Berlin. In dieser Woche im Februar schaut ganz Italien auf ein kleines Küstenstädtchen. Sanremo, an der ligurischen Blumenriviera gelegen, wird den Rest des Jahres vor allem von Seniorinnen und Senioren bevölkert. Doch in dieser einen Woche strömt die Prominenz des Landes in den Ort.
Seit den 1950er Jahren wird hier alljährlich das „Festival della canzone italiana“, oder einfach „Sanremo“, ausgetragen. Die Bühne in Sanremo hat fast alle großen Namen der italienischen (Pop-)Musik getragen: Adriano Celentano, Mina, Eros Ramazzotti, Laura Pausini, die Måneskin. In Sanremo wurden sie zu Stars. Doch Sanremo ist mehr als eine Talentschmiede. Auch gestandene Künstler stellen sich immer wieder dem Wettbewerb.
Das Festival di Sanremo ist längst eine kulturelle Institution. Es geht nicht nur um den Wettbewerb. In den stolzen fünf Tagen von Sanremo diskutiert das Land die Skandale, die Kleidung, aber natürlich auch die Leistungen der Teilnehmer und wer das beste Lied vorgetragen hat. Am Ende entscheidet das Publikum im Saal und vor den Fernsehern, wer gewinnt.
Italien: Politischer Diskurs ist Teil des Festival di Sanremo
Doch auch der politische Streit gehört inzwischen zur Tradition des ältesten Popmusikwettbewerbs Europas. In diesem Jahr sollte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine „Friedensbotschaft“ per Video übermitteln, doch wegen anschwellender Proteste knickte die RAI ein. Stattdessen verlas Moderator Amadeus am Finalabend einen Brief von Selenskyj. Darin erklärte er, dass Kultur und Kunst siegreich seien. Die Musik gewinnt, schrieb er. Auch die Ukraine werde diesen Krieg gewinnen, dank der Kraft von Freiheit und Kultur. Zur Siegesfeier lud Selenskyj den Sieger des Festivals nach Kiew ein.
Gleich zu Beginn des ersten Festivalabends setzte Roberto Benigni mit seinem zwanzigminütigen Monolog den politischen Ton. Der Komiker und Oscar-Gewinner nutzte die Gelegenheit, um eine Hommage an die italienische Verfassung und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu halten. Mit der für ihn typischen Begeisterung sagte er: „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich diesen Artikel liebe. Vor dieser Verfassung, in den 20 Jahren des Faschismus, konnte man nicht frei denken. Nicht einmal das Sanremo-Festival hätte man damals machen können. Der Artikel 21 hat Italien von der Pflicht befreit, Angst zu haben.“
Zustimmung signalisierte Italiens Präsident Sergio Mattarella, der am Eröffnungsabend erstmals in Sanremo dabei war und dessen Vater die Verfassung mitgeschrieben hat.
Sanremo: Influencerin Chiara Ferragni tritt mit Mode für Frauen ein
Insbesondere Moderator Amadeus, der gleichzeitig auch der künstlerische Leiter des Festivals ist, hat großen Einfluss auf die politische Ausrichtung des Festivals. Vor seiner Übernahme der Festival-Moderation war Amadeo Sebastiani, wie Amadeus mit bürgerlichem Namen heißt, vor allem aus seichten Vorabend-Rateshows in der RAI bekannt. Doch er hat das Festival di Sanremo zu einem Ort für Meinungsfreiheit und Toleranz entwickelt.
In diesem Jahr holte Amadeus für einen Abend als Co-Moderatorin die italienische Volleyball-Spielerin Paola Egonu an seine Seite. Wegen rassistischer Beleidigungen hatte sie jüngst ihren Rücktritt aus dem italienischen Nationalteam erklärt. Beim Auftakt- und beim Finalabend stand die erfolgreichste Influencerin der Welt, Chiara Ferragni, neben ihm. Ferragni verlas ein Manifest für Respekt vor dem weiblichen Körper und rief alle Mädchen dazu auf, sich so zu akzeptieren, wie sie sind.
Auch mit ihren extravaganten Kleidern sorgte die Unternehmerin für Aufsehen. Ihre Looks sollten laut Ferragni Statements gegen Hass, Gewalt und Sexismus darstellen. „Wir wollen alle Frauen daran erinnern, sich nicht von Hatern unterkriegen zu lassen, denn nur die Meinung derer, die uns lieben, zählt wirklich“, schrieb Italiens prominenteste Frontfrau der Kampagne gegen Femizide auf Instagram.
Für den größten Aufreger des Festivals sorgte jedoch am ersten Festivalabend Vorjahressieger Blanco. Weil der Sänger bei einem Auftritt außerhalb des Wettbewerbs seine Stimme offenbar nicht gut hören konnte, zertrat und zertrampelte er die Kulisse aus Rosen. Das Publikum im Ariston-Theater quittierte dies mit Buh-Rufen. Italiens Medienwelt kritisierte sein wütendes Verhalten auf der Bühne – das im extremen Gegensatz zu den Statements gegen Gewalt stand.
Marco Mengoni gewinnt den Wettbewerb mit „Due Vite“ – und darf zum ESC
Weit nach Mitternacht stand am frühen Sonntagmorgen dann der Gewinner des diesjährigen Festivals fest: Marco Mengoni belegt mit seinem Lied „Due Vite“ den ersten Platz unter den 28 Teilnehmern im Wettbewerb. Für Mengoni ist es genau zehn Jahre nach seinem ersten Erfolg bei Sanremo mit „L’essenziale“ der zweite Sieg. Schon vor dem Festival galt er als klarer Favorit.
Und tatsächlich lag Mengoni, der in Italien mit seinen Konzerten Fußballstadien füllt, an allen Festivalabenden in der Gesamtwertung in Führung. Auch den vierten Abend, den Abend der Coversongs konnte Mengoni für sich entscheiden. Dort sang er mit dem Kingdom Choir, bekannt von der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan, den Beatles-Klassiker „Let it be“.
„Auf den ersten fünf Plätzen sind nur Männer gelandet“, sagte Mengoni sichtlich bewegt nach der Verkündung seines Gesamtsieges in der Nacht. „Ich will den Sieg allen Frauen widmen, die am Festival teilgenommen haben, sie sind wunderbare Sängerinnen.“ Mit seinem Sieg darf Mengoni auch automatisch für Italien am diesjährigen Eurovision Song Contest in Liverpool teilnehmen.
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