. Jedes zehnte Kind leidet unter Ängsten, jedes 20. zeigt depressive Symptome. Ein gestörtes Sozialverhalten mit gesteigerter Aggressivität weisen 7,9 Prozent der Jungen und 7,2 Prozent der Mädchen auf. Auch davon sind Kinder aus ungünstigen sozialen Verhältnissen häufiger betroffen.

Materielle Armut, sozialer Abstieg, konfliktreiche Familien und Bildungsferne beeinträchtigen nicht nur die späteren Bildungschancen, betont Kinderarzt Professor Reinhardt: „Sie sind auch ein entscheidender Faktor für die Chancen auf Gesundheit.“