Vor einiger Zeit steckte ich mit dem Taxi im Stau auf einer Brücke. Alles hupte um uns herum. Die Querstraße war von großen Touristenbussen versperrt.
„Verdammte Arschlöcher!“ schimpfte der Taxifahrer. „Is det Venedig hier oder wat?“
Die „verdammten Arschlöcher“, etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, standen direkt neben unserem Wagen und folgten den Anweisungen ihres Reiseführers.
„Schauen Sie bitte nach links“, sagte der Reiseführer. „Dort sehen Sie den Palast der Republik, ein typisches Bauprojekt der sozialistischen Architektur. Nach der Wende stellte sich heraus, dass der Palast asbestverseucht war.“
„Hui!“ hielt die Gruppe den Atem an. Von dem gefährlichen Asbest, der Hauptdroge des Sozialismus, hatten sie alle schon gehört.
„Der Palast kann aber in absehbarer Zeit nicht abgerissen werden, weil er ein unverzichtbares Gleichgewicht darstellt mit dem – schauen Sie bitte nach rechts – Berliner Dom“, fuhr der Reiseführer fort. „Wenn man also den Asbest-Palazzo sprengt, bricht auch der Dom in sich zusammen. Deswegen werden beide Gebäude Stück für Stück auseinander genommen, um die Balance nicht zu gefährden. Der Dom wird danach wieder neu aufgebaut, und anstelle des ehemaligen Palastes der Republik ...“ Der Stau löste sich auf, wir fuhren weiter.
Ich muss auch einmal so eine Stadtrundfahrt machen, überlegte ich
Diese Touristen wussten anscheinend mehr über die Stadt und ihre Zukunft als ich. Einige Touristen notierten sich sogar Informationen, die ihnen besonders interessant vorkamen. Wie würden diese Notizen wohl aussehen? „Habe heute in Berlin auf einer Brücke Asbest inhaliert. Voll geiler Kick. Danach Kopfschmerzen, Hunger, Durst.“
In der letzten Zeit treffe ich überall auf Touristen, sogar in den entlegensten Winkeln Ost-Berlins. Dort wo es überhaupt nichts mehr gibt, weder Brücke noch Dom. Neulich war ich Zeuge, wie eine Gruppe Japaner in Friedrichshain eine halbe Stunde lang einen Betonmischer beobachtete. War es vielleicht ein besonderer Betonmischer? Drehen sich die Dinger in Japan vielleicht andersherum? Ist das eine Zeile im Reisetagebuch wert? „Gestern in Berlin, habe Asbest inhaliert, danach halbe Stunde lang Betonmischer beobachtet. Anfangs leichte Halluzinationen, kleine rote Sternchen, später Müdigkeit, Erschöpfung.“
Nicht nur die Taxifahrer, auch viele meiner Bekannten meckern über die Touristen. Ich aber mag sie. Ich zeige ihnen gern, wie sie da- und dorthin kommen, auch wenn ich den richtigen Weg selbst nicht kenne.
„Wohnen Sie wirklich hier?“ fragen sie mich.
„Ja“, antworte ich, „und wie! In fünfter Generation!“
Sie wundern sich. Der Alltag des einen ist das exotische Abenteuer des anderen. Man kommt sich dabei selbst wie eine Sehenswürdigkeit vor.
Während sich die Touristen in Berlin hauptsächlich an, auf, hinter, vor und zwischen den Baustellen austoben, gehen sie in Moskau als Erstes in die Lebensmittelgeschäfte, die sie anscheinend sehr exotisch finden. Sie kaufen dort kiloweise Sachen ein, die sie nie benutzen werden. Außerdem stellen sie Fragen. „Warum heißen diese Papirossy Belomorkanal?“ „Und wieso heißt diese rosarote Wurst Laienwurst?“ „Woraus wird Laienwurst eigentlich gemacht?“ „Und warum heißt diese Seife Wohin Lenin überall kam?“ „Warum, warum, warum?“
Die Russen sind seltsam
„Darum“, wehren sich die Russen. „Schmeckte denn früher wirklich alles besser?“ lassen die Touristen nicht locker. „Oder nicht doch alles schlechter?“ „Ah ja“, winken die Russen ab, „wissen Sie, am liebsten essen wir Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Kartoffeln, Möhrchen, Zwiebeln, ...“ „Und warum keine Radieschen?“ haken die Ausländer nach.
„Verpisst euch!“ regen sich die Russen auf.
Die Touristen notieren: „Gestern in Moskau. Papirossy der Marke Belomorkanal inhaliert. Danach eine Laienwurst gegessen. Erste zehn Minuten absolute Euphorie, danach die ganze Nacht gekotzt. Schlimmer als Asbest diese Papirossy! Die Russen sind seltsam. Mögen keine Radieschen.“
Was wäre unsere Welt ohne die Touristen, die sich für alles interessieren, allem nachforschen und alles hinterfragen. Wer, wie, was, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm.
In ihren Notizen lebt die Welt wieder auf.
...
Theater wird in Berlin großgeschrieben
Theater gehört zu den wichtigsten staatlich geförderten Künsten. Beinahe die halbe Stadt ist in dieser Branche beschäftigt. Die alte römische Maxime „Brot und Spiele“, mit der die Grundbedürfnisse der Bevölkerung definiert wurden, kann man auf Berlin bezogen mit „Wurst und Theater“ übersetzen. Mit wenigen Ausnahmen spaltet sich die Berliner Bevölkerung in Theatermacher und Theatergucker, wobei beide nur selten zusammenkommen.
In östlichen Bezirken wird fleißig gespielt, aber die Besucherzahlen sind dort mickrig. In westlichen wird weniger Theater gemacht, dafür scheinen die Etablissements ein treues Publikum zu besitzen. Eine glückliche Zusammenfügung von Theatermachern und Theaterguckern gibt es dagegen bei uns in Prenzlauer Berg. Ich habe hier auch schon einmal Theater gespielt. Dazu später.
Im Allgemeinen gibt es in ganz Berlin viel mehr Theatermacher als Publikum. Die meisten betätigen sich in den unzähligen Off-Theatern und Laiengruppen, die in keinem Theatermagazin komplett erfasst werden. Das liegt an der Volkstümlichkeit dieser Kunstgattung. Trotz ständiger Versuche, das Theater als elitäre Kunst zu etablieren, bleibt die Theaterbühne ein Ort, an dem sich die Massen austoben. Anders als beim Film oder in der Musik darf beim Theater jeder mitmachen. Man muss dafür keine besondere Begabung besitzen, ein Musikinstrument spielen, gut singen oder malen können. Es reicht schon, wenn man in der Lage ist, ein paar Sätze auswendig zu lernen und diese mehr oder weniger glaubwürdig zu einem vom Regisseur festgesetzten Zeitpunkt von sich zugeben. (...)
1990 bekam ich sofort eine Theaterstelle vermittelt
Die Theaterhauptstadt Berlin kann es mit ihren mehr als viertausend gut besuchten Veranstaltungen pro Jahr mit jeder Theaterstadt der Welt aufnehmen. Als ich 1990 aus dem frostigen Moskau in dieses Mekka der Künste kam, wurde mir vom Arbeitsamt Prenzlauer Berg sofort eine Theaterstelle vermittelt.
Damals erhielten hier die zahlreichen Theaterprojekte noch eine großzügige staatliche Unterstützung. In jeder Kneipe saß ein imposanter schnurrbärtiger Theatermacher mit Pfeife und Whiskyglas, der regelmäßig ABM-Stellen zu verteilen hatte. Und so wurde ich Mitglied einer hochbegabten Off-Theater-Gruppe. Ich glaube, es war ein Bewegungstanztheater mit kleinen Sprachtheaterelementen und großem pyrotechnischen Aufwand.
Bei unserer ersten Premiere steckten wir ein leer stehendes Haus in Flammen und erhielten dafür den begehrten Theaterpreis für freie Bühnen. Hauptsächlich spielten wir in der Kulturbrauerei, aber auch an öffentlichen Orten, unter der Gleimbrücke, am Teutoburger Platz, auf Marktplätzen, vor Rathäusern und Kaufhallen oder einfach so auf der Straße – immer mit viel Publikum. Nirgendwo habe ich eine derart interessierte Bevölkerung erlebt, die sich alles reinzieht. Vor allem, wenn es umsonst ist.