Es ist zu warm für eine gute Idee, vor allen Dingen zu früh. Und dann dieser süßliche Duft, den irgendjemand mitgebracht hat, der Geruch nach längst getrunkenem Schnaps. Kein Wunder, dass sich keiner konzentriert. Vor Gritt Brobowski liegt ein blankes Betttuch auf dem Boden, daneben stehen zwei Spraydosen.
Und niemand hat eine Idee, was man drauf schreiben könnte. Acht Nachbarn sind gekommen, alle aus der Neubausiedlung am Ortsausgang von Joachimsthal. Ein Rentner mit nacktem Oberkörper, Mütter mit Kindern, zwei Männer um die vierzig in Trainingshosen. Heute Abend wird demonstriert, nur ein knalliger Slogan fehlt noch. Aber irgendjemand hat sie dann doch noch, die zündende Idee dieses Morgens, und irgendjemand sprüht den Satz zweifarbig auf das weiße Bettlaken.
Joachimsthal liegt im Dämmerschlaf, die Rollläden sind unten, die Hauptstraße ist leer. Hin und wieder hält ein Auto vor der Eisdiele, Touristen aus der Schorfheide machen im „Dorfkrug“ Rast. Und Elke Riester guckt auf die Straße, durch das Schaufenster ihres „Schlecker“-Markts. Mindestens fünf Mal ist die Polizei schon vorbeigefahren, Raumstreife heißt das auf Beamtendeutsch. Am Morgen hat die Verkäuferin in der Zeitung gelesen, „dass man jetzt wieder Angst haben muss.“
Extrem rückfallgefährdet
Der Grund für die Angst, die Demo, die Zeitungsartikel und die Fernsehteams, die sich an diesem Tag in Joachimsthal aufhalten, heißt Werner K. Von seinen 51 Lebensjahren hat er 22 im Gefängnis verbracht, wegen Vergewaltigungen und sexuellen Missbrauchs von Kindern. Kaum ist er aus der Haft entlassen, fällt ihm die nächste Frau zum Opfer, so geht es jahrelang.
Im Jahr 2000 sitzt er wieder im Gefängnis, als noch zwei weitere Fälle ans Licht kommen. Allerdings versäumt es das Landgericht Frankfurt (Oder), ihn auch für diese Taten zu verurteilen. Er säße ja bereits in Haft, so die Begründung, eine weitere Verurteilung würde nicht ins Gewicht gefallen.
Im April 2008 wird Werner K. entlassen. Die Staatsanwaltschaft beantragt nachträglich eine Sicherungsverwahrung, weil Werner K. als extrem rückfallgefährdet gilt. Doch die Versäumnisse von Frankfurt nimmt der Bundesgerichtshof zum Anlass, eine Sicherungsverwahrung abzulehnen. Die beiden weiteren Fälle wären doch ins Gewicht gefallen.
Werner K. kehrt in sein Heimatdorf Joachimsthal zurück und zieht in das Haus seines verstorbenen Vaters. Die Dorfbewohner sind entsetzt. Gritt Brobowski aus der Neubausiedlung, Mutter zweier Kinder, gründet eine Bürgerinitiative. Es dauert nicht lange, da wird Werner K. rund um die Uhr bewacht, ein Polizeiwagen steht Tag und Nacht vor dem grauen Haus mit dem brüchigen Putz, verfolgt ihn auf Schritt und Tritt, auch auf den Friedhof. „Darum wusste man immer, wo er war“, sagt Elke Riester und eine Kundin mischt sich ein: „Auch wenn man ihn selbst eigentlich nie gesehen hat.“
Nun ist die Bewachung ausgesetzt. Das Amtsgericht Frankfurt entschied, dass gegenwärtig keine besondere Gefahr mehr von Werner K. ausgehe, das habe seine Therapie gezeigt. Stattdessen fährt die Polizei nur noch an seinem Haus vorbei, fährt verschiedene Punkte ab, den Waldrand, abgelegene Straßen.
Und immer wieder fährt sie die Hauptstraße entlang. An Laternen und Schildern hängen die Wahlplakate der CDU, „Sicher Leben“ steht darauf, und „Wir haben die Kraft“. Werner K. lässt an diesem Morgen die zweite Überwachungskamera an seinem Haus installieren. Aus Angst vor Journalisten vielleicht, oder vor Lynchjustiz.
Nicht mehr allein im Dunkeln raus
Man müsse sich massiv einschränken, sagen die Frauen auf der Straße, nicht mehr allein im Dunklen raus, die Kinder noch besser im Auge behalten, und ja, es sei ein Riesenskandal, dass man als Bürger unter einem Justizfehler zu leiden hätte. Auch Beatrix Spreng, Pfarrerin der evangelischen Gemeinde Joachimsthal, versteht die Entscheidung nicht. „Demokratie kostet Geld“, sagt sie, und: „Die Bewachung hat unserer Gemeinde Frieden gebracht.“ Der Mahnwache anschließen will sich trotzdem keiner. 160 Flugblätter wurden ausgeteilt. Eine junge Mutter sagt, das ganze Geld, das man für die Bewachung von Werner K. ausgebe, könnte man sinnvoller in Kindergärten investieren.
Gritt Brobowski und ihre Nachbarn haben über den Justizfehler zusammen gefunden. Vorher hatte man nichts miteinander zu tun. Jetzt ist man gemeinsam gegen etwas, oder dafür, wie immer man es drehen will. Ein Gemeinschaftserlebnis. Die Luft wird langsam milder, die Gemeinschaft versammelt sich vor der Wohnsiedlung zum gemeinsamen Protestmarsch zum Haus von Werner K.
Die Fernsehteams halten ihre Kameras auf die Gruppe, der Rentner, noch immer oben ohne, stämmt etwas linkisch die Hände in die Hüfte und erzählt, was man mit so einem wie Werner K. eigentlich machen sollte, aber man müsse heutzutage ja aufpassen, was man sagt. Jeder gibt ein Statement ab, auch die Kinder müssen ran. Und immer wieder die Frage: „Haben Sie Angst?“
Über die Hauptstraße marschiert die Gruppe los, vor sich her trägt sie das Transparent, das sie am Morgen gemalt hat. „WIR haben auch die Kraft“, steht darauf.