Freigänger

Süleyman Koc - Leben zwischen Knast und Fußballplatz

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Lutz Wöckener

Foto: Reto Klar

Süleyman Koc ist der einzige Häftling im deutschen Profifußball. Beim SV Babelsberg erhielt er im Sommer 2012 seine zweite Chance. Er hat sie genutzt.

Nach einem Anruf verlässt Süleyman Koc das Café seines Onkels in der Turmstraße und startet seinen Toyota Yaris. Er steuert zielstrebig durch die Nacht, holt wie verabredet seinen Bruder Sedat und dessen Freunde ab. Die Komplizen haben gerade ein Spielautomatenkasino überfallen und brutal mehrere Tausend Euro erbeutet. Dass er bereits beschattet wird, weiß Koc nicht. Eine Gefälligkeit, die alles verändern wird. Hier in Berlin-Moabit beginnt sein Leben, hier wächst er auf, besucht die Hauptschule, tritt zum ersten Mal gegen einen Fußball. Hier geht er im April 2011 ins Gefängnis.

Zwei Jahre später sitzt Koc bei Frederic Löhe auf dem Beifahrersitz. Der Torwart des SV Babelsberg fährt Koc die 20 Kilometer von der Justizvollzugsanstalt Düppel zum Karl-Liebknecht-Stadion. Löhe erzählt vom Frühstück mit der Freundin. Es sind Geschichten aus einer anderen Welt. Koc hört sie sich kommentarlos an. Wenn er etwas sagt, muss Löhe sich hinüberbeugen und nachfragen. Süleyman Koc ist ein Mann der leisen Worte.

Den Anführer der „Macheten-Bande“, zu dem ihn die Medien damals stempelten, stellt sich wohl jeder irgendwie anders vor. „Ich dachte, das kann er nicht sein“, findet auch Löhe, der Kocs Lebensgeschichte nur aus der Zeitung kannte, als er im Sommer 2012 zum Drittligaklub wechselte. Er erlebt Koc schüchtern, höflich, hilfsbereit. Charakterzüge, welche die Rückkehr in ein geregeltes Leben eröffneten. Wegen positiver Sozialprognose kann der 23-Jährige den Großteil seiner Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten im offenen Vollzug absitzen.

Babelsberger kämpften um ihren Mitspieler

Im Sommer bat der Mittelfeldspieler bei seinem alten Klub um eine zweite Chance, hatte allerdings Pech, dass sein Förderer Dietmar Demuth entlassen wurde. Nachfolger Christian Benbennek, inzwischen auch schon wieder abgelöst, erteilte Koc damals eine Absage. „Als Trainer machst du vor der Saison eine Kaderplanung, und plötzlich hauen die dir da einen Namen auf den Tisch, wo ich gesagt habe: Der? Auf keinen Fall.“ Es war die erste Profistation des Trainers, der viele Geschichten von Talenten kennt, die an der sozialen Herkunft gescheitert sind.

Doch die Babelsberger kämpften um ihren Mitspieler. „Überall im Verein, wo ich rumgefragt habe, kam die gleiche Antwort: ,Sülo? Überragender Typ.‘ Da wurde ich neugierig“, erinnert sich Benbennek, der Koc einem kritischen Check unterzog: „Ich wusste nicht ganz genau, ob das Bild, das ich sehe, authentisch ist oder nicht. Dieser geläuterte, bescheidene, fast stille, schüchterne Spieler, der um seine zweite Chance bittet. Heute aber weiß ich, dass er das ist. Er hat ein gutes Herz.“ Koc unterschrieb einen leistungsbezogenen Vertrag. „Wenn du integriert werden willst, dann bist du zu 50 Prozent erst mal dazu verpflichtet, dich selbst einzubringen, und zu 50 Prozent die Gruppe“, sagt Benbennek, „und hier haben beide Seiten 80 gegeben.“ Koc, der Freigänger im Strafraum, hat seine zweite Chance genutzt.

Wer mit ihm Zeit verbringt, fragt sich allerdings, weshalb es dieser überhaupt bedurfte. „Ich wurde erzogen, stets Ja und Amen zu sagen. Ich habe immer geholfen. Ob im Guten oder Schlechten“, lautet sein Erklärungsansatz. Koc machte mit. „Mit dem Vertrag Zweite Liga vor Augen... so dämlich zu sein, ist schon außergewöhnlich“, sagt Benbennek. Ingolstadt hatte 2011 Interesse an Koc bekundet, auch der 1. FC Union beobachtete ihn. Er aber kümmerte sich um das rauschende Leben des elf Monate jüngeren Bruders und dessen Freunden, die immer mehr Geld für Kokain benötigten.

Im Kiez gelten eigene Regeln

Gewalt hatte seine Kindheit begleitet, seine Jugend. Beim Kick im Park gab es nicht selten Messerstiche. Mehr als 60 Prozent seiner Freunde von damals sitzen heute im Gefängnis, darunter auch einer seiner Cousins, der gerade eine siebeneinhalbjährige Haftstrafe wegen versuchten Mordes absitzt. „Die Leute können nichts dafür“, findet er, „die wachsen ja so auf.“

Im Kiez gelten eigene Regeln. „Ich kenne das nicht anders“, sagt Koc und erzählt: „Wenn ich von zwei, drei Leuten angegriffen werde, kann ich nicht die Polizei rufen, weil ich das nicht gelernt habe. Ich wende mich an unsere Leute. Und die kriegen das dann sofort raus. Die Typen werden bestellt und dann wird gefragt: Wer hat was gemacht? Wenn ich im Unrecht bin, kriege ich Ärger. Aber wenn ich im Recht bin, müssen die anderen dafür bezahlen. So war das, so ist das, und so bleibt das auch.“

Innerhalb der türkischen Gemeinde in Berlin gilt sein Vater viele Jahre als höchste Instanz. Yasar Koc ist ein einflussreicher Mann, Kiezgröße, ein Boxer. Im Ring und außerhalb. Er fällt wegen Körperverletzung und versuchten Totschlags auf. Sadri Lipay, auf der Hamburger Reeperbahn als „Albaner-Toni“ berüchtigt, zählt zu seinen Freunden. 2005 wird Koc senior schwer verletzt. Neun Messerstiche treffen Herz und Lunge. „Es kommt immer drauf an, wie du aufwächst. Du kannst machen, was du willst, aber du bleibst immer das Kind deiner Eltern“, sagt Benbennek und liegt damit wohl nicht ganz falsch.

Lange Zeit aber schützt Koc der Status als talentierter Fußballspieler. „Der Sohn von Yasar ist ganz anders als sein Vater“, heißt es im Viertel. „Mittwochs geht Sülo am liebsten zur Schule, vier Stunden Sport machen Spaß. Danach arbeitet er. Der Vater verschafft ihm Jobs, geht mit ihm trainieren, fordert ihn, lässt Schmerzen nicht gelten. Yasar Koc arbeitet wie seine Ehefrau in der Großküche der Virchow-Klinik in Moabit, ist Abteilungsleiter, Sülo steht dort nun in der Essensausgabe. Als der 18-Jährige beim Berliner AK in ein Leistungsloch fällt, verschafft ihm sein Vater die nächste Aufgabe. „Großmarkt. Beusselstraße. Firma Weihe. Das Schlimmste, was ich in meinem Leben gearbeitet habe“, erinnert sich Koc und lächelt. „Sieben Müllpaletten zusammenräumen. Danach bei minus 22 Grad im Kühlhaus schrubben. Fürs ,Hotel Adlon‘, fürs ,Hilton Hotel‘. Wenn die Äpfel bestellt hatten, musste jeder einzelne Apfel geputzt werden. Es war anstrengend. Am Tag über 2400 Kisten waschen, 50 auf eine Palette packen, zur Seite schieben, und dann die nächsten 50. Immer wieder. Und alles allein.“

Viele fragen nach Vergewaltigung

7.00 Uhr Arbeitsbeginn, 18.00 Uhr Training, 21.00 Uhr essen, dann schlafen. „Ich hätte wahrscheinlich auch schon damals bei Straftaten mitgemacht“, sagt Koc, „aber ich hatte nie die Zeit. Schule, Arbeiten, Essen. Ich war 24 Stunden unter Beobachtung. Sonst wäre ich schon lange im Gefängnis gelandet.“ Nach drei Monaten streikt sein Körper. „Da habe ich meinen Vater mit dem Versprechen, Fußballprofi zu werden, gebeten, mich rauszunehmen. Seither habe ich nur noch Gas gegeben.“

Koc trainierte, auch um seine Familie zu unterstützen. Vor allem sein Bruder, im Alter von 16 Jahren zu Hause rausgeflogen, bereitete ihm Sorgen: „Die Leute sagten, ich solle ihm helfen. Aber ich hatte doch selbst nur 50 Euro in der Tasche. Ich spielte bei Türkiyemspor, die haben mir zehn Monate Vertrag gegeben, aber nur drei Monate gezahlt“, sagt er. Dann Babelsberg, seine erste Profistation. Doch Koc resignierte, ergab sich den alten Geistern und bezahlte beinahe mit dem Leben.

Er hat diese Geschichten oft in der Kabine erzählt. „Die wollen immer wissen, ob ich vergewaltigt wurde“, sagt Koc, „aber nein, von wem denn? Ich war 23 Stunden am Tag allein in einer Zelle.“ Elf Monate saß er in Moabit in U-Haft mit schweren Auflagen. Aber Koc schöpfte neuen Mut. Er begann Bücher zu lesen und schrieb Briefe. An seine Eltern und seine Freundin, eine aus Indien stammenden Jurastudentin.

Koc hat es geschafft, wenn auch die härteste Prüfung womöglich noch wartet. Nicht ausgeschlossen, dass seine Strafe verkürzt wird und er bereits dieses Jahr frei kommt. „Ich liebe Moabit, ich bin da aufgewachsen“, sagt er, „aber irgendwann musst du einen Schlussstrich ziehen.“ Eine dritte Chance wird es nicht geben. Koc weiß das. Und so träumt er nach seiner Rückkehr auf die quietschende Pritsche in Düppel vom neuen Leben. „Ich möchte Zweite Liga, erste Liga spielen. Mit Freundin und Kind in einem Haus wohnen, wo ich nur zu ihr, zu meinen Mannschaftskollegen, meiner Mutter und meinem Vater Kontakt habe. Meine Freundin ist so toll und intelligent, da brauche ich keine Freunde.“

Nach dem Training fährt er häufig zu den Eltern oder trifft sich mit Jugendlichen in Moabiter Cafés, um ihnen seine Geschichte zu erzählen, und dass Gewalt der falsche Weg ist. „Natürlich ist der Kriminelle für die Kids cooler als der Fußballspieler. Aber sie hören mir zu. Ich bin jetzt im Vorteil.“