Eine Stunde geht die 13-jährige Marthe Mainholdt aus Prenzlauer Berg jeden Tag online. „Wenn ich das Internet benutzen will, muss ich meine Eltern fragen“, sagt die Schülerin. Ihre gleichaltrige Freundin Rahel Fügener aus Pankow hat schon ihren eigenen PC, doch bei der Internetnutzung ähneln sich die beiden Mädchen: Abends rufen sie ihre E-Mails ab, suchen nach Neuigkeiten von ihren Lieblingsstars und schauen online Fernsehserien. „Und manchmal recherchiere ich auch etwas für die Schule“ sagt Rahel.
Doch nicht alle jungen Menschen gehen mit dem Internet so verantwortungsvoll um wie die Berliner Schüler, zeigt der Fall von Stefan K. aus Hamburg: An manchen Wochenenden schlief der 25-Jährige nur drei Stunden. Er war mit seinem Krieger in „Azeroth“ unterwegs, der Fantasiewelt des Computerspiels „World of Warcraft“, mit Magiern und Rittern, Gnomen und Orks. Eine Welt der Kämpfe und des Handelns. Von dem Leben außerhalb des Bildschirms wollte Stefan nicht mehr viel wissen. Die Kurse an der Uni, seine Freunde im Fußballverein, seine Eltern interessierten ihn nicht mehr. Sogar sein eigener Körper war Stefan nicht mehr viel wert. Er bestellte sich Pizza, wenn er überhaupt noch aß, er duschte nur noch selten. Stefan K. war lange internetsüchtig.
Derzeit trifft das auf mindestens 56.0000 Menschen in Deutschland zu. Die exzessive Online-Nutzung von 2,5 Millionen weiteren Menschen ist problematisch. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher der Universitäten Lübeck und Greifswald in der Studie „Prävalenz der Internetabhängigkeit“ (Pinta), die die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans (FDP), in Berlin vorgestellt hat.
Leben in einer virtuellen Welt
„Online-Süchtige leben in einer virtuellen Welt, finden dort die Anerkennung, die ihnen im echten Leben verwehrt bleibt“, sagt Dyckmans. Das Problem müsse sehr ernst genommen werden, denn die Folgen der Sucht „ähneln denen einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit“. Die Pinta-Studie ist die erste repräsentative Untersuchung zur Internetsucht in Deutschland. Die Forscher befragten dafür 15.023 Personen im Alter von 14 bis 64 Jahren. In dieser Altersgruppe ist etwa ein Prozent internetsüchtig, ergab die Studie. In der Gruppe der 14- bis 16-Jährigen sind es vier Prozent, problematisch ist die Internetnutzung hier bei 15,4 Prozent.
Überrascht waren die Forscher, dass junge Frauen und Mädchen häufiger internetsüchtig sind als Jungen, galt diese Sucht doch bisher vor allem als männliches Phänomen, was sich in der Gesamtaltersgruppe bis 64 Jahre auch bestätigt. Betrachtet man jüngere Altersgruppen, übersteigt der Anteil der süchtigen Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren mit 4,9 Prozent den der Jungen (3,1 Prozent) deutlich. In der Gruppe von 14 bis 24 Jahren liegen beide Geschlechter gleichauf.
Auch bei der Art der Internetnutzung gibt es Geschlechterunterschiede. Während die Sucht nach Online-Spielen vor allem bei Jungen auftritt, sind Mädchen oft abhängig von sozialen Netzwerken wie Facebook. „Wir vermuten, dass Mädchen und junge Frauen besonders empfänglich sind für die Bestätigung, die man in sozialen Netzwerken findet“, sagte Hans-Jürgen Rumpf, Psychologe an der Universität Lübeck, der an der Studie beteiligt war.
14 Sucht-Merkmale
Insgesamt 14 Merkmale, die auf eine Sucht hinweisen, haben die Forscher für die Studie unter den Teilnehmern abgefragt. Entscheidend ist demnach unter anderem, wie viel Zeit jemand im Netz verbringt und ob das Nutzungsverhalten noch von der Person kontrolliert werden kann. Auch das Auftreten von Entzugserscheinungen wie Ängstlichkeit, Reizbarkeit und Unruhe sowie negativen Konsequenzen wie Schlafentzug und damit verbundener geringer Leistungsfähigkeit in der Schule, im Studium oder im Job seien Indikatoren für Sucht, sagt der Wissenschaftler.
Wie viele Kriterien für die Diagnose genau nötig seien, werde unter Experten aber noch diskutiert, sagte Rumpf. Umstritten sei nach wie vor auch, ob es sich bei Internetsucht überhaupt um eine eigenständige Krankheit handele oder sie nur als ein Symptom anderer Erkrankungen auftrete. Bei der Interpretation der Befunde müsse darüber hinaus Zurückhaltung geübt werden, sagte Rumpf. Die Pinta-Studie schaffe wichtige Grundlagen, müsse aber dringend weitere Forschung nach sich ziehen: „Wir wissen noch nicht genau, was Internetabhängigkeit eigentlich heißt.“
Online-Sucht ist ernsthaftes Problem
Dennoch steht fest: Online-Sucht ist in Deutschland ein ernsthaftes Problem. „Wir beobachten seit Jahren eine Zunahme der Zahl der Betroffenen“, sagt Bert Theodor teWildt, Psychiater an der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorsitzender des Fachverbands Medienabhängigkeit. „Die ersten ,Digital Natives', die mit dem Internet aufgewachsen sind, werden jetzt erwachsen.“ Laut teWildt ist noch nicht absehbar, wie viele von diesen in einem „selbstbestimmten Erwachsenenleben“ ankommen werden. Die in der Pinta-Studie genannte Zahl von einem Prozent internetsüchtiger Menschen in Deutschland sei dabei aber plausibel, sagt teWildt. „Früher waren die Zahlen deutlich zu hoch gegriffen, jetzt kommen wir langsam im realistischen Bereich an.“
Doch wie therapiert man Internetsüchtige überhaupt? TeWildt bemängelt, dass es nur wenige Forschungsergebnisse zu diesem Bereich gebe. „International scheinen sich verhaltenstherapeutische Konzepte zu bewähren: Zuerst versucht man, eine Verhaltensänderung herbeizuführen, damit man in einem zweiten Schritt auch an den tieferen Ursachen für die Problematik psychotherapeutisch arbeiten kann.“ Am wichtigsten seien zunächst pragmatische Schritte, die auf Entwöhnung und Rehabilitierung in Schule, Studium oder Beruf abzielten.
Alltagstaugliche Hinweise
Rainer Thomasius, Leiter der Suchtabteilung für Kinder und Jugendliche am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, weist darauf hin, dass dem sozialen Umfeld der Betroffenen eine zentrale Rolle zukomme, gerade wenn junge Menschen internetsüchtig sind. Bei Kindern seien es meist die Eltern, die feststellten, dass ihr Kind süchtig sei, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Problematisch sei, dass eine Internetnutzung, die manchen Eltern exzessiv vorkomme, von anderen als normal angesehen werde. „Der Toleranzwert hängt vor allem vom Bildungshintergrund und der eigenen Internetaffinität ab“, sagt Thomasius. Gut gebildete Eltern seien in der Regel sensibler, was das Surfverhalten ihrer Kinder angehe.
Die Bundesdrogenbeauftragte will daher Eltern für das Phänomen Internetsucht sensibilisieren. Deshalb gibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die Broschüre „Online sein mit Maß und Spaß“ heraus, die vor allem für Eltern „alltagstaugliche Hinweise“ enthalten soll. Und in einer Folgestudie zur Pinta-Untersuchung sollen alle als Süchtige aufgefallenen Personen nochmals detailliert befragt werden.
Der 18-jährige Leonard Wagenbreth aus Prenzlauer Berg jedenfalls ist weit davon entfernt, gefährdet zu sein: Nach dem Abendessen schaue er als Erstes bequem von zu Hause auf den Vertretungsplan, um zu sehen, ob eine Stunde ausfalle. „Außerdem organisiere ich online Auftritte meiner Indie-Band Artwhy“, erzählt er. Länger als eine Stunde brauche er dafür aber am Tag nicht.
Ähnlich viel Zeit verbringt auch der 18 Jahre alte Bolor Battaivan im Netz. „Während der Schulzeit hat man doch ganz andere Sachen zu tun“, meint er. „Plaudern und so.“ Erst, wenn Bolor nach Hause kommt, schmeißt er seinen Laptop an. Dann ruft er nur kurz seine E-Mails ab. Manchmal liest er online noch ein paar Artikel, dann dauert es länger. „Maximal eine Stunde oder so.“
Fragenkatalog gibt Aufschluss
Nach der Studie gibt es in Deutschland rund 560.000 „Online-Süchtige“. Dabei sind Jugendliche stärker betroffen als Ältere, Männer mehr als Frauen. Die Folgen seien vergleichbar mit denen von Alkohol- oder Drogensucht, sagte die Bundesdrogenbeauftragte Mechthild Dyckmans (FDP). Internetsüchtige lebten nur noch in der virtuellen Welt des Netzes, gingen teilweise nicht mehr zur Schule oder zur Arbeit und vernachlässigten ihre realen sozialen Kontakte.
Die von den Universitäten in Lübeck und Greifswald organisierte Studie „Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA I) basiert auf Tausenden von Telefoninterviews, eine eine bundesweite repräsentative Befragung. In 53 Studienbereichen in 52 Städten (Berlin war doppelt vertreten) wurden insgesamt 15.024 Menschen über Festnetz und Handy befragt. Im Mittelpunkt stand dabei ein spezieller Fragenkatalog.
Befragt wurden die Teilnehmer nach dem Katalog der sogenannten Compulsive Internet Use Scale. 14 Fragen insgesamt, auf die es jeweils fünf mögliche Antworten gibt:
Nie = 0 Punkte
selten = 1 Punkt
manchmal = 2 Punkte
häufig = 3 Punkte
sehr häufig = 4 Punkte.
Die Fragen:
1. Wie häufig finden Sie es schwierig, mit dem Internetgebrauch aufzuhören, wenn Sie online sind?
2. Wie häufig setzen Sie Ihren Internetgebrauch fort, obwohl Sie eigentlich aufhören wollten?
3. Wie häufig sagen Ihnen andere Menschen, z.B. Ihr Partner, Kinder, Eltern oder Freunde, dass Sie das Internet weniger nutzen sollten?
4. Wie häufig bevorzugen Sie das Internet statt Zeit mit anderen zu verbringen, z.B. mit Ihrem Partner, Kindern, Eltern, Freunden?
5. Wie häufig schlafen Sie zu wenig wegen des Internets?
6. Wie häufig denken Sie an das Internet, auch wenn Sie gerade nicht online sind?
7. Wie oft freuen Sie sich bereits auf Ihre nächste Internetsitzung?
8. Wie häufig denken Sie darüber nach, dass Sie weniger Zeit im Internet verbringen sollten?
9. Wie häufig haben Sie erfolglos versucht, weniger Zeit im Internet zu verbringen?
10. Wie häufig erledigen Sie Ihre Aufgaben zu Hause hastig, damit Sie früher ins Internet können?
11. Wie häufig vernachlässigen Sie Ihre Alltagsverpflichtungen (Arbeit, Schule, Familienleben), weil Sie lieber ins Internet gehen?
12. Wie häufig gehen Sie ins Internet, wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen?
13. Wie häufig nutzen Sie das Internet, um Ihren Sorgen zu entkommen oder um sich von einer negativen Stimmung zu entlasten?
14. Wie häufig fühlen Sie sich unruhig, frustriert oder gereizt, wenn Sie das Internet nicht nutzen können?