Berlin. Das Kind ist mir über den Kopf gewachsen, und jetzt zieht es auch noch hohe Schuhe an. Ich schaue an der Teenie-Tochter hoch, bevor wir gemeinsam die Wohnung verlassen. „Wir müssen los, komm endlich“, brüllt sie im Flur und hämmert auf den Aufzugsknopf.
Wir sind auf dem Weg zum einzigen Laden für Abiball-Kleider in Berlin. Angeblich. Das Kind zieht und zerrt, schiebt und schubst, jammert: „Wir sind zu spät!“ Dabei hat der Laden noch nicht mal auf. „Wenn wir nicht spätestens 30 Minuten vor der Öffnung da sind, ist alles weg.“ Wir sind eine halbe Stunde früher da. Und wir sind nicht allein.
Also stehen wir an diesem Frühlingssonnabend frierend in einem Seitenarm des Ku’damms, zwischen Vintage-Klamotten-Läden, Asia-Restaurants, Abrissgebäuden – und warten auf Einlass. Ich blicke auf eine Ansammlung von Glitzer, Spitze, Seidenimitat im Schaufenster. Rosa, Himmelblau, Tiefrot.
So sehen Ballkleider aus: Spaghettiträger kreuzen sich tief über dem Rücken
Wir sind bei den ersten zehn Müttern und Töchtern, die hineindürfen und eine Umkleidekabine bekommen. Das Kind probiert Zartgrün, bodenlang, Spaghettiträger, die sich tief über dem freien Rücken kreuzen.
Mir bleibt die Luft weg. Ich blicke nach links auf ein Mädchen in Rot mit Schlitz bis zur Hüfte, ich frage mich, ob das rechts in Blau mit leichter Schleppe ihre Zwillingsschwester ist. Mütter schnüren, Verkäuferinnen stecken ab, Stoffe rascheln.
Die Mädchen sind alle wunderschön
Keine Frage: Die Mädchen sind alle wunderschön mit ihren 17, 18, 19 Jahren. Es ist wohl das perfekte Alter für so ein Kleid. Ich denke an meine Abiturfeier mit spröder Rede der Direktorin und Schluss. Das Zeugnis bekam ich im Sekretariat.
Nun kaufe ich Zartgrün, und dem Kind wird versichert, dieses Kleid sei für ihre Schule nicht mehr im Angebot. Auf dem Nachhauseweg denkt es über Schuhe nach und Frisur.
Ich genieße dieses unbeschwerte Gefühl. Abiball. Frühling. Ostern haben wir Urlaub. Zu Hause hängt die Tochter das Kleid am Bücherregal auf. Für die Kleiderstange ist es zu lang. Ich poste Fotos von der Anprobe in unseren Familienchat.
Und in Mariupol? Wo sind die Ballkleider jetzt?
Und dann zieht sich mein Herz zusammen. Dieser fröhliche Alltag, das schöne, satte Leben, die Höhepunkte des Erwachsenwerdens. Ich will es nicht denken, doch mir fällt ein, dass auch in Kiew, in Charkiw, in Mariupol junge Leute in diesem Frühjahr ihr Abitur machen wollten. Vielleicht haben sie schon Kleider gekauft. Und Veranstaltungsräume gebucht, die jetzt zerbombt sind.
In mir wächst so sehr die Wut über diesen brutalen wie völlig unnötigen Angriffskrieg, dass mir Tränen in die Augen schießen. Ich habe zu viele Bilder gesehen in dieser Woche. Zu viele Schicksale gelesen. An zu vielen Debatten teilgenommen. Und nun, in diesem leichten Familienmoment, verliere ich die Fassung.
Die ukrainisch-deutsche Publizistin Marina Weisband twitterte neulich, sie fühle sich wie der reichste Mensch der Welt, weil sie jederzeit ein Stück Kuchen vom Bäcker holen oder einen Kaffee in der Sonne trinken könne. Daran erinnere ich mich jetzt plötzlich. Und renne noch mal los, hole Kuchen für den Balkon.
Die Uroma wollte Schuhe für mich – und starb an meinem Geburtstag
Lass‘ uns diesen Tag nicht vergessen, sage ich zur Tochter. Und erzähle von meiner Uroma, die am Tag meines ersten Geburtstags gestorben ist. Kurz vor ihrem Tod soll sie darauf bestanden haben, meine ersten Schuhe zu bezahlen. Meine Mutter erzählte jedes Jahr an meinem Geburtstag von der Großmutter, die nur als Foto meine Erinnerung prägt. Eine unfassbar alte Frau mit schneeweißem Dutt. Die Schuhe waren rot.
Die Uroma hatte zwei Kriege erlebt. Als sie starb, war Deutschland im zweiten Wirtschaftswunder-Jahrzehnt. Aus dem sind wir ja – grob betrachtet – nie wieder herausgekommen. Denn natürlich sind wir reich, solange wir einfach Kuchen essen und uns auf eine Abiturfeier vorbereiten können. Der Preis des Kleides spielt bei der Qualität des Reichtums wohl die kleinste Rolle.
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