Depressionen, Übermüdung, Angstzustände: Immer mehr Menschen werden vom Burn-out-Syndrom in die Arbeitsunfähigkeit getrieben. Die Wissenschaft streitet über die Ursachen. Besuch in einer Klinik für gestresste Führungskräfte.

Wann ist es also zu viel? Wenn Schlaf unerreichbar, das Sausen in den Ohren schrill, der Druck auf der Brust unerträglich, der Puls viel zu hoch ist? Wenn Panik das Blut hinter den Schläfen pochen, die Glieder zittern lässt? Meistens noch nicht einmal dann. Meistens muss der Körper erst ganz seinen Dienst versagen, zumindest vorübergehend, bevor der Kopf einsieht: Arbeiten geht jetzt nicht mehr. Freiwillig kann man das nicht nennen.

Es war an einem Abend im August 2002, als es nicht mehr ging. Claus Rottenbacher, Jungmanager, Firmenvorstand, stand von seinem Schreibtisch auf, machte die Bürotür hinter sich zu, und fuhr direkt in die Berliner Charité. Der Abend war warm, wie fast alle Abende in diesem August, vermutlich waren die Straßencafés voll – er erinnert sich nicht. Sein Leben spielte sich schon lange vor allem in den Räumen seines Unternehmens ab. Rottenbacher war getrieben von ständiger Unruhe, „ich fühlte mich bedroht“, sagt er heute. Denkt einen Moment nach und schickt dann hinterher: Im Grunde ging es schon am Tag davor nicht mehr, in der Woche, in den Monaten.

Die Ärzte zogen Rottenbacher, damals 36, „erst mal aus dem Verkehr“. Die Diagnose: chronischer Dystress. Man könnte es auch totale körperliche und seelische Erschöpfung nennen. Chronische Überlastung. Oder eben: Ausbrennen. Burn-out.

Der Begriff hat in den letzten Jahren eine beachtliche Karriere gemacht; eine ganze Armada an Ratgeberautoren hat sich an dem Syndrom abgearbeitet; manch einer, der eine Epidemie der modernen Industriegesellschaft beschwor. Bis zu zehn Prozent der Bevölkerung sollen unter Burn-out leiden, heißt es gelegentlich. Genau kann das aber niemand beziffern. An prominenten Fällen mangelt es nicht. Und doch: Was genau das Phänomen, das offiziell gar nicht als Krankheit gilt, definiert, das ist so klar nicht, zumindest nicht unumstritten. Da gibt es die, die Burn-out als Modediagnose abtun. Und selbst Mediziner, die in dem Syndrom ein eigenes Krankheitsbild sehen, sind uneins über die Ursachen.

Manager, Ärzte, Juristen, Politiker, Unternehmer und Lehrer

Der Psychotherapeut Bernd Sprenger kennt alle diese Diskussionen. Er weiß auch, dass es Leute gibt, die meinen, Burn-out-Patienten sollten einfach mal ein bisschen ausspannen. Aber Sprenger sieht vor allem die Menschen, die er in der Oberbergklinik für „Fach- und Führungskräfte“ behandelt: Manager, Ärzte, Juristen, Politiker, Unternehmer und Lehrer. Den Weg zu ihm nach Wendisch-Rietz in Brandenburg finden sie fast immer erst, wenn sie kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Oder ihn gerade hinter sich haben.

Rund eine Autostunde südöstlich von Berlin liegt die Klinik für Psychosomatik, mitten im Wald. Es ist so still hier, dass sich das Gezwitscher der Vögel nach Tumult anhört. Es gibt einen großen Garten, durch den führt ein Weg direkt zum See, spiegelglatt ist der, am Ufer gegenüber verstecken sich hinter Bäumen kleine, rote Holzhäuschen. „Das sieht vielleicht ein bisschen nach Ferienheim aus“, sagt Sprenger, der Oberarzt. Er steht auf dem kleinen Steg, dreht sich einmal um die eigene Achse, sieht jetzt auf die drei Gebäude der Klinik. „Aber das ist es natürlich nicht.“

Wer hierherkommt, hat nicht nur keinen Blick für die Urlaubsidylle. Er hat vor allem ein „intensives Programm“, sagt Spenger: Einzeltherapie, Gruppentherapie, Ergotherapie, Bewegungstherapie, Entspannungstechniken. Hoch dosierte Konfrontation mit sich selbst.

Viele der Patienten finden an dem Wort „intensiv“ spontan Gefallen. Intensiv klingt nach Hochleistung, und die sind sie gewöhnt. Burn-out ist auch ein Prozess. Am Ende steht im schlimmsten Fall die Arbeitsunfähigkeit. Am Anfang meist überdurchschnittliches Engagement. Burn-out-Experten zitieren gerne den Satz: Nur wer gebrannt hat, kann auch ausbrennen.

Claus Rottenbacher hatte es eilig mit Studium, Promotion, dem ersten Job als Berater. Als er zusammen mit seinem Bruder die Ampere AG gründete, war er Anfang 30. Der Strommarkt wurde gerade liberalisiert, sie waren die ersten Energiemakler. Sie hatten Erfolg. Bald 30 Angestellte. Auf den Fotos von damals guckt Rottenbacher fest in die Kamera, die Krawatte stets perfekt gebunden, um den Mund ein entschlossener Zug. 14 bis 16 Stunden Arbeit täglich waren normal. Dann gingen die Strommonopolisten auf die Barrikaden, es kam zu juristischen Auseinandersetzungen. Rottenbacher spricht von steigendem „Unwohlsein“, von seinem „Zustand“. Er bleibt vage. Sein Ton aber hat auch heute noch etwas sehr Sachliches. Als wäre es selbstverständlich, einfach immer weiterzumachen, auch dann, wenn der Körper längst Grenzen setzt. Aufhören ging nicht. „So funktioniere ich nicht. Und man fühlt sich ja auch unersetzbar. Man ist es nicht. Aber man fühlt sich so“ sagt er.

Erste Phase der Therapie ist der "Landeanflug“

Das Erste, was die Patienten in Wendisch-Rietz lernen müssen, ist Loslassen. Zur Ruhe kommen. „Landeanflug“ nennt Sprenger diese erste Phase der Therapie. Leicht fällt sie den meisten nicht. Sie wollen die Angelegenheit mit derselben Effektivität hinter sich bringen, mit der sie sonst ihr Leben regeln. So gab es einmal einen Manager, der sich von seinem Fahrer bis vor die Tür der Klink bringen ließ. Im Fond des Wagens stapelten sich Laptop, mobiles Faxgerät, Telefone. Nach vier Tagen baute der Mann das mobile Büro wieder ab und verschwand. Mehr Zeit zum Gesundwerden hatte er in seinem Terminplan nicht vorgesehen. Ein anderer Patient erzählt, dass er an einem der ersten Tage fast frontal gegen einen Baum fuhr. Erst im letzten Moment riss er das Lenkrad um. Keine Vorstellung, wo der Baum hergekommen war. Danach nahm er den „Landeanflug“ ernst.

Sprenger sagt, die Patienten hätten oft das Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse verloren. Die körperlichen und seelischen. Der Oberarzt hat einen weißen Arztkittel, den zieht er an, wenn es um Untersuchungen geht. Für die Gesprächstherapien zieht er ihn wieder aus. Die meisten Patienten haben mit dem weiß bemantelten Arzt weniger Probleme. „Einen Beinbruch könnten sie eher akzeptieren“, sagt Sprenger.

Im Hauptgebäude der Klinik, gleich neben dem Schwesternzimmer, sind die Wände nicht beruhigend blassgelb wie im Rest des Hauses. Hier verbreitet Türkis-Weiß klinischen Ernst. Hier sind die beiden Intensivzimmer. Es gibt Patienten, die beginnen ihre Behandlung mit Ausnüchterung. Oder Entzug. Es ist kein Zufall, dass neben Burn-out ein weiterer Schwerpunkt der Klinik Suchterkrankungen sind. Nicht selten versuchen Menschen, die ersten Symptome des Burn-out selbst zu therapieren: mit Alkohol, Tabletten.

Beschreiben lassen sich viele Symptome – allein der Hamburger Psychologe und Burn-out-Experte Matthias Burisch hat über 130 zusammengetragen. Wie erkennt man den Burn-out-Kranken? „An der Zusammenschau“, sagt Sprenger. Am physischen, psychischen, sozialen Gesamteindruck.

Nachdem in den letzten Jahren immer mehr Berufsgruppen als besonders Burn-out-gefährdet ausgemacht wurden – erst die Sozialberufe, dann die Manager, Lehrer, zuletzt sogar Studenten – hat sich inzwischen der Eindruck verbreitet: Es kann jeden treffen. Das stimmt nicht. Es sind wohl bestimmte, persönliche Faktoren, die beim Ausbrennen eine Rolle spielen: Ehrgeiz. Perfektionismus. Umgang mit Stress. Fehlende Anerkennung. Die finden sich nicht nur bei überehrgeizigen Managern, erschöpften Ärzten und Lehrern, sondern auch bei desillusionierten Angestellten oder verzweifelten Arbeitssuchenden. Die Forschung arbeitet dran.

Claus Rottenbacher sagt, ihm wäre sehr schnell klar gewesen, dass er so nicht mehr weitermachen konnte. Wann genau er zu dieser Erkenntnis gekommen ist oder warum, das weiß er nicht. Nach seinem Zusammenbruch verbrachte er einige Wochen in einer Klinik, dann ging er auf Reisen. Es dauerte, bis der Schlaf wiederkam, die Unruhe ging. Wenn er in dieser Zeit mit Freunden sprach, verstand fast jeder, warum er ausgestiegen war. Die ständige Überbelastung, die spürten viele bei sich auch. Aber wie er es geschafft hatte, tatsächlich aufzuhören, das verstanden die wenigsten. Immerhin bedeutete es auch einen Verlust an Status, an Bedeutung. Rottenbacher war das egal. Er wusste nur: „Ich musste raus aus dem System. Freier sein.“

Sprenger sagt, es sei immer ein Zusammenwirken von äußeren und inneren Faktoren, die zu einem Ausbrennen führen. Die meisten deutschen Burn-out-Experten sagen das. Andere wie die amerikanische Burn-out-Forscherin Christina Maslach machen explizit die Arbeitsverhältnisse im Zeitalter der Globalisierung verantwortlich. Produktions- und Organisationsmethoden, die für den Einzelnen Überarbeitung, Machtlosigkeit, ungenügende Belohnung, Unfairness bedeuteten.

Druck als Schlüsselerfahrung der Arbeitswelt

Auch Sprenger sagt, dass es immer mehr Leute gebe, die immer schlechter zurechtkämen. Nennt ähnliche Stichworte: Beschleunigung, Wettbewerbsdruck, Flexibilitätsanforderungen, Verschwinden traditioneller „Kuschelecken“ in Familien und Gemeinden. Und er hat ein Buch geschrieben, in dem tauchen immer wieder die Begriffe „Entwertung“ und „Entwürdigung“ auf, als Schlüsselerfahrungen der heutigen Arbeitswelt. Burn-out, ein Phänomen der Zeit. Nicht zum ersten Mal.

Überreizung des Nervensystems, ständige Müdigkeit, Erschöpfung durch Überlastung – die Diagnose wäre Ende des 19.Jahrhunderts eindeutig gewesen: Neurasthenie. Es gab einen Zeitpunkt, da befürchtete Sigmund Freud, dass er es bald nur noch mit Neurasthenie-Patienten zu tun haben werde, so explosionsartig vermehrten sich die Krankheitsfälle. Im Übrigen diagnostizierte er die Krankheit bei sich selbst. Und in Zeitschriften wie der populären Familienillustrierten „Die Gartenlaube“ wurde ein ums andere Mal beschworen, dass die anstrengende, die schnelle moderne Lebensweise die Ursache der Epidemie wäre. Einer ihrer häufigsten Anzeigenkunden: Muiracithin, ein Mittel gegen die „Nervenschwäche“.

Muiracithin gibt es nicht mehr. Aber im „Internationalen Verzeichnis der Klassifikation von Erkrankungen“ der Weltgesundheitsorganisation existiert Neurasthenie nach wie vor. Diagnostiziert wird sie kaum noch. Die Chancen, dass auch Burn-out demnächst in den Schubladen der Medizinhistoriker verschwindet, stehen allerdings schlecht. Auch biologisch ist man dem Phänomen auf der Spur, bald könnte es zu einem Durchbruch in der Forschung kommen. Dann ließe sich anhand eines handfesten körperlichen Befundes beweisen, dass Burn-out existiert. Keine gute Nachricht für Versicherungen und Krankenkassen.

Claus Rottenbacher ist nie wieder an seinen alten Schreibtisch zurückgekehrt. Manchmal, wenn er von der Ampere AG spricht, sagt er immer noch „wir“. Er ist damals vollständig ausgeschieden. Fast scheint es: Er hat das mit derselben Konsequenz getan, mit der er vorher sein Unternehmen aufgebaut, geführt hat. „Ich hab nicht mit mir gehadert deswegen“, sagt er. Schweigt einen Moment. Um seine Beine streift sein Hund. Der gehört zu seinem neuen Leben wie die Zeit für Spaziergänge. „Ich habe das Gefühl, dass dieses Leben jetzt viel besser zu mir passt.“ Claus Rottenbacher ist heute Kinderfotograf. Mit freier Zeiteinteilung. Sein Wecker klingelt morgens nicht mehr.