Einhundertzehn. So lautete die offizielle Mitteilung des Hamburger Gesundheitsamtes. Einhundertzehn Fälle von akuter Infektion mit dem Masernvirus. Vor allem an Schulen im Süden Hamburgs habe sich das Virus verbreiten können. Einhundertzehn Infektionen – das reicht hin für einen Begriff, den Beteiligte wie amtlich Befasste tunlichst meiden. Der Begriff ist Epidemie. Wie einst unter den Azteken – angesteckt von der Mannschaft Christopher Kolumbus’ – wütet die Masernepidemie jetzt wieder in Deutschland. Vor Kurzem in Nordrhein-Westfalen, jetzt verbreitet sie sich auch in Hamburg. Eine Masernepidemie in Deutschland – die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält das für alles andere als einen Zufall.
Den Inspektoren der obersten Gesundheitsaufsicht der Welt kommt das schon sehr bekannt vor. Es ist seit Jahren immer das Gleiche mit Deutschland. Das Fachmagazin „The Lancet“ hat kürzlich eine Liste veröffentlicht, worin die Bundesrepublik einen Ehrenplatz im Ranking jener Staaten hat, die das Masernvirus in alle Welt exportieren könnten. In der Liste der Erkrankungsfälle steht Deutschland weltweit auf Rang 26, einen Platz unter Usbekistan – zwei Plätze vor Sambia und dem Tschad.
Die deutsche Anfälligkeit ist der Grund, weshalb das Ziel der Weltgesundheitsorganisation, bis 2010 in Europa masernfrei zu sein, unmöglich zu erreichen ist. Masern in Deutschland – das hat eine soziale Komponente. Die Epidemie verbreitet sich in den besten Kreisen der Gesellschaft. Masern sind in Deutschland inzwischen so etwas wie eine Modekrankheit unter Intellektuellen. Aber eine gefährliche. Davon befallen sind vor allem Jugendliche aus Akademikerhaushalten mit biologisch-energetischem Überzeugungshintergrund. Dort lässt man die Kinder offenbar lieber das Risiko eingehen, lebenslange Schäden durch Masern zu erleiden, als die Nachteile einer „unnatürlichen“ Impfung zu erdulden. Die Schulmedizin hält das für unverantwortlich. Bei jeder 1000.?Infektion tritt nach Wochen eine Enzephalitis auf. Diese Hirnentzündung verläuft bei jedem Dritten tödlich, jeder Fünfte erleidet bleibende Schäden.
Warum wollen sich gerade gesundheitsbewusste Deutsche nicht impfen lassen? „Die Lücken sind ganz oben und ganz unten in der Gesellschaft“, sagt Susanne Glasmacher, Sprecherin des Berliner Robert-Koch-Instituts. Zu viele Eltern weigerten sich aus zum Teil absurden Gründen: Sie fürchteten einen Komplott der Pharmaindustrie oder diffuse Nebenwirkungen. Diese Eltern stehen mit ihrer Angst nicht allein da. Dass auch viele Hausärzte beim Thema Impfen sich ihrer Sache nicht mehr sicher sind, ergab gestern der erste deutsche Impfkongress. In Mainz trafen sich erstmals Forscher und Politiker mit den Mitgliedern der Ständigen Impfkommission (Stiko) zur Nationalen Impfkonferenz. Dabei verschafften sich gleich zu Anfang die Hausärzte Luft: Der Fachverband der Deutschen Allgemeinärzte hatte in ungewohnt schneidendem Ton eine Philippika verfasst. Die Stoßrichtung war: Der Umgang mit den Schutzimpfungen müsse unabhängiger von der Pharmaindustrie gehandhabt werden.
Bei vielen Impfstoffen seien Zulassungen und Indikationen „unübersichtlich und inkompatibel mit den Impfempfehlungen“. Vielen Seren seien verwirrend gekennzeichnet, die Angaben widersprüchlich, mit den Impfempfehlungen unvereinbar oder sogar die Legalität nicht eindeutig geklärt. Welche Impfstoffe wann erlaubt seien und welche problemlos miteinander kombinierbar seien, ohne das Risiko, später von geschädigten Patienten verklagt zu werden – alles offene Fragen. Überhaupt: Für manchen Impf-Piks bestehe „nur ein sehr geringer individualmedizinischer und epidemiologischer Nutzen“.
58 Millionen Euro etwa kostet die Impfung gegen Meningokokken, bei einer Impfquote von 80 Prozent. Das rettet statistisch in drei Jahren acht Kindern das Leben. Die Frage klingt zynisch: Aber wie, heißt es auf dem Medizinerkongress, sei das „in Zeiten endlicher Ressourcen zu rechtfertigen“?
Kritisch sieht die Ärzteschaft offenbar auch den Nutzen der Windpockenimpfung. Die Krankheit verlaufe für Kinder selten bedrohlich, die Impfung könne aber bei Erwachsenen zu Problemen führen. Übertrieben auch die Angst vor der von Zecken übertragenen Frühsommer-Meningoenzephalitis. Viele Menschen, die ungefährdet sind, ließen sich dagegen impfen – aus unnötig geschürter Angst. Auch zum Thema Gebärmutterhalskrebs gab es heftigen Protest in der Ärzteschaft. Die Impfung sei übereilt eingeführt worden; in Sicherheit und Verträglichkeit noch nicht abschließend zu beurteilen. Das alles habe tragischerweise den Eindruck erweckt, die Stiko werde nicht allein von sachlich-wissenschaftlichen Interessen geleitet.
Zur Hamburger Masernepidemie hält die WHO fest: Zur Ausrottung der Masern bis 2010 müssten 95 Prozent der Bevölkerung zweifach geimpft sein. Dazu fehlen noch mehr als zehn Prozent – im Westen weniger, im Osten mehr. Sind Masern in Deutschland zu vermeiden? „Ja. Mit Aufklärung, Kampagnen, Quarantäne“, sagt Glasmacher.