Katzen haben großartige Ohren, Hunde eine unübertreffliche Nase. Doch was ihren Geschmacksinn betrifft, können sie mit uns nicht mithalten. Das Fundament unseres Geschmacksinns steckt im Mund: Über 10.000 Geschmacksknospen bevölkern Gaumen und Zungenrücken – so viele hat kein Tier.
Genüsslich lassen wir das Stück Schokolade auf der Zunge zergehen. Die Sinne feiern. Aber wie kommt das zustande? Da ist erst einmal die Komposition der verschiedenen Empfindungen im Mund: Der süße Zucker verführt, der bittere Kakao liefert den pikanten Gegensatz. Hinzu kommt die sahnige Konsistenz: Würde das Stückchen Schokolade im Mund zerbröseln, wäre es nur der halbe Genuss. Auch schmeckt es warm ganz anders als kalt.
Nicht zu vergessen der Geruch. Ohne ihn gäbe es keinen vollständigen Geschmack. Jeder Schnupfen belegt aufs Neue, wie fade ein Essen mit verstopfter Nase schmecken kann. Bis heute kennt man 8000 flüchtige und damit prinzipiell riechbare Verbindungen in den Lebensmitteln, etwa drei Viertel der Geschmackseindrücke sind in Wirklichkeit Geruchswahrnehmungen.
Selbst tief unten im Bauch sitzen nach neusten Erkenntnissen Sinneszellen, die schmecken können. So fanden US-Forscher im Dünndarm den Rezeptor T1R3, der normalerweise auf der Zunge süße Geschmackserlebnisse vermittelt. Sein physiologischer Sinn besteht darin, den Stoffwechsel auf das bevorstehende Eintreffen von Zucker vorzubereiten. Dass er nun auch im Dünndarm gefunden wurde, zeigt nach Ansicht von Studienleiter Robert Margolskee von der Mount Sinai School in New York, dass der Körper den komplexen Signalen von der Zunge nicht hundertprozentig vertraut und „weiter hinten“ noch eine geschmackliche Sicherheitskontrolle für den Zuckerhaushalt eingeführt hat.
Problematisch ist jedoch, dass der Rezeptor auch durch Süßstoff stimuliert wird. In der Folge kommt es zu einer vermehrten Ausschüttung von Insulin und dadurch zum Heißhunger auf Süßes. „Dieser Mechanismus erklärt, warum der Ersatz von Zucker durch Süßstoff nicht immer den erwünschten Effekt erzielt, sondern Übergewicht sogar fördern könnte“, so Margolskee.
Dennoch: Das Fundament des Geschmackssinns, wo über seinen grundsätzlichen Charakter entschieden wird, steckt im Mund. Über 10.000 Geschmacksknospen bevölkern den Gaumen und vor allem den Zungenrücken, weit mehr als bei Hunden (1700) und Katzen (etwa 500), die dem Menschen sonst in allen Sinnen überlegen sind. Gruppiert sind die Knospen in sogenannten Papillen, die man auch mit bloßem Auge sehen kann. „Sie verleihen der Zunge ihr typisch samtiges Aussehen“, erklärt Neurophysiologe David Smith von der Universität im amerikanischen Maryland. Nicht alle Papillen besitzen allerdings Geschmacksfühler im eigentlichen Sinne. So sind die besonders häufigen Fadenpapillen nur für Berührungsreize zuständig. Was deutlich macht, wie wichtig die Konsistenz eines Nahrungsmittels für den geschmacklichen Gesamteindruck ist. „Ein ekelhafter Schleim schmeckt auch deshalb ekelhaft, weil er schleimig ist“, betont Smith.
Der Mensch unterscheidet mehr als nur vier Geschmacksrichtungen
Die traditionelle Vorstellung, wonach der Mensch nur vier Geschmacksrichtungen – süß, salzig, sauer und bitter – unterscheiden könnte, gilt als überholt. Mittlerweile hat sich auch die Geschmacksrichtung „umami“ fürs Würzig-Fleischige etabliert, sie wird besonders vom Geschmacksverstärker Glutamat bedient. Darüber hinaus verdichten sich die Hinweise darauf, dass wir noch einen sechsten Sinn fürs Fett besitzen.
Ebenfalls überholt ist der „Zungenatlas“, wonach Süßes vor allem an der Spitze und Bitteres hauptsächlich im hinteren Teil der Zunge wahrgenommen würde und den Gefühlen fürs Salzige und Saure lediglich die Zungenränder blieben. Tatsache ist: Dort, wo Geschmacksknospen sitzen, können auch sämtliche Geschmacksrichtungen erfasst werden. Der edle Weintropfen kann sich also auch dann entfalten, wenn man ihn nicht in Kennermanier Sekunden lang auf der Zunge hin und her rollen lässt.
Einen weit größeren Einfluss auf unser Geschmacksempfinden hat das Gehirn. Denn dort werden die gustatorischen Signale interpretiert und einem abschließenden Urteil unterzogen. Die entsprechenden Muster können jedoch sehr unterschiedlich sein: Während die Inuit ihren salzig-fettigen Walspeck als Delikatesse empfinden, sorgt er bei uns eher für Ekel. Demgegenüber kann man in Grönland unseren sauren Äpfeln kaum etwas abgewinnen. Ursprünglich vermuteten Forscher, dass solche Unterschiede hauptsächlich durch kulturelle Umgebung und Erziehung geprägt werden. Doch die Gene spielen wohl auch eine große Rolle.
Ein Forscherteam unter Tim Spector vom King's College in London analysierte das Essverhalten von 3262 Zwillingen, und dabei stellte sich heraus, dass eineiige Zwillingen viel eher ähnliche Vorlieben wie etwa für Kaffee und Knoblauch haben als ihre zweieiigen Pendants. Insgesamt seien zwischen 41 und 48 Prozent der Geschmacksvorlieben durch das Erbgut beeinflusst, so Spector, der auch schon die genetischen Ursachen von Arthritis und sexuellen Vorlieben untersucht hat. „Unsere Forschungsergebnisse beweisen, dass der genetische Aufbau oft entscheidet, welche Art der Ernährung wir bevorzugen.“ Dies müsse man auch bei Initiativen berücksichtigen, die versuchen, die Menschen zum Konsum von mehr Obst und Gemüse zu motivieren.
Wer im Alltag starke Reize liebt, sucht sie auch auf dem Teller
Nichtsdestoweniger besitzt der Geschmack deutliche Zusammenhänge mit dem Lebensstil. So neigen, wie Psychologin Professor Gisla Gniech von der Universität Bremen erklärt, die sogenannten Sensationssucher zu geschmacklich eindeutigen, also zu scharfen, salzigen und deftigen Speisen. Was konkret heißt: Wer im Alltag starke Autos, schnelle Videospiele, riskante Aktiengeschäfte und andere starke Reize braucht, setzt auch bei seiner Ernährung auf den Kick. „Zudem wurde beim Sensationssucher eine Tendenz zu eher ungesunder Nahrung gefunden“, so Gniech. Starke und riskante Reize im Leben und auf dem Teller sind übrigens meistens bei Männern zu finden.
Darüber hinaus bildet der Geschmack keineswegs eine unveränderliche Größe, Lebenserfahrungen können ihn grundlegend ändern. So verziehen Kleinkinder noch das Gesicht, wenn sie Bitteres schmecken – denn Bitterstoffe wurden von der Evolution in ihrem Gehirn als potenzielle Gifte einprogrammiert. Später jedoch wird dieses Programm ausgetauscht. Der Mensch lernt im Laufe seines Lebens, dass Bitterstoffe die Verdauung fördern und in Form von Tee, Wein und Bier sogar richtig lecker schmecken können. Eine Umorientierung, die zweifelsohne eher auf die Flexibilität des Gehirns zurückgeht als auf genetische Programme.
Dass den Menschen jedoch mit zunehmendem Alter der Geschmack fast völlig verlässt, hat nur selten etwas mit dem Gehirn zu tun. Sondern damit, dass Senioren nur noch wenig Speichel bilden, um ihr Essen aufweichen und dadurch gustatorisch verfügbar machen zu können, und damit, dass sich die Anzahl ihrer Geschmacksknospen bis dahin auf weniger als ein Zehntel der ursprünglichen Zahl verringert hat. Etwa 65 Prozent aller Alten- und Pflegeheimbewohner hierzulande sind mangel- oder unterernährt. Dies hat auch viel damit zu tun, dass die Betroffenen kaum noch ihre Mahlzeiten genießen können und sich dadurch unausgewogen ernähren.