Kinderschänderring um Marc Dutroux reichte bis nach Berlin

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Dirk Banse und Michael Behrendt

Seit einer Woche steht der Kinderschänder Marc Dutroux in Belgien vor Gericht. Akten, welche der Berliner Morgenpost zugespielt wurden, belegen: Dutroux war Teil eines Verbrecherrings, der bis nach Berlin reichte - und dem Berliner Kinder zum Opfer fielen.

Berlin - "Die Leute wollen glauben, dass ich im Mittelpunkt stehe. Sie irren sich." Worte von Marc Dutroux im März 2004. Der 47-Jährige, vermutlich der meistgehasste Mann Belgiens, versucht einen Teil der Schuld abzuwälzen. Seit Beginn des Prozesses gegen den Kinderschänder in der Ardennenstadt Arlon vor einer Woche warten mehr als 1000 aus aller Welt angereisten Journalisten auf Belege für die Existenz eines weit verzweigten Netzwerkes von Pädophilen.

Sein Ankläger, Staatsanwalt Michel Bourlet, hat sie bereits. In der Ermittlungsakte 8257/01, die der Berliner Morgenpost zugespielt wurde, sind die Verbindungen von Marc Dutroux in die internationale Kinderporno-Szene dokumentiert. Sie ist im Auftrag von Bourlet erstellt worden und liegt auch dem britischen New Scotland Yard sowie dem belgischen Justizministerium vor.

Die Auswertung der Akte lässt nur folgende Schlussfolgerung zu: Dutroux hat zusammen mit einem Päderastenring gearbeitet, der in ganz Europa aktiv war. Zentrale des Rings ist die Rotlichtszene von Amsterdam, in der Dutroux laut mehrerer Zeugenaussagen gesehen wurde. Zusammen mit jenen Männern, die auch der Verschleppung von Berliner Jungen verdächtigt werden. Und nicht nur das. In der Ermittlungsakte werden Sexualmorde an mehreren Kindern erwähnt. Detailliert wird der Tod eines deutschen Jungen bei einer gefilmten Vergewaltigung nahe Amsterdam beschrieben. Das wäre der Beleg für die Existenz eines so genannten Snuff-Videos, also dem Töten vor laufender Kamera.

Das Resümee der Akte: Dutroux und seine Helfer entführten Mädchen, der andere Ring kleine Jungen. Die Köpfe der Banden kannten sich ebenso wie deren Handlanger. Die Theorie vom Einzeltäter ist hinfällig.

Indizien für das Bestehen von Kinderschänderringen gibt es zahlreiche. Aussagen von Tätern und Opfern sowie schockierende Fotos und Filme von missbrauchten, vergewaltigten und gefolterten Kindern. 20 CD-Roms mit solchem Material sind der Akte beigefügt. Sie werden derzeit von der Staatsanwaltschaft im belgischen Turnhout ausgewertet. Das Dossier für Dutroux-Ankläger Bourlet hat der belgische Privatermittler Marcel Vervloesem zusammengestellt. Mehrmals wurde der 51-Jährige von Bourlets Fahndern gehört.

Bereits am 10. April 2001 hatte Vervloesem berichtet, dass er drei Monate zuvor einen gewissen Robert Jan W. kennen gelernt habe. Dieser Mann sei seit 15 Jahren in der SM-Szene von Amsterdam aktiv und ein regelmäßiger Besucher des Klubs "G-Force" gewesen. In der Vernehmung werden die Aussagen des niederländischen Zeugen wiedergegeben. Der Mann habe versichert, dass Dutroux immer wieder in dem Etablissement gewesen sei, heißt es in der Akte. Von zwei Wohnungen in Amsterdam ist die Rede, an die auch Kinder geliefert worden sein sollen. Besucher - so versichert dieser Zeuge - seien auch Marc Dutroux und ein Mann namens Robby van der P. gewesen.

Damit ist die Verbindung nach Deutschland belegt. Denn eben dieser Robby van der P. ist die zentrale Figur im nach Berlin reichenden Netzwerk. So hatte er dieser Zeitung in Amsterdam versichert, mehrere Berliner Jungen in niederländischen Kinderbordellen gesehen zu haben. Er selbst sei häufig in der deutschen Hauptstadt gewesen, habe mit Bordellbesitzern Kinder nach Rotterdam und Amsterdam gelockt. Und er sei 1993 Zeuge der Verschleppung des damals zwölfjährigen Tempelhofer Jungen Manuel Schadwald in die Niederlande geworden.

Die Kontakte dieses Mannes und seiner Komplizen sind in der Ermittlungsakte von Bourlet detailliert beschrieben. Auch die Tatsache, dass Robby van der P. wegen Mordes in Italien in Haft sitzt. Er hatte 1998, wenige Tage nach einem Treffen mit den Reportern der Berliner Morgenpost, seinen Komplizen Gerrit Ulrich in der Toskana erschossen. Im Prozess gegen ihn sagte sein Vater: "Wenn Robby sprechen würde, wäre der Fall Dutroux nichts dagegen." Und er sagte, dass sein Sohn in einem Film zu sehen sei, auf dem ein Kind sterbe. Im Gespräch mit dieser Zeitung bestätigte der Vater kurz darauf: "Es gibt ein Snuff-Video, auf dem ein Berliner Junge stirbt. Ich habe es gesehen und meinen Sohn als Akteur darauf erkannt."

Und auch Robert Jan W. schildert Szenen dieses Filmes. In der Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Neufchâteau heißt es, dass das Video in einem Bungalow nahe Amsterdam gedreht worden sei. Der damals 13-jährige Junge aus Deutschland habe sich zunächst geweigert, die perversen Lüste mehrerer Männer zu befriedigen. Er sei dann aber dazu gezwungen worden und dabei erstickt. Diese Aussage liegt auch der Staatsanwaltschaft im niederländischen Haarlem vor.

Ein weiterer Zeuge, er nannte sich Edward, hatte im britischen Fernsehen ebenfalls von diesem Snuff-Video berichtet. In der Dokumentation, ausgestrahlt im April 1997, sagt dieser Mann, dass der Junge gedacht habe, er bekomme gutes Geld für Sex mit Männern. "Dann kam alles anders. Der Junge erstickte, die Kamera fiel um. Es gab Panik", berichtete Edward.

Aufschluss darüber, wo und wann Snuff-Videos hergestellt worden sind, könnte der Brite Warwick Spinks geben. Undercover-Agenten hatten sich mit dem Pädophilen 1996 und 1997 mehrmals getroffen. "Ich kann Kinder besorgen", tönte er. Und er wisse auch von Snuff-Videos. Diese Aussagen wurden im April 1997 in der britischen Fernsehdokumentation gesendet. Anschließend gelang ihm aus noch ungeklärten Gründen die Flucht aus dem Gefängnis. Wir sprachen mit ihm am Telefon. Er gab zu, auch Kontakte in die Berliner Kinderporno-Szene gehabt zu haben.

Inzwischen wird Spinks von Scotland Yard mit einem internationalen Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf: Er soll einen vierjährigen Jungen getötet haben.

Sein Name taucht auch in der belgischen Ermittlungsakte auf. Er wird in Zusammenhang mit anderen Personen gebracht, die Jungen in Bordelle nach Rotterdam und Amsterdam gebracht haben sollen. Und immer wieder wird der Name des vermissten Berliner Jungen Manuel Schadwald genannt. Er wurde laut einem Polizeiprotokoll 1994 in Rotterdam an der Seite eines Kinderbordellbetreibers gesehen.

Die Berliner Ermittler konnten allerdings nach eigenen Aussagen noch keine Beweise dafür finden, dass das Kind entführt worden ist. Die niederländische Polizei schon. Ein hochrangiger Ermittler erklärte vor drei Jahren in Amsterdam Reportern der Morgenpost, dass Manuel Schadwald in Bordellen in Rotterdam und Amsterdam missbraucht worden sei. "Das wussten wir. Doch die Ermittlungen wurden 1995 gestoppt." Tatsächlich erfuhr diese Zeitung von Berliner Kriminalbeamten, dass sie von ihren niederländischen Kollegen einen Hinweise erhalten hatten, dass die Suche nach Schadwald zu nichts führen würde. "Ich musste unterschreiben, nichts mehr über den Fall zu sagen. Lasst die Finger von dieser Sache", riet der Amsterdamer Beamte freundschaftlich. Und dann fügte er jenen Satz zu, der betroffen macht: "Der Fall Schadwald steht unter keinem guten Stern."