Als der Architekt Mark Aretz die Tür aufschloss, stand er mitten im Alltag der DDR. Bei Sanierungen eines Mietshauses in Leipzig entdeckte er eine Wohnung, die noch genauso aussah wie vor 20 Jahren, als sie fluchtartig verlassen wurde. Die Entdeckung der knapp 40 Quadratmeter DDR ist eine kleine Sensation.
Wer Anfang der 90er-Jahre in Leipzig lebte, konnte oft schon in der Nachbarschaft auf Schatzsuche gehen. In verlassenen Häusern, in leer stehenden Fabriken fanden sich allerorten Andenken an die putzige, schmutzige Seite des Sozialismus: FDJ-Embleme, Tafeln mit Parteitagslosungen, Emaille-Geschirr. Doch das ist lange her. Das Gesicht der Stadt hat sich gründlich gewandelt, Ruinen sind selten geworden und längst beräumt. Eigentlich.
Der Leipziger Architekt Mark Aretz hat jetzt bei der Vorbereitung von Sanierungsarbeiten im Wohnviertel Reudnitz eine Mietwohnung entdeckt, in der seit 1989 niemand mehr gewesen sein kann. Als er die Tür im dritten Stock aufschloss, stand er mitten im Alltag der DDR: Alubesteck und Plastikgeschirr, „Vita“-Cola in der Originalflasche, „Marella-Delikateßmargarine“, dazu halb zerfressene Brötchen im Dederon-Netz. Der Wandkalender zeigte den August 1988. Knapp 40 Quadratmeter unberührte DDR, eine kleine Sensation. Beim Betrachten der Wohnung fühlte sich Aretz ein wenig wie ein Archäologe, der die Terrakotta-Armee ausgräbt: „Man sieht diese banalen Alltagsdinge heute ja schon wie einen archäologischen Fund, wie in einer historischen Schatzkammer“, sagt der 44-Jährige.
Während viele Nachbarwohnungen in der Crottendorfer Straße in Eigeninitiative renoviert worden waren, blieb in dieser Zweiraumwohnung seit der Wende die Zeit stehen. Ihr 20 Jahre altes Interieur erlaubte nun einen authentischen Rückblick in das simple Leben der DDR, die Markenprodukte würden jedem Ostalgieshop zur Ehre gereichen: „Karo“- und „Juwel“-Zigaretten, „Rügener fischhaltige Paste“, „Elkadent“-Zahncreme, „Strumpffüßlinge“ von Esda. Auch eine leere Flasche „Kristall Wodka“, im Volksmund bloß „Blauer Würger“ genannt. Ein Bad gab es in dem schlichten Gründerzeitbau nicht, nur eine Zinkbadewanne im Schlafzimmer, Toilette auf halber Treppe.
„Es deutete alles auf einen eiligen Aufbruch hin“, sagt Aretz. „Vermutlich hat sich der Bewohner in den Wendewirren davongemacht.“ Sogar viele persönliche Unterlagen blieben zurück. Ein Fahrzeugschein, ein Sparbuch, Abrechnungen, Briefwechsel. Demnach lebte in der Wohnung zuletzt ein 24 Jahre alter Leipziger, der mit der Obrigkeit massiv in Konflikt gekommen war. Der junge Mann hatte laut einer liegen gebliebenen Bescheinigung in der „Strafvollzugseinrichtung Leipzig“ eine einjährige Haftstrafe abgesessen. Es gibt ein Durchsuchungsprotokoll für einen Wohnwagen, die Polizei beschlagnahmte ein Tonbandgerät mit vier Spulen.
In einem Brief geht die Schwester des Bewohners drastisch auf Distanz zu ihrem Bruder. „Du sollst das selber auslöffeln, was Du Dir auch selbst eingebrockt hast. Ich sagte auch, dass Du von keinem groß Hilfe in Anspruch nehmen kannst, denn alle haben Deine großen Worte satt.“ An anderer Stelle heißt es: „Was willst Du denn schon wieder in Potsdam? Geht Deine Rumtreiberei wieder los? Dann melde Dir doch gleich eine neue Zelle an.“ Die letzten Dokumente stammen vom Mai 1989.
„So lupenrein und vollständig ist die Hinterlassenschaft wirklich selten“, sagt Aretz. Der erfahrene Architekt, der zuletzt in den USA studierte und sich 1990 direkt in die untergehende DDR aufmachte, hat in seinem Berufsleben eine Menge gesehen. Rund 160 Häuser haben er und sein siebenköpfiges Team saniert, Tausende Wohnungen geöffnet und renoviert. Auch einen Toten fanden sie – in Stapeln sorgsam gesammelter Ausgaben der „Leipziger Volkszeitung“ seit Jahrgang 1938. Doch das letzte Mal, dass in einer Wohnung das Frühstück buchstäblich noch auf dem Tisch stand, ist zwölf Jahre her. Dort hing noch eine Majoruniform der Nationalen Volksarmee.
„Ich mache immer Fotos, wenn ich so etwas sehe“, erzählt Aretz. Inzwischen hat sich auf seinem Dachboden auch eine beträchtliche Sammlung von Erinnerungsstücken angehäuft: FDJ-Parolen, Blockwart-Haustafeln, sogar Appelle von NSDAP-Ortsgruppenleitern.
Doch die Fundstücke aus der Crottendorfer Straße sind mittlerweile der Entrümpelung anheimgefallen. Die Sanierung des Hauses aus den 1890er-Jahren schreitet voran. In Kürze wird auch dieses Stückchen DDR verschwunden sein.
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