In Japan ist die Strahlenbelastung im Landesinneren mancherorts höher als in der Sperrzone um Fukushima. Statt Dekontaminierung wird strahlender Müll oft einfach vergraben.
"Man hat uns immer erklärt, dass das Kraftwerk absolut sicher ist. Aber jetzt wissen wir nicht, wann wir nach Hause können. Wir schauen Fernsehen, lesen Zeitungen, erfahren die Meinungen der Spezialisten – und wissen nicht mehr, wem wir glauben können: Tepco, der Atomaufsicht, der Regierung?“ Masao Yukimori ist 74 Jahre und hat bis zu seiner Pensionierung als Wächter in Fukushima Daiichi gearbeitet. Nie hätte er gedacht, dass ihm das passieren könnte: Statt in seinem Häuschen in Hironomachi sitzt er in einem engen in der Hafenstadt Iwaki, in einer der eilig errichteten Fertigbarackensiedlungen.
So wie Masao Yukimori denken viele der rund 80.000 durch den Atomunfall Vertriebenen. Bei den Havarien von Fukushima sind rund ein Sechstel des 1986 bei Tschernobyl freigesetzten Cäsium-137 und ein Zehntel des Jod-131 in die Luft freigesetzt worden. Simulationen zufolge, trieb der Wind 80 Prozent der Radionuklide aufs Meer. Aber er drehte auch aufs Land, und wo es an diesen Tagen regnete oder schneite, rieselten viele Radionuklide auf den Boden. Um das Dorf Iitate, dass 40 Kilometer von den Reaktoren entfernt liegt, ist die Belastung deshalb höher als an manchen Stellen in der 20-Kilometer-Sperrzone.
Dabei hatten die Menschen Glück im Unglück. Einem Zeitungsinterview mit dem früheren Ministerpräsident Naoto Kan zufolge, hätte Tepco die Anlage am vierten Tag am liebsten sich selbst überlassen. Dabei schafften es die Einsatzkräfte nur durch die Meerwasser-Notkühlung über Feuerwehrpumpen, dass „lediglich“ Cäsium-137 freigesetzt worden ist. Die Temperaturen stiegen nicht so hoch an, dass auch das radioaktive Strontium in die Luft gelangte. Es bleibt in der Umwelt meist wesentlich mobiler als das Cäsium. Und da es sich in den Knochen ablagert, ist es gefährlicher.
Zu Beginn der Katastrophe war die Lage unübersichtlich: Beben und Tsunami hatten Mess-Stationen zerstört, Fukushima-Betreiber Tepco hielt Daten zurück, niemand wusste, was in den Reaktoren passierte und wie viel von welchen Radionukliden freigesetzt wurde. Evakuiert wurde nach der Kriterien, die 1980 für einen angenommenen Unfall mit Kühlmittelverlust festgelegt worden waren.
Messtrupps fuhren durch die Gegend, aber ihre Arbeit war nicht fehlerfrei. Es gab kein klares Bild der Belastung. Das entstand erst ab dem 17. März, als Spezialeinheiten des US-amerikanischen Energieministeriums DOE – offiziell zum Schutz eines Stützpunkts – die Federführung übernahmen. Sie vermaßen die Belastung systematisch aus der Luft heraus.
Über all das wurden die Menschen im Unklaren gelassen. Auch die Bewohner von Nagadoro, einem Weiler bei Iitate. Dort lebte bis zum 22. April der Nebenerwerbslandwirt Yoshimoto Shigihara. Dann wurde er als einer der letzten in Nagadoro evakuiert.
Viele waren zuvor freiwillig gegangen: „Als hier 91 Mikro-Sievert pro Stunde gemessen wurden, ahnten wir nichts davon. Männer mit Masken und in weißen Schutzanzügen kamen hierher, haben gemessen, nichts gesagt, und sind einfach weggegangen.“ Wahrscheinlich habe man ihnen verboten, mit ihnen zu reden, glaubt er: „Man hat uns gesagt, dass wir mehr als 30 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt lebten und dass uns nichts passieren könne. Deswegen hatte bei uns auch niemand große Angst.“ Erst recht nicht, weil ein Wissenschaftler aus Nagasaki gekommen war und ihnen erzählte, dass nun alles wieder in Ordnung sei: „Er sagte, dass das nicht sofort schädlich ist, wir sollten nur im Haus bleiben.“
Es sind Ungenauigkeiten, Halbwahrheiten und Vertuschungsversuche wie dieser, die das Misstrauen der Bevölkerung schüren – ein Misstrauen, das nicht nur Tepco trifft, sondern auch Behörden und Regierung. Deshalb sind die Evakuierten auch nicht unbedingt erfreut von der Aussicht, dass möglichst weite Gebiete ihrer früheren Heimat dekontaminiert werden sollen, damit sie wieder zurückkehren können.
Auf Generationen gesperrt bleiben Areale, in denen für die Zukunft eine Gesamtdosis von mehr als 100 Millisievert erwartet wird. Aber wo die Werte niedriger sind, soll die Belastung mit aufwendigen, flächendeckenden Dekontaminierungen erst einmal unter 20 Millisievert pro Jahr gedrückt werden, dem Grenzwert für die Evakuierungen. Wird der unterschritten, geht es um das große Ziel – die Belastung immer weiter zu senken, bis man ein Millisievert pro Jahr erreicht hat.
Das entspricht in Deutschland dem Grenzwert, der sich für jeden von uns aus allen Tätigkeiten beim Umgang mit künstlich erzeugten radioaktiven Stoffen ergibt. Eigentlich wünscht sich die Regierung, dieses eine Millisievert pro Jahr als Grenzwert zu nehmen.
Allerdings schlagen Strahlenschützer einen pragmatischeren Weg vor, erklärt Wolfgang Weiss, Vorsitzender der UN-Strahlenschutzkommission Unscear: „Wenn die Krise vorbei ist, könnte die neue Normalität fürs Erste beispielsweise bei vier oder fünf Millisievert pro Jahr beginnen. Dieser Bezugswert sollte dann im Abstand von ein oder zwei Jahren durch Dekontaminieren schrittweise gesenkt werden – bis man bei dem einen Millisievert angekommen ist.“
Der Vorteil: Die zusätzliche Strahlung läge nicht über Werten, die es anderswo auf der Welt natürlicherweise gibt, das Risiko wäre also gering – und man müsste nicht einen großen Teil Japans für zehn oder 20 Jahren „stilllegen“, mit allen Folgen für Arbeitslosigkeit und Sozialsysteme.
In einem weiteren Behelfshaus in Iwaki. Auch hier ist die Ausstattung mager, ein Bild des Kaiserpaars hängt an der Wand. „Nach Hause zurück zu gehen kann ich mir im Moment nicht vorstellen“, sagt Mikio Igari, „in der Zeitungen lese ich, wie schwierig Radioaktivität wieder zu beseitigen ist, und das betroffene Gebiet ist groß. Würden Sie mich fragen, ob es sicher ist, in meiner Heimatstadt zu leben, Sie brächten mich in Verlegenheit.“
Auch Igari und seine Frau, die Tee und Süßigkeiten servierte und sich dann in die Küche zurückzog, gehören zu den Evakuierten. Auch sie sind alt, möchten in ihren Garten zurück – aber Mikio Igari fürchtet, sich nicht angstfrei bewegen zu können: „Wenn jeder von uns einen Geigerzähler haben und wir selbst messen könnten, wo es sicher ist und wo nicht, wäre das vielleicht etwas anderes.“
Seiner Frau scheint das zu diplomatisch: „Mein Mann möchte ihnen Folgendes sagen: Als das Kernkraftwerk explodierte, hat die Regierung erklärt, dass es kein größeres Problem sei. Sie versuchten, alles zu verbergen. Wie sollen wir da einfach in unsere Heimatstadt zurückgehen, wenn man uns sagt, dass es nicht gefährlich ist. Wir trauen der Regierung nicht mehr.“
Der offizielle Strahlenschutz sieht das anders. Das zeigt sich bei einem Termin mit den Experten der NIRS, dem „Nationalen Institut der radiologischen Wissenschaften“ in Chiba bei Tokio. Die erste Reaktion auf den Unfall sei schnell und effektiv gewesen: Man glaube nicht, dass dieser Zeitpunkt zu spät gewählt war, weil die meisten Radionuklide bei den Explosionen vom 13. und 15. März freigesetzt worden seien. Bei 180 Anwohnern der am stärksten kontaminierten Orte hätte man die Dosis bestimmt, die die Bewohner in ihre Körper aufgenommen haben. Zum Glück sei sie nur klein gewesen. Man gehe davon aus, dass das bei 99 Prozent der Anwohner der Fall sein werde. Allerdings ist die Belastung in den ersten Tagen der Präfektur Fukushima nur bei wenigen Menschen gemessen worden.
„Bei 1000 Kindern haben wir Ende März die Schilddrüsendosis gemessen“, sagt Kazuo Sakai, Direktor des Forschungszentrums für Strahlenschutz. Man geht nicht davon aus, dass eine Welle von Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern auf Japan zurollt wie vor 25 Jahren nach Tschernobyl.
NIRS führt die Verunsicherung der Menschen auf die Massenmedien zurück. Manche Mütter ließen ihre Kinder aus Angst vor Strahlung nicht mehr draußen spielen, schlössen alle Fenster und trügen Masken. Das sei einfach zu viel.
Auch die Eltern der 60 Kinder, die zur Tominare-Grundschule in Date gehen, lassen ihre Kleinen lieber in der Turnhalle spielen, erklärt die ehemalige Schulleiterin Katsumi Satsuki, die wegen der Reaktorhavarie erst jetzt in Pension gehen konnte: „Wir können immer noch nicht glauben, dass wir uns in einer so ungewöhnlichen Situation befinden.“
Mitte März fiel hier, im 60 Kilometer vom Reaktor entfernten Date, leichter Schneeregen. Aber man hörte nichts von den Behörden. Dann kam Mitte April die Hiobsbotschaft: „Die Zeitungen riefen uns an und die Eltern. Wir erfuhren, dass unsere Schule wegen der hohen Strahlungsbelastung als ‚gefährlich’ eingestuft worden ist.“ Die Gegend zähle zu den am höchsten belasteten des Landes. Die Kinder müssten drinnen bleiben, bis die Umgebung dekontaminiert sei, im Freien sollten alle Masken und langärmelige Kleidung tragen.
Im April hatte die Regierung verfügt, dass in der Region Fukushima die Schulen öffnen sollten, wenn die erwartete Strahlendosis für die Kinder unter 20 Millisievert pro Jahr liegen würde. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die natürliche Radioaktivität meist zwischen zwei und fünf Millisievert pro Jahr.
Die Aufregung war nicht nur in Date groß: Kinder reagieren sehr viel empfindlicher auf Strahlung als Erwachsene. Jetzt, am Ende der Sommerferien, hat die Regierung ein Zeichen gesetzt, den angestrebten Referenzwert für Schulen auf ein Millisievert pro Jahr gesenkt – und der soll durch Dekontaminierungen so schnell wie möglich erreicht werden.
Vor den Ferien war nicht viel passiert. Die Erde vom Spielplatz wurde abgetragen und vergraben, die Behörden spendierten Klimaanlagen. Im Juni kam Jun Ichiro Tada, Direktor des Radiation Safety Forum, einer japanischen Nichtregierungsorganisation. Er maß die Belastung der Luft: Die Kinder konnten Mundschutz und Pulli ablegen. Das Radiocäsium klebte jedoch auf den Oberflächen: „Wir setzten dabei eine Maschine ein, die mit Stahlbürsten die obersten zwei Millimeter von Asphalt, Beton oder Ziegeln abhobelt.“
Tada und ein Team aus Lehrern und Freiwilligen kratzten die Risse aus, entfernten Gras und Moos, sammelten Laub ein, reinigten Dachrinnen und dekontaminierten sogar den Pool. So entstanden 50 Tonnen Strahlenmüll, die hinter der Turnhalle der Grundschule aufgeschichtet wurden.
Absperrband soll den Zutritt verhindern. Der mannshohe Haufen strahlt an der Oberfläche mit elf Mikrosievert pro Stunde, erklärt Jun Ichiro Tada. Etwas mehr als eine Röntgenaufnahme der Zähne. Dieser Haufen ist nur ein verschwindend winziger Teil verglichen mit dem, was bei einer flächenmäßigen Dekontaminierung anfällt. Da es noch keine Zwischenlager gibt, weiß niemand wohin mit dem Müll. Anscheinend wird er manchmal einfach vergraben.