Vor sechs Jahren

Dramatische Stunden im Fall Jakob von Metzler

| Lesedauer: 27 Minuten
Michael Mielke

Ende September 2002 wird in Frankfurt/ Main der elfjährige Jakob von Metzler entführt. Auf der verzweifelten Suche nach dem Bankierssohn hat Polizei-Vizepräsident Daschner mit dem Hauptverdächtigen Magnus Gäfgen kein Erbarmen. Seine Entscheidung löst eine bundesweite Debatte über Folter aus.

Der Junge wirkt glücklich. Es sind die ersten Minuten der ersehnten Herbstferien. Und der kleine Jakob von Metzler würde am liebsten jedem davon erzählen. Von seinen Reiseplänen: erst nach Paris, anschließend ans Meer. Von den Freunden, die mitkommen werden. Und dass es heute noch losgehen soll. Gegen 10.15 Uhr steigt er aufgeregt vor der Carl-Schurz-Schule in Frankfurt/Main in den Bus der Linie 53.

Ein Elfjähriger, etwas kleiner als die meisten Klassenkameraden, mit einem schmalen Gesicht, strubbeligem Haar und großen Schneidezähnen. Ein paar Minuten später wird er an der Haltstelle Mörfelder Landstraße/Ecke Stresemannallee schon erwartet. Gut, dass wir uns sehen, begrüßt ihn neben der Haltestelle ein groß gewachsener, schlanker junger Mann. Jakob kennt ihn. Er weiß, dass dieser Magnus Gäfgen, den alle Maggi nennen, wie er ein begeisterter Anhänger der Fußballmannschaft Eintracht Frankfurt ist. Maggi ist sogar Vorsitzender des Fan-Klubs "South Force". Und Jakob hat auch mitbekommen, dass Maggi Elena kennt, Jakobs große Schwester. Sie ist 16, besucht im Gymnasium die Parallelklasse von Gäfgens Freundin Katharina. Deshalb ist der Junge arglos, als ihn Maggi freundlich lächelnd bittet, kurz in dessen Wohnung mitzukommen. Es seien nur ein paar Schritte, gleich vis-à-vis der Bushaltestelle. "Ich habe noch eine Jacke von deiner Schwester", sagt er. "Könntest du ihr die mitnehmen? Ich fahre dich dann auch gleich nach Hause."

In die Wohnung gelockt

Jakob stimmt zu und beginnt sofort eifrig zu erzählen, als Gäfgen nach seinen Plänen für die Ferien fragt. Er merkt nicht, dass der junge Mann nicht richtig zuhört und die Umgebung nervös mit Blicken abtastet. Es ist der 27. September 2002. Die Zeiger der Uhr an der Haltestelle stehen auf 10.30 Uhr, als der 1,45 Meter große Schüler und der 1,98 Meter große Student das Miethaus in der Teplitz-Schönauer Straße 42 betreten.

Etwa zweieinhalb Stunden später wird im renommierten Frankfurter Bankhaus Metzler unsanft die Tür des Büros von Hans Hermann Reschke aufgerissen. Er hat einen wichtigen Kunden am Telefon, blickt unwirsch auf. In der Tür steht sein engster Vertrauter, der Bankier Friedrich von Metzler. Der 59-Jährige wirkt aufgewühlt. "Leg sofort auf, egal, mit wem du sprichst!" fordert er Reschke auf. "Sie haben Jakob entführt." Er berichtet aufgeregt von einem mit Schreibmaschine getippten Erpresserbrief, den der Hausmeister gegen 12.40 Uhr vor der Einfahrt der Familienvilla in einer Plastikhülle gefunden hatte. Mit einem merkwürdigen Wortlaut, der mit den üblichen, fast immer sehr karg und drakonisch formulierten Erpresserschreiben wenig zu tun hat:

"Wir haben Ihren Sohn entführt. Es ist nicht unsere Absicht, das Leben Ihrer Familie oder das Ihres Sohnes zu zerstören: Es geht uns lediglich ums Geld. Daher bieten wir Ihnen folgenden Deal an: Bringen Sie in der Nacht von Sonntag auf Montag um 01.00 Uhr die Summe von einer Million Euro als Lösegeld. Das Geld in gebrauchten, nicht gekennzeichneten Scheinen (gemischt bis 500 Euro) in Aldi-Einkaufstüten. Verpacken und an der Haltestelle der Linie 14 Oberschweinstiege in Richtung Neu-Isenburg an das Schild der Haltestelle legen. Danach verlassen Sie den Ort und gehen auf direktem Weg nach Hause. Ihr Sohn wird dann am nächsten Morgen wohlauf nach Hause kommen. Es ist für Sie unter Mithilfe von Polizei o.Ä. sicher gut möglich, uns zu überführen. Wir haben jedoch nichts zu verlieren: Wir wollen Ihrem Sohn nichts tun und ihn fair behandeln, wir wollen nur das Geld. Und dies in einer Höhe, die Ihnen Ihr Sohn wert sein sollte. Lassen Sie uns mit dem Geld das Land verlassen und unternehmen sie keine Nachforschungen. Wenn wir mit sauberem Geld in Sicherheit sind, werden Sie Ihren Sohn wieder sehen: Das ist für alle Seiten das Beste. Sollte uns das nicht gelingen, wird Ihr Sohn auch nicht wieder auftauchen. Als Zeichen Ihres Einverständnisses damit parken Sie bitte in der Nacht auf Samstag ein Auto mit eingeschaltetem Standlicht vor Ihrer Einfahrt."

Von Metzler und Reschke sind sich einig, dass es zu gefährlich ist, allein vorzugehen und dass sie Hilfe brauchen. Reschke ruft den Staatssekretär im hessischen Innenministerium, Udo Corts, an. Der lässt sich kurz informieren und verspricht einen Rückruf. Bald darauf klingelt das Telefon. "Wir geben Ihnen den Besten, den wir haben, einen hochkarätigen Fachmann", heißt es. Eine Stunde später sitzt Reschke im Polizeipräsidium an der Friedrich-Ebert-Anlage zum ersten Mal dem Polizei-Vizepräsidenten Wolfgang Daschner gegenüber. Der 59-Jährige wirkt kompetent und voll konzentriert. Er ordnet die Alarmierung der Einsatzkräfte und die Einrichtung der für Entführungsfälle vorbereiteten Besonderen Aufbauorganisation (BAO) "Louisa" an. Dazu gehören ein Führungsstab, Spezialeinheiten und eine Beratergruppe. Um 15.20 Uhr wird die Staatsanwaltschaft Frankfurt über die Entführung unterrichtet. Alles geschieht streng vertraulich. Zwei Kripo-Beamte müssen sich in Reschkes Auto verstecken, als er zu der Villa der Familie von Metzler fährt, wo Eltern und Geschwister verzweifelt warten.

Opfer zielgerichtet ausgewählt

Derweil laufen im Frankfurter Polizeipräsidium die Ermittlungen auf vollen Touren. Sie konzentrieren sich zunächst auf das Umfeld der Familie. Friedrich von Metzler leitet die älteste deutsche Privatbank. Er gilt in Frankfurt als großzügiger Mäzen, der sich für soziale und kulturelle Projekte engagiert. Es scheint also klar, dass Jakob ganz bewusst als Entführungsopfer ausgewählt wurde. Und wer, außer Familienangehörigen, Mitschülern und Lehrern, konnte wissen, dass Jakob an diesem Tag und zu dieser Zeit die Schule verlassen und mit dem Bus nach Hause fahren würde? Ein Polizeipsychologe beschäftigt sich mit dem Erpresserschreiben, versucht auch hier Hinweise auf die Täter zu finden. Allen ist klar: Jede Stunde, die vergeht, vergrößert die Gefahr für Jakobs Leben. Doch es gibt trotz massiver Anstrengungen bis zur geplanten Geldübergabe keinen Erfolg.

In den Abendstunden des 29. September bereiten Polizeibeamte in der Familienvilla die Geldübergabe vor. Das Auto wird verdrahtet. Friedrich von Metzler lässt sich nicht davon abhalten: Er will dabei sein, wenn das Geld am verabredeten Ort abgeliefert wird. Er klebt noch einen Zettel an die mit Scheinen gefüllte Plastiktüte: "Wir haben unseren Teil getan", hat er darauf geschrieben. Nun möge bitte auch der Entführer den seinen erfüllen: "Lassen Sie den Jungen frei!" Dann wird die Plastiktüte, wie in dem Erpresserbrief gefordert, in einem Papierkorb nahe der Straßenbahnhaltestelle Oberschweinstiege abgelegt. In die Villa zurückgekehrt, beginnt für den Bankier und seine Familie eine lange, quälende Nacht. Sie sind nicht in der Lage, sich hinzulegen. Friedrich von Metzler sitzt neben dem Telefon, nickt ab und zu nur kurz ein und schreckt immer wieder hoch. Er wartet auf den ersehnten Anruf der Polizei mit der Nachricht: Wir haben Jakob, er ist wohlauf.

Es wird vermutet, Gäfgen sei der Bote

Daschner hat im Stadtwald rund um den Übergabeort Beamte verteilen lassen. Es ist 1.10 Uhr, als sich ein Honda Civic nähert. Ein großer, schlanker Mann steigt aus, blickt sich kurz um, geht zum Papierkorb, nimmt den Plastiksack mit dem Geld heraus und fährt wieder los. Die Polizisten folgen ihm. Der Halter des Fahrzeugs ist schnell ermittelt. Es ist der 27-jährige Magnus Gäfgen, Jurastudent, wohnhaft in Frankfurt-Sachsenhausen, in der Teplitz-Schönauer Straße 42.

Zu diesem Zeitpunkt wird noch vermutet, dass es sich bei Gäfgen um einen Boten handelt, der die Beamten zu dem Erpresser führt. Sie können nicht glauben, dass der Täter selbst derart naiv vorgeht und ungetarnt zum Übergabeort kommt. Möglich ist auch, dass er sofort zum Versteck des kleinen Jakob fährt.

Doch Gäfgen, dessen Identität anhand von Fotos inzwischen sicher geklärt ist, fährt allein weiter. Er benimmt sich, als gebe es kein Entführungsopfer und auch keinen Erpresser, dem er das Geld aushändigen muss. Im Gegenteil, alles weist darauf hin, dass er das Lösegeld ganz selbstverständlich für sich selbst verwendet: Er zahlt am nächsten Vormittag bei verschiedenen Banken Beträge ein, als wolle er testen, ob die Banknoten echt sind. Er trifft sich mit einem jungen Mädchen - seiner Freundin Katharina, wie sich später herausstellen wird - und besucht mit ihm Boutiquen in der Frankfurter Zeil. Er bucht für sich und die Freundin eine Flugreise nach Fuerteventura. Er bestellt in einem Autohaus in Aschaffenburg-Goldbach einen Mercedes C 200 für 30.700 Euro.

Die Ermittler wissen zu diesem Zeitpunkt, dass Gäfgen die Kinder der Familie von Metzler kennt und eine Wohnung hat, die in unmittelbarer Nähe des Heimweges des kleinen Jakob liegt. Für die Kripo-Beamten sind das alarmierende Zeichen. Zumal es weiter keine Kontakte zu eventuellen Mittätern gibt und keine Fahrten zum entführten Jakob. Der Junge ist inzwischen mehr als drei Tage verschwunden. Vieles deutet darauf hin, dass er sich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet. Oder dass er vielleicht sogar schon tot sein könnte.

Gäfgen wird festgenommen

Gegen 16 Uhr beschließt Daschner, einzugreifen. 20 Minuten später wird Gäfgens Auto gestoppt. Beamte nehmen ihn fest und bringen ihn ins Polizeipräsidium. Ebenso seine Freundin Katharina, die neben ihm im Auto saß. Auf den Jurastudenten wartet der erfahrene, einfühlsame Vernehmer Horst Krahl*. Doch Gäfgen ist nicht bereit, über Jakob zu reden. Er sorgt sich um seine Freundin und will wissen, was mit ihr passieren wird. Der Kriminaloberkommissar verspricht ihm, dass Katharina sofort freigelassen wird, wenn sich bestätigt, dass sie mit der Sache nichts zu tun hat. Das beruhigt ihn. Nach einigem Hin- und Her - der Polizeipsychologe wird Gäfgen später als "eiskalt und berechnend" beschreiben - macht er bei Krahl die ersten Angaben: Angeblich habe ihm ein Unbekannter 20.000 Euro geboten, wenn er für ihn von der Haltestelle im Stadtwald die Aldi-Einkaufstüten holt. Krahl erwidert: "Diese Aussage ist total unglaubhaft." Man sei um den kleinen Jakob sehr besorgt, und Gäfgen könne auf eine erhebliche Strafmilderung hoffen, wenn er dazu beitrage, dem Jungen das Leben zu retten. Worauf der Student die Arme verschränkt, sich zurücklehnt und schweigt.

Andere Polizisten durchsuchen inzwischen die Wohnung des Verdächtigen. In zwei Koffern, Kuverts und Schubladen finden sie die Hälfte des Lösegelds. Und einen Zettel mit verräterischen Stichpunkten:

Weg abfahren

Ortstermin Steg

Rucksäcke

Brieftest

Brief O...

Briefsteinwurf testen

Beil

Die Kriminalisten werten das als Hinweise auf die Vorbereitung einer Entführung. Und es verdichtet sich die Vermutung, dass Gäfgen diese allein durchgezogen hat. Die Hoffnung, dass Jakob noch lebt, wird kleiner. Familienmitglieder und Bekannte von Gäfgen werden befragt. Die Ergebnisse sind widersprüchlich. Da wird ein junger Mann beschrieben, der kurz vor dem ersten juristischen Staatsexamen steht, seine Eltern regelmäßig besucht, Nachhilfestunden gibt und in der Freizeit für ein Handgeld Messestände bewacht. Ein netter Typ, der in der katholischen Sankt-Bonifatius-Gemeinde in Sachsenhausen Ferienfreizeiten für Kinder organisiert. Andere zeichnen das Bild eines Prahlhanses, der über sich verbreiten lässt, er werde in Kürze zum hochbezahlten Wirtschaftsanwalt einer international operierenden Kanzlei avancieren. Ein Möchtegern, der wenige Wochen vor der Entführung mit einer Immobilienfirma über den Kauf einer Penthouse-Wohnung verhandelte, die mit rund 400.000 Euro veranschlagt war. Und der mit seiner elf Jahre jüngeren Freundin Katharina in der Frankfurter Goethestraße bei Gucci und Tiffany's shoppen geht, obwohl sein Konto mit 6000 Euro im Minus steht.

Gäfgen antwortet nicht

Im Polizeipräsidium wird Gäfgen aus seiner Zelle geholt. Kriminaloberkommissar Krahl erzählt von dem Lösegeld, das in der Wohnung gefunden wurde. "Es macht doch keinen Sinn mehr zu leugnen", sagt er. Gäfgen druckst herum, schildert schließlich, wie er das Geld abgeholt und in seiner Wohnung verstaut hat. "Wo ist der Junge versteckt?", fragt der Vernehmer. "Wo ist Jakob von Metzler?" Gäfgen antwortet nicht. Es ist kein stoisches Schweigen. Der routinierte Beamte spürt, dass der junge Mann sich zwar innerlich zurückzieht, dabei aber überlegt und abwägt. Er wolle einen Anwalt, sagt er schließlich. Krahl gibt die Forderung an einen anderen Beamten weiter. Er will aber nicht warten, bis der Verteidiger irgendwann erscheint. Es könnten Minuten sein, die am Ende fehlen, um Jakobs Leben zu retten.

Der Kriminaloberkommissar entscheidet sich für eine neue Strategie. Er will dem schwitzenden Gäfgen eine Brücke bauen und schreibt drei Fragen auf einen Zettel: Befindet sich Jakob allein irgendwo? Oder ist er unter Bewachung/Aufsicht? Oder ist er nicht mehr am Leben?

Er schiebt den Zettel zu Gäfgen. Der schiebt ihn zurück. Er will das nicht. Der Student könne ja einfach nur ein Kreuz hinter der richtigen Frage machen, bietet Krahl an. Er würde ihm dabei den Rücken kehren und nicht hinschauen. Gäfgen greift widerwillig zum Stift. Als sich Krahl umdreht, sieht er das Kreuz hinter der zweiten Frage. Wo das sei, fragt der Beamte. Keine Antwort.

Ein Polizeipsychologe, der die Vernehmung beobachten und das Aussageverhalten einschätzen soll, teilt dem Ermittlungsgruppenleiter Erwin Bennert* seine Eindrücke mit: "Gäfgen macht bewusst keine zielführenden Angaben", sagt er. "Er hält sich zurück und taktiert, um Zeit zu gewinnen."

Anwendung von Zwang freigegeben

Um 20 Uhr ruft Kriminalhauptkommissar Bennert den Polizei-Vizepräsidenten Daschner an und teilt ihm die Ermittlungsergebnisse mit. Daschner ist verzweifelt. Er hat die fürchterlichsten Szenarien vor Augen: Jakob gefesselt und geknebelt allein in einem dunklen Keller, ohne Essen und Trinken. Seit drei Tagen schon. Daschner denkt an den Fall des Gastwirtssohnes Matthias Hintze aus Brandenburg, der von zwei Russen entführt und in ein Erdloch gesteckt worden war. Der 20-Jährige war nach einigen Tagen in dem mit Brettern und Erde verdeckten Loch qualvoll erstickt. Und Daschner erinnert sich auch an die elfjährige Ursula Hermann, die in Eching entführt und in einer Holzkiste lebendig begraben wurde. "Wir müssen etwas tun!", denkt er. "Es geht um das Leben eines Kindes!" Und dann folgt zum ersten Mal dieser folgenschwere Satz: "Die Anwendung unmittelbaren Zwanges ist jetzt freigegeben."

Gegen 21.30 Uhr ordnet Bennert eine Besprechung an. Gäfgen hat noch immer nicht verraten, wo sich Jakob befindet. Es wird diskutiert, wie er zum Reden gebracht werden könnte. Bennert stellt die Frage in den Raum, was die Anwendung unmittelbaren Zwanges gegenüber Gäfgen bewirken könnte. Der Polizeipsychologe hält das für nicht Erfolg versprechend. "Gäfgen ist ein ausgebildeter Jurist", gibt er zu bedenken. "Es ist zu erwarten, dass er höchstens etwas sagen wird, das wieder nur Zeit kostet und uns nicht weiterbringt." Er sehe jedoch eine andere Möglichkeit. "Gäfgen ist selbstverliebt und arrogant. Und Geld ist ihm offenbar sehr wichtig." Vielleicht sei es ja wirksamer, so der Psychologe, Gäfgen mit den älteren Geschwistern des kleinen Jakob zu konfrontieren. "Wir wissen doch, dass er ihre Nähe gesucht hat, dass er sie bewundert und ihre Anerkennung will." Bennert nickt zustimmend. Er weist an, klären zu lassen, ob Jakobs Geschwister zu so einem Gespräch bereit seien. Zudem sollen weitere Personen gesucht werden, die Gäfgen gegenübergestellt und ihn zum Reden bringen könnten. Ein Beamter erwähnt Gäfgens Mutter: "Die müsste doch eigentlich als erste in Frage kommen."

Ein falsches Geständnis

Um 22.30 Uhr informiert Bennert den Polizei-Vizepräsidenten über diese Planungen. Daschner ist einverstanden. Gäfgen hat inzwischen einen Rechtsanwalt. Auch der macht dem Jurastudenten klar, dass er große Probleme hat, ihm die bisherigen Erklärungen abzunehmen. Gegen 0.45 Uhr ist Gäfgen zu einer anderen Aussage bereit: Jakob halte sich in einer Hütte am 15 Kilometer von Frankfurt entfernt liegenden Langener Waldsee auf, sagt er. Allerdings kann er die Lage der Hütte nur vage beschreiben. Die Ermittler legen ihm eine Landkarte vor. Auch das hilft nicht weiter. Der Jurastudent wird weiter befragt. Ob er nicht vielleicht doch Mittäter habe, will Krahl wissen. Gäfgen wird zunehmend nervöser. Und plötzlich berichtet er von zwei 21 und 23 Jahre alten Brüdern, die er von Kirchen-Freizeiten kenne. Genau die seien jetzt mit dem Jungen am Langener Waldsee. Der Polizeipsychologe glaubt ihm nicht. Er spricht von "einem Lügengebäude". Aber jede noch so kleine Chance soll genutzt werden. Rund 1000 Einsatzbeamte rücken mit 60 Suchhunden aus, um die Gegend am Langener Waldsee zu durchkämmen.

Gegen sechs Uhr werden von Beamten des Spezialeinsatzkommandos (SEK) die Wohnungen der von Gäfgen belasteten Brüder gestürmt. Beide liegen zu diesem Zeitpunkt in ihren Betten. Später stellt sich heraus, dass Gäfgen mit ihnen noch eine Rechnung offen hatte. Ihre Mutter hatte Jahre zuvor - die Brüder waren damals noch Kinder - gegen den Jugendbetreuer Magnus Gäfgen eine Strafanzeige wegen sexueller Übergriffe gestellt.

Die Stimmung im Polizeipräsidium ist gedrückt. Die meisten Beamten haben die Nacht durchgemacht, sind müde und frustriert, weil Jakob noch immer nicht gefunden ist. Daschner erscheint gegen 6.30 in der Dienststelle. Auch er hat nicht schlafen können. Er habe sich "den Kopf zu zermartert", wird er später vor Gericht erklären, "um nach einer Lösung aus dieser nahezu ausweglosen Situation zu suchen". Und er schilderte seine "Befürchtungen, schon zu lange gewartet und damit den Tod des Kindes mitverschuldet zu haben". Um 6.35 Uhr spricht er mit Bennert und dessen Vertreter Roland Münster*. "Es besteht für das entführte Kind akute Lebensgefahr, weil mit gravierendem Flüssigkeitsmangel zu rechnen ist", sagt der Polizei-Vizepräsident. Gäfgen müsse daher nachdrücklich veranlasst werden, den Aufenthaltsort preiszugeben. Ein Lügendetektor sei dafür nicht geeignet. Wenn vorhanden, so Daschner, könne mit einer Spritze ein Wahrheitsserum verabreicht werden. Im Übrigen ordne er an, Gäfgen "nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen, ohne Verursachung von Verletzungen, erneut zu befragen". Er habe sich das genau überlegt, sagt der sichtlich aufgewühlte Polizeiführer. "Es handelt sich hier um einen übergesetzlichen Notstand."

Münster ist perplex, hält das Vorgehen für rechtlich unzulässig. Er glaubt weiterhin, dass es durch Konfrontation mit Angehörigen des Entführten gelingen könnte, Gäfgen zum Reden zu bringen. Aber Anordnung ist Anordnung. Gegen 6.50 Uhr ruft er den Chef des SEK an. Münster fragt ganz direkt: "Können Sie mir einen Beamten nennen, der bereit ist, Herrn Gäfgen zu foltern?" Der SEK-Chef ist derart verblüfft, dass er nicht nachfragt und wortlos den Hörer in die Halterung knallt.

Kollegen lehnen Folter ab

Gegen sieben Uhr ruft Münster die Abschnittsleiter zu einer Besprechung. Er berichtet von Daschners Anordnung. Mehrere der Teilnehmer äußern sich gegen Daschners Pläne, sehen keine rechtliche Grundlage. Der SEK-Chef sagt, dass er diese Maßnahme schon aus Fürsorgepflicht für die Beamten der Spezialeinheit ablehne. "Das gute Renommee meiner Einheit würde dadurch in Frage gestellt."

Aber es gibt auch Gegenstimmen. "Wir können das Leben dieses Kindes doch nicht der Beliebigkeit Gäfgens überlassen", sagt ein älterer Kriminalist. "Ich trage Daschners Anordnung innerlich mit." Aber es sei auch für ihn "nur die Ultima Ratio". Um 8 Uhr bittet Daschner die Beamten Bennert, Münster und den SEK-Chef in sein Zimmer. Er ist erregt und fragt ungewöhnlich laut, warum seine Anordnungen noch nicht umgesetzt seien. "Ich habe mich doch klar genug ausgedrückt!" Münster berichtet ihm von den Bedenken der Abschnittsleiter. Doch Daschner will jetzt keine rechtlichen Diskussionen. Die Zeit drängt. Er hat auch schon konkrete Vorstellungen, wie Schmerzen ohne Verletzungen zugefügt werden könnten: durch das Überdrehen des Daumens und des Handgelenks. "In meiner Abteilung ist für diese Art der Befragung derzeit kein Mann zu finden", sagt der SEK-Chef. Seines Erachtens komme nur ein Beamter in Betracht, der sei aber im Urlaub. "Dann muss dieser Mann mit einem Hubschrauber geholt werden", erwidert Daschner.

Gäfgen wird zu diesem Zeitpunkt aus seiner Zelle ins Vernehmungszimmer geführt. Dort wartet seine Mutter. Sie wirkt verzweifelt, fragt den Sohn, ob er weiß, wo Jakob ist. "Ich kann das nicht sagen", antwortet der Sohn. Er stehe unter Druck, werde von Männern erpresst, die sich an ihm rächen würden. Und dann bittet er sie, seine Uhr zu nehmen und ihm ihre weit weniger wertvolle zu geben. Er reicht ihr seine Breitling. Diebesgut, er hat die Uhr auf einer Party gestohlen.

Gegen 8.30 Uhr bestellt Daschner den Kriminalhauptkommissar Bennert in sein Büro. "Jakob ist in akuter Lebensgefahr", sagt er. "Jetzt muss etwas geschehen!" Bennert solle Gäfgen nochmals eindringlich ins Gewissen reden. Falls er sich dennoch weiterhin verweigere, solle Bennert dem Jurastudenten die Konsequenzen klar machen: "Sagen Sie ihm, dass er unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügen von Schmerzen, ohne Verursachen von Verletzungen, erneut befragt wird." Daschner ist erregt, weiß aber genau, was er tut. Später wird er sagen: "Es war für mich unvorstellbar, die Vollendung eines Mordes an einem entführten Kind unter staatlicher Aufsicht zuzulassen."

Jurastudent gesteht Entführung

Bennert ist sich bewusst, dass Daschners Anordnung rechtlich zumindest umstritten ist und von der Staatsanwaltschaft nicht abgesegnet wurde. Er denkt an Jakob, an den schweigenden Gäfgen. Nun ist auch für ihn die Zeit der Ultima Ratio gekommen. Bennert geht sofort zu dem Raum, in dem Gäfgen sitzt. Die Mutter des Studenten kommt ihm entgegen. Weinend. In der Hand fassungslos die wertvolle Uhr. Bennert weist einen im Raum verbliebenen Kriminalbeamten an, ebenfalls rauszugehen. Er ist jetzt mit Gäfgen allein. Er sagt ihm, dass an seiner Tatbeteiligung keine Zweifel bestünden. Wenn er noch immer nicht reden wolle, werde ihm jetzt Gewalt angetan. "Dafür wird ein besonderer Beamter mit einem Hubschrauber herbeigeschafft", droht Bennert. "Der wird Ihnen Schmerzen zufügen, die Sie nicht vergessen werden." Um das Gesagte zu verstärken, tritt er ganz dicht an Gäfgen heran und macht mit der rechten Hand kreisende Bewegungen. Gäfgen sackt zusammen. Er hat Angst. Bennert ist so ganz anders als der einfühlsame Beamte, der ihn in den Stunden zuvor vernahm. "Ich habe Jakob unter einem Steg bei Birstein versteckt", gesteht Gäfgen schließlich.

Der Kriminalhauptkommissar rennt in den Flur, schreit, er brauche sofort eine Karte von Birstein. Das ist ein kleiner Ort, knapp 70 Kilometer entfernt von Frankfurt. Ein Kollege bringt eilig einen Shell-Atlas, Ausgabe 1978. Ein anderer Beamter geht zu Gäfgen, fragt, wo genau sich das Versteck befinde. Und dann will er noch etwas wissen. Er hat es anfangs nicht über sich gebracht, diese Frage zu stellen, weil er die Antwortet fürchtet. Er fragt mit brüchiger Stimme: "Lebt der Junge noch?" Gäfgen weicht aus. "Ich weiß nicht, ob die anderen noch da sind", sagt er.

Gegen 11 Uhr wird unter dem Steg eines kleinen Fischweihers ein Plastiksack gefunden, in dem die Leiche Jakob von Metzlers liegt. Die Beamten, allen voran Polizei-Vizepräsident Daschner, müssen sich keine Vorwürfe machen, zu lange für ihre Ermittlungen gebraucht zu haben. Jakob ist schon seit vier Tagen tot. Gäfgen hatte ihn sofort umgebracht, nachdem sie in seine Wohnung gegangen waren. Am 27. September.

(*Namen geändert)